Kapitel 5: LANCE

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Weit entfernt von Stars Behausung, in einem dumpf beleuchteten Tonstudio, saß eine Gestalt verhüllt unter einem grau bemusterten Kapuzenpullover. Die Gestalt schob einige Regler hoch und runter, unter dem hellblauen Schein einer Bildschirmprojektion voller digitaler Schallwellen und Instrumente. Die Gestalt spielte immer wieder denselben Moment in der Zeitschleife eines Liedes ab.

»I don't want to change for you, Babe. I don't want to change for you, Babe. I don't want to change for-«

»LANCE! LANCE, seid ihr da?«

Die Gestalt bemühte sich, sich mürrisch daran zu erinnern, ob sie an diesem Tag wirklich vergessen hatten die verdammte Callfunktion stumm zu schalten.

»Ja, hier LANCE-B«, antwortete sie nun widerwillig dem Gesprächspartner aus dem Hintergrundprogramm des Bildschirms.

»B, ihr habt einen Autogrammtermin in Bezirk C, Kaste 10. Das ist in so einem Buchladen, für die neue Biografie.«

LANCE-B seufzte auf und fragte nur motivationslos: »Welche?«

»Die Neuste! Was weiß ich! Singt einfach ein bisschen was und benutzt die Standardantworten auf die Standardfragen! Du bist Profi, ihr packt das schon! Versucht nur vielleicht diesmal nicht mehrere Stunden zu spät zum Termin zu kommen. Das Ganze beginnt um Acht, okay? Also in sechs Stunden! Das sollte euch wohl hoffentlich reichen um euch zusammenzureißen!«

»Augh!«

LANCE-B hatte instinktiv, als Abschluss auf seinen Ausruf, den Call-Beenden Knopf am Bildschirm angetippt. Eigentlich war er ja auch gar nicht LANCE-B.

»I don't want to change for you, Babe. I don't want to change for you, Babe«, lief es wieder vom Band.

LANCE-B war ein Mitglied der momentan beliebtesten Popgruppe in der ganzen Pluralen Welt. Er griff nun nach rechts, wo eine bereits halb geleerte Flasche Whisky stand. Er umschloss den Hals der Flasche, wie in einer vorbestimmten Trance, und führte sie sich dann zum Mund. Der Alkohol durchfloss seine angestrengten Stimmbänder und wiegte sie sanft in den Schlaf.

»Aaaah!« drang es aus seinem geplagten Rachen.

Ein warmer Brei ergoss sich in seinen Magen und er spürte, wie wieder neues Leben in seine Zehen- und Fingerspitzen zurückkehrte. LANCE hatte ein Problem, und es war definitiv nicht der Alkohol. Seine Karriere begann als Flüchtling. In der alten Welt kam er einfach nicht klar, er hatte zu viele Symptome der Krankheit. Die Anderen drüben konnten seine Quirks als nichts anderes sehen, als als eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Manchmal verschwamm LANCEs Geist. Dann war er gefühlt jemand anders, aber irgendwie auch nicht. Es war wie ein plurales Hintergrundrauschen, dem er gegen seinen Willen manchmal einfach nachgeben musste. Bald wollte niemand mehr mit ihm zu tun haben. Er fand keine Arbeitgebenden und dementsprechend hatte er bald auch nicht mehr genug Geld zum Leben. Befreundete hatte er mit seiner Art vergrault und seine Familie sprach nicht mehr mit ihm. Er flüchtete in die Plurale Welt, auch wenn er sich selbst nicht wirklich als jemand anders, oder sogar als mehrere sehen konnte. Es waren nur Momente. Kleine Momente, in denen er ein Signal von anderen Seelen aufzufangen schien. Um sich in der neuen Welt über Wasser halten zu können, begann er als Straßenmusiker von den Dingen zu singen, die ihn glücklich machten. Schöne Dinge, gute Dinge, bessere Dinge. Er sang von einer Welt, in der es nur kleine Probleme gab, die er dann hinfortsingen konnte mit seinen Songs. Das berührte die plural Zuhörenden. Sie fühlten sich, wie durch die schützende Hautblase eines Embryos in ihrer Mutter, von seinen Welten beschützt. Eines Tages tauchte eine Feminine vor LANCE auf, mit einem schwarzen Aktenkoffer in der Hand, einer tiefen, dunklen Sonnenbrille im Gesicht, und, der zivilen Freundlichkeit wegen, in einem Klamottenberg, der wohl an eine Karrierekraft aus den Siebzigerjahren erinnern sollte, die noch nicht ganz wusste, wie dieser Dresscode eigentlich richtig funktionierte. Sie schlug ihm einen Vertrag mit ihrer Produktionsfirma vor. Sie würden allerdings hie und da einige marketingbezogene Veränderungen an seiner Musik vornehmen müssen. LANCE war hauptsächlich froh über die Aussicht auf eine bessere Zukunft