Kapitel 9: Thorben

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Thorben war allerdings ein Kontakt aus dem digitalen Raum. Er wohnte weit entfernt, über die innerpluralen Reisebeschränkungen hinausgehend. Wenn Estella zu ihm fahren wollte, dann musste sie das irgendwie anders bewerkstelligen. Sie hatte Thorben über eines von Kashas blutigen VR-Spielen kennengelernt. Thorben hatte eines Tages per Voicechat nach Estella gefragt und ob er sie mal reden hören könnte. Estella entwich ein säuselndes »Ähm, hi!« und da war es wohl auch schon um Thorben geschehen. Er fragte immer öfter nach ihr und wollte wissen, wie es ihr ging. Irgendwann entdeckten sie ihre gemeinsame Vorliebe zur Fotografie, und sie trafen sich in abgesonderten Privatchats. Estella machte sich immer schick für diese Treffen, auch wenn sie sich nie traute das Videosymbol anzuklicken, was Thorben ihren Körper zeigen konnte. Thorben war das egal, er zeigte sich ihr. Er lebte in einem sehr maskulinen Körper. Groß, stark, breit. Aber leider hatten Thorbens Eltern eine miese Eigenschaft: Sie gaben Thorben immer wieder unnötige Strafen. Besonders schlimm war es, wenn sie ihm seinen Zugang zu Estella wegnahmen. Für beide. Estella beteuerte immer wieder:

»Naja, also...ich will es dir ja schon zeigen, nur...es geht einfach nicht! Ich will nicht, dass du mich falsch wahrnimmst!«

»Ich könnte dich niemals falsch wahrnehmen, Stella«, versicherte er ihr, »selbst wenn du in einem bionischen Cyborgkörper stecken würdest... von einem Nilpferd... würde ich dich immer noch lieben!«

Das war's! Sie musste es jetzt wissen! Sie konnte nicht mehr anders! Spectre wurde abkommandiert eine falsche Erlaubnis zur Fernreise zu erlassen. Immerhin hatten die beiden Anderen auch schon dauernd das Gesetz missachtet, jetzt war sie eben mal damit dran! Offensichtlich konnten Star nichts davon nach Außen Preis geben und mussten an diesem warmen Mittag ganz selbstverständlich in Richtung des Bahnhofs, anstelle der Richtung nach Hause, aufbrechen. Das würde das letzte Mal sein, dass ihr ihr Thorben weggenommen worden war! Estella war vollgepumpt von femininen Sinneseindrücken, die ihr alles wie neu entdeckt und neu erforscht erscheinen ließen. Sie war so gespannt auf ihn! Wie er roch, wie er lächelte, wie er sie in ihren Armen halten würde, mit welchem Druck? Sie war in Trance. Spectre hatte den Fahrplan erstellt, und Kasha'aar machte sich mit seiner Keule am Höhleneingang bereit dazu bei irgendwelchen Komplikationen einzuschreiten, wenn nötig. Estellas schlechte Gewissen plagte sie, als sie in den Zug stieg. Nicht wegen ihrer Gesetzesübertretung, sondern weil sich ihre Eltern bestimmt bald Sorgen machen würden. Sie beschlossen untereinander, dass es die sinnvollste Lösung war ihren Eltern erst dann zu schreiben, wenn sie schon auf halbem Weg durch die Plurale Welt unterwegs waren. Das war das Sicherste auf das Estella sich einließ, um nicht auf ihrer Reise zu ihrem Prinzen doch noch verfrüht aufgehalten zu werden. Thorben wohnte im Bezirk B-27, ein östlicher Außenbezirk der Pluralen Welt. Es dauerte den ganzen Tag um dort hinzugelangen. Doch Estella hatte das bedacht. Wenn sie ankamen, wäre es genau eine gute Uhrzeit um mit Thorben gemeinsam etwas Essen gehen zu können. Sicherlich würde er sich Zeit für sie nehmen, und sie ohne, dass sie auch nur ein einziges Wort würde sagen müssen, in ihrem Körper erkennen. Immerhin liebte er sie über alles, also musste er es nun auch beweisen können! Stars Körper wurde in B-27 abgeliefert und die Mattheit der Reise wurde durch die Gliedmaßen des Körpers wie durch einen Verstärker gesandt. Sie waren echt platt. Aber Estella eilte bereits auf das erstbeste Taxi zu. Sie hatte sich genau für diesen Zweck Geld angespart, und konnte es nun frei verwenden, für was auch immer sie wollte. Sie hatte durch Spectre einen Weg gefunden an Thorbens Adresse und Kollektivnamen zu kommen. Wenn sie vor seiner Tür auftauchte, würde sie ganz genau wissen, wo sie zu klingeln hatte! Es war so aufregend!

»Hoffentlich mag er mich, hoffentlich mag er mich, hoffentlich mag er mich«, ging es ihr immer wieder durch den Kopf, während der gesamten Taxifahrt über.

Sie klingelte. Nichts geschah. Estella war verwundert, sie klingelte erneut. Nichts geschah. Hä? Das hatte sie sich aber anders vorgestellt! Wo war dieser Kerl nur? Sie holte ihr Pad aus der Tasche und fragte bei ihm nach Thorbens augenblicklichem Aufenthalt. Thorben war gerade im Kino. Mit seinen Eltern.

»Oh«, drang es aus Estellas Sinn, bereit alles fallen zu lassen.

»Warum denn?« fragte Spectre nach, »ihr könnt euch doch nach dem Kino treffen?«

Das war richtig! Estella schrieb Thorben, ob er nicht vielleicht ein Café, oder einen anderen guten Ort kannte, um sich zu treffen. Leider war ihre Überraschung damit verlorengegangen, und damit auch ihr Test an ihn ob er sie auch so erkennen würde.

