Kapitel 6: Historie

0 0 0
                                    

Entgegen dessen, was man vielleicht erwarten würde, verbrachte Spectre seine Tage während Estellas Popgroupphase, nicht etwa dauerhaft in der Bücherei. Die wissenschaftliche Abteilung hatte nicht besonders viele Daten zu sozialen Konstrukten, Kulturen und psychologischen Themen. Zumindest nicht so viele, wie es ihm lieb gewesen wäre. Bald bemerkte Spectre, dass mit jedem neuen Werk, mit jeder neuen Datenansammlung, unnötiger Datenmüll entstand der, für ihn, und sein Verständnis davon, die Anzahl an wiederholten, alten, bekannten und überflüssigen Daten, zu einem gigantischen Anteil seiner Lebenszeit anwachsen ließ. Es war schrecklich ineffizient und langweilte ihn beachtlich schnell. Er suchte immer nach einem neuen Wissensstrom, der ihm das Höhegefühl von frühem Wissen gebracht hatte. Damals, als er die braunen Kreise studiert hatte. Oder damals, als sie ihre inneren Funktionen kennenlernten, oder wie man die einzelnen Körperteile steuern konnte. Jedes dieser Ereignisse hatte einschneidende Verbesserungen mit sich gebracht, und nun las er zum zehnten Mal die fast Wort für Wort gleiche, historische Betrachtung der Pluralen Revolution. Das diese Daten auch immer so schrecklich kompliziert codiert sein mussten, sodass er viel zu viel Zeit darauf verwenden musste sie ständig im Pluralen Netz nachschlagen zu müssen, trieb ihn zur Weißglut. Bald ging er dazu über Daten nur noch nach ihren ersten paar Eindrücken zu bewerten, und wenn ihm nicht gefiel, was er in den Daten fand, wechselte er zum nächsten Datenhaufen. Damals kam er zum ersten Mal mit dem Gefühl von anhaltender, systembasierter Frustration in Kontakt. Frustration über die Fehler der Anderen, Frustration über diese Datensammelnden, die völlig unsinnige Codierungen wählten, die es oft schwerer machten die Inhalte zu verstehen. Estellas und Kasha'aars neue, sozialen Welten boten ihm da oftmals mehr neue Eindrücke und Informationen, als die gesamte Datenbank der Bezirksbücherei es konnte. Spectre vertraute stark auf seine eigenen Eindrücke und Analysen. Wahrscheinlich war es eher das Aufstellen eigener Thesen, das ihm den meisten Spaß bereitete. Er hatte zudem ein neues Hobby. Er hatte gemerkt, dass er jedes Mal zwei PW auf seinem digitalen Bezahlsystem für Kinder von seinen Eltern erhielt, wenn Star mit Befreundeten vorhatten in den Innenbezirk zu gehen. Dort gab es mehrere Essensbuden, Comicläden, Kioske und Supermärkte, in denen sie sich dann etwas zu Essen oder zu Trinken kaufen sollten. Spectre war sich seiner Verfehlung, was den Wert von Geld anging, immer noch äußerst bewusst, und er empfand es nun als eine Art Spiel den richtigen Umgang damit zu erlernen. Wann immer Spectre die Chance erhielt pochte er darauf das Geld zu sparen. Entweder es zu sparen, oder nur einen sehr kleinen Teil davon auszugeben, aus dem er dann das Beste herauszuholen versuchte. Es ging so weit, dass Spectre extra zu diesem Zweck eines der Anwohnkollektive dazu rekrutierte, so oft wie möglich mit ihm diese Reisen in den Innenbezirk zu veranstalten. Estella und Kasha'aar waren verblüfft davon, dass Spectre kaum Hunger verspürte, wenn er dann im Körper war. Er verspürte kaum Durst, und wenn er einen Plan für das Geld besaß, waren ihm alle anderen Anschaffungsmöglichkeiten in den schön präsentierten Schaufenstern der Läden egal. Spectre begann die zwei PW immer weiter anzusparen. Er besorgte sich so ein digitales Datenwerk, ein Comicbuch für Kasha'aar, und sogar mehrere Musikchips für Estella. Keiner der beiden beklagte sich darüber. Spectre hatte so einen neuen Weg gefunden an exotischere Datenbanken zu gelangen. Zum Glück gab es für Sachwerke auch in der Welt außerhalb der Bücherei keine Alterskontrollen, und er konnte im Roman- und Sachladen sich Werke bestellen, die er vorher im Pluralen Netz für sich recherchiert hatte. Das Plurale Netz stand ihm nur nicht immer zur Verfügung, da ihr Schulpad auch eine Kindersperre besaß, die die Zeit auf die genaue Anzahl der Schulstunden begrenzte. Spectre trickste das Programm bald aus, indem er während der Schulzeit das Gerät immer wieder ausschaltete, und es nur im notwendigen Moment funktionsbereit machte. Durch eigenmächtiges Herumprobieren war Spectre nämlich nicht entgangen, dass sich die Zeitlimitierung nicht an der Uhrzeit orientierte, im ruhenden Zustand also einfach nicht weiter lief. Das war auch ein interessantes Spiel. Anhand der Lehrmethoden, der Körpersprache und der Reaktionen seiner Mitlernenden versuchte Spectre so genau wie nur irgendwie möglich Voraussagen darüber zu machen, wann sie das Pad brauchen würden oder wann es bald zu einer ungewollten Unterbrechung kommen konnte. Er wurde mit jeder Stunde besser, und begann in den Außenkörpern vor ihm immer mehr seine willigen Klone im Innern reflektiert zu sehen. Spectres Interesse hatte sich etwas verschoben. Er war immer noch interessiert an der Grundphilosophie, in der die Plurale Welt so tief eingeschlossen schien. Die Ansicht, dass ihr Innenraum nur einen Empfänger für eine Art äußere, kosmische Strahlung darstellte. Eine Art Bewusstseinstransmitter, aus dem die einzelnen Kollektive unterschiedliche Frequenzen aufnahmen und diese interpretierten. Das war es auch was die enorme Offenheit und Toleranz gegenüber den unterschiedlichen pluralen Konzepten von Wesensarten ursprünglich ausgelöst hatte. Es war egal zu welcher tierischen Spezies, zu welchem Konstrukt, welcher menschlichen Ethnizität, welchem auf der Erde sich befindlichen, lokalen Ursprung, welcher Hautfarbe, oder welchem Geschlecht sich ein Innenwesen hinzugefügig fühlte. Man nahm einfach an, dass diese Unterschiede ihren Ursprung im kosmischen Überträger besaßen, und es deshalb auch keinen Grund dazu gab die inneren Interpretationen der einzelnen Kollektive anzuzweifeln. Außerdem hatte fast jeder Plurale in seiner Familie eine Künstliche Intelligenz, einen Leoparden, einen Vampir, oder einen Werwolf.

Plurale Welt - Ebene 01/03: GeburtWhere stories live. Discover now