Kapitel 14: Die Convention

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Estella spürte den ekligen Rinnsal aus Burgerresten über ihre Finger strömen. Der klobige Brei war überall hingespritzt. Mit letzter Kraft hatte sie ihrem Körper befohlen, sich im Bad einzuschließen, und in dem Moment, in dem der Riegel ins Schloss gefallen war, verlor sie auch schon ihre letzten Reserven. Mit Anlauf spie sie ihre frisch erbrochene Brühe an die Kacheln des Hotelzimmerbads. Sie keuchte. Ihre Muskeln und Nerven zuckten epileptisch auf und ab, und auf und ab. Langsam tastete sie sich einen Weg durch den frischen Brei, um im marmorierten Waschbecken endlich etwas Halt zu finden. Die Reibungskraft packte endlich ihre Haut, entglitt ihr nun nicht mehr. Immer noch schnaubend nach Luft hob sie vorsichtig ihr Gesicht zum Spiegel. Sie sah vielleicht aus! Aus ihren Mundwinkeln tropfte immer noch der Schleim, ihre Nase war feucht und rot, ihre Augen überanstrengt und nervös, und ihr Haar hing ihr in glänzenden Strähnen ins Gesicht, sodass sie auf ihrem linken Auge praktisch blind war. Wie war es so weit mit ihr gekommen? Wieso hatte sie direkt so viel getrunken? Warum musste sie es unbedingt übertreiben? Für was bestrafte sie sich hier? Sie versuchte ihre Gedanken zu ordnen, als sie die ersten Toilettenpapierfetzen von der Rolle riss und sich an die lange Aufgabe machte ihre Schweinerei zu beseitigen. Das ganze Bad roch nach stickigen Verfehlungen, nach Scham. Estella weinte. Vor nur ein paar Wochen war sie noch auf dem Höhepunkt ihres sozialen Lebens gewesen. In der Schule war sie der Theater AG beigetreten, da ihre Lehrkraft für Sprache ihre Texte als so gut befunden hatte, dass sie Estella persönlich als Drehbuchschreibkraft gecastet hatte. Für Estella ging es aber nicht um die Machtposition, sondern darum, dass sie vorhatte ein unglaublich komplexes Kunstwerk zu erschaffen. Sie setzte sich jeden Abend ans Schreibpad und tippte wie eine Wahnsinnige ein Drama zusammen, das voller antik epischer Elemente war. Es ging um ein gleichgeschlechtliches, elfisches Liebespaar, das in einer Feenwelt lebte. Dort sollte ein Krieg ausbrechen, wenn die beiden Elfinnen ihre Verbindung, die gegen jede Tradition war, nicht beenden sollten. Doch in den Königshäusern der beiden Nationen brannte es vor Eifersucht und Egoismus. Am Ende würden die beiden edlen Häuser der Geliebten sich durch ihre eigenen Intrigen zu Fall bringen, und das Land würde von ihren rechtmäßigen Heldinnen angeführt werden. Estella malte Konzeptdesigns für die Kostüme mit Einzelheiten zu fast allen Feenweltbewohnenden. Estella recherchierte sogar die angemessene Anzahl an Seiten, die ein professionelles Drehbuch haben sollte, und reichte am Ende der Abgabefrist über siebzig Seiten an ihre Lehrkraft für Sprache ein. Estella strahlte vor Glück. Am nächsten Probetag der Theater AG war Estella schon ganz gespannt, wie die Lehrkraft ihr Stück wohl einführen würde. Bestimmt müsste sie es irgendwie subtil machen und dann würden aber alle immer mehr Fragen zur Geschichte stellen, und sie würde dann alle gerne mit Antworten versorgen. So stellte sie sich das vor. Estella wartete und half, wie immer, bei der Anordnung und der Überprüfung von Szenen. Aber...das war noch das alte Stück. Wo war ihr Werk? Sie wartete bis zur Hälfte der Probezeit, bevor sie langsam anfing ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend zu spüren. Irgendetwas stimmte hier doch nicht! Die Minuten vergingen weiter und es gab immer noch kein Anzeichen für ein Eingreifen der Lehrkraft. Als die Probestunde zu Ende war, ging Estella mit beiden Armen sich selbst umgreifend auf ihre Lehrkraft zu.

»Was ist denn mit meinem Drehbuch? Wie hat es euch denn gefallen?« fragte sie unter Einsatz ihrer Rehaugen.

»Ach, ja! Natürlich! Darüber wollten wir ja noch mit dir sprechen! Also wir finden dein Drehbuch wirklich herausragend gut! Es ist nur so...wir haben jetzt schon begonnen. Wir haben einige, kleine Veränderungen vorgenommen, und wir werden jetzt erst mal das machen, was wir jedes Jahr machen. Die Requisiten und die gelernten Zeilen, du verstehst doch, oder? Es ist ja alles schon da.«

In Estella brannte es rot auf. Aber sie zeigte es nicht. Sie stand nur weiter in sich gekrümmt da und hauchte ein leises »Ja, ich verstehe«, nach vorn. Sobald die dicken Türen der Aula hinter Estella zusammenschepperten begann sie ihr Skript zu zerreißen. Es war nichts wert. Sie hatte damit eine Veränderung bewirken wollen, eine neue Überdenkung des dramaturgischen Schulstoffs. Eine Wendung hin zu mehr Offenheit und mehr Integration wichtiger Themen. Stattdessen hatte man sie nur an der Nase herum geführt! Sie war keine gewollte Drehbuchschreibkraft, sie war eine gefürchtete Drehbuchschreibkraft. Weil ihr Stoff immer zu provokant sein würde, um Beifall auszulösen. Es musste weiche Kost sein, für die Eltern! Falls manche von ihnen Rassistische waren! Falls manche von ihnen gerne Fleisch aßen! Falls manche von ihnen ihre Kinder auch alleine zuhause verwahrlosen ließen! Sie kochte, während sie reumütig Abschied nahm von »Erneuerung« – einer Liebesgeschichte zwischen Talia, dem Kopf des königlichen Hauskollektivs der Waldelfen, und Teleria, der Prinzessin der Dunkelelfen. Einer Elfenspezies, die aufgrund ihres primitiven Singletbewusstseins von den anderen Elfen gefürchtet und ausgestoßen leben mussten. Spectre und Kasha'aar waren besorgt. Die feuerrote Estella bekamen sie nur selten zu Gesicht. Aber wenn sie auftrat, dann hatte sie oft einiges zu sagen. Sie lief auf und ab im Schulflur. Ihre Absätze klackerten auf dem hässlich bemusterten Kachelboden, als ob jemand darauf stepptanzen würde. Klack, Klack, Klack. Klack, Klack! Sie hatte genug! Das war das letzte Mal, dass ihr das Konzept von Kunst verhunzt worden war! Sie wusste, wo sie hin musste.

Plurale Welt - Ebene 01/03: GeburtWhere stories live. Discover now