»Naja, man kann nicht alles haben«, dachte Estella so vor sich hin. Die beiden Körper trafen nun endlich aufeinander. Doch Thorben hatte Befreundete dabei, die Estella musterten. Von Kopf bis Fuß. Und die mit einem »Naja, hey, man sieht sich später« nach kürzester Zeit wieder von der Bildfläche verschwanden. Das war das genaue Gegenteil von Estellas Traum! Aaaah! Sie drehte durch! Das war Wahnsinn! Der blanke, totale Wahnsinn! Thorben schloss sie in seine Arme. Estella schmolz.

»Lass uns rein geh'n«, winkte er und Estella war schon fast wieder bereit diesen heruntergekommenen Fast-Food-Imbiss zu ihren Träumen hinzuzufügen. Thorben saß nun vor ihr! Der echte Thorben! Und er sprach sie mit »Stella« an, und er war so schön, und er war so toll, und er war so kuschelig, und er war so zuckersüß, und er war so - »echt«.

»Ich hätte niemals gedacht, dass du sowas für mich tun würdest! Ich habe damit einfach überhaupt nicht gerechnet«, sprach Thorben, während seine Augen verlegen irgendetwas auf dem Tisch zu suchen schienen. Er wirkte abwesend und eingeschüchtert.

»Ähm...naja...« versuchte Estella sich zusammenzunehmen. »Weißt du...« Sie machte eine sehr lange Pause und prustete dann: »Ich konnte es einfach nicht mehr länger ertragen nicht bei dir sein zu können!«

Stille. Absolute Totenstille. Estella erschreckte vor sich selbst. Sie hatte das Gefühl, dass alle Augen aus allen Innern in diesem versammelten Imbiss nun auf ihr ruhten. Stars Körper lief scharlachrot an. Thorben lächelte sie an.

»Ich weiß. Das geht mir doch auch so.«

»Das geht mir doch auch so? Das geht mir auch so?! Was für eine bescheuerte, lahme, entmutigende Antwort war das denn?« brüllte es durch Estellas Gedankenwelt.

In diesem Moment trat sie ein Stück weiter ins Außen, und betrachtete den Moment. Diesen Moment, in dem sie Thorben geliebt hatte, Thorben vergöttert hatte, extra zu ihm gefahren war, alle diese Strapazen durchgestanden hatte, nur für ein einziges, nichtssagendes »Das geht mir doch auch so.«

Das war nicht ihr Thorben, der da vor ihr saß. Nicht der charmante Wortverdreher, der ihr jeden Tag seine endlose Liebe gestand. Es war nur irgend so ein Typ. Estella ließ den Moment an sich vorbeiziehen, und nahm ein mentales Foto davon auf. Sie saß ihre Zeit mit Thorben ab, obwohl sie ganz genau wusste, wo die Sache hinlief. Er versicherte ihr, sie würden sich wiedersehen. Er versicherte ihr, er würde sich um sie kümmern und immer da sein. Ja, wirklich. Er sagte, er würde immer da sein, nachdem Estella bereits wusste, dass er das nicht sein würde. Kasha machte sich bereit zu seinem dumpfen Stammestanz um die ewige Flamme, bei dem ihm Estella immer gerne zusah, wenn sie traurig war. Estella verabschiedete sich von Thorben, denn er musste ja schließlich zu seinen Eltern nach Hause zurück, und sie war schließlich so unerwartet aufgetaucht, und er müsste eben leider, aber er wollte ja eigentlich nicht. In Estellas Kopf spielte kurz ein Film von einem Maskulinen, der alles stehen und liegen ließ, um eine Nacht im Mondschein mit ihr zu verbringen, irgendwo - egal wo. Doch wie gesagt, der Film spielte nur kurz an ihr vorbei, und Estella verabschiedete Thorben in die Nacht eines fremden Bezirks hinein. Kasha begann zu tanzen, und Estella gesellte sich an sein Feuer. Sie sprachen an diesem Tag nicht mehr miteinander. Spectre erreichte eine weitere Reiseerlaubnis, für den nächst besten Zug. Sie warteten lange in der Kälte des Bahnhofs, Kasha immer mit einer Hand an seiner Keule. Das Sicherheitspersonal hatte Estella in eine verglaste Kammer für Besuchende »gesperrt«. Dort sollte sie sicher sein, und sich auf den zusätzlichen Schutz der Videoüberwachung des Bahnhofs verlassen können. Doch diese passiven Drohungen, die ihr eigentlich mitteilen sollten, dass es hier nachts gefährlich sein konnte, gingen alle an ihr vorbei. Estella war tief, tief in der Höhle drin, und sagte kein einziges Wort. Die Heimreise über schliefen sie. Vom Bahnhof aus mussten sie dann laufen. Ihre Eltern hatten es einfach akzeptiert. Sie kamen sie nicht abholen, weil sie selbst die Sünderin war. Estella selbst war zu bestrafen, dafür, dass sie an Thorben geglaubt hatte. Dafür, dass sie an die Liebe geglaubt hatte. Es gab irgendwo eine Standpauke. Es gab irgendwo jemandem, der froh war, dass sie zurück war. Egal. Einfach nur egal. Thorben meldete sich noch ein einziges Mal bei Estella, um ihr irgendetwas von seinen eigenen Zukunftsplänen zu erzählen, danach schrieb er ihr einfach nichts mehr.

»Es war mein Körper. Er hatihm nicht gefallen.«

Plurale Welt - Ebene 01/03: GeburtWhere stories live. Discover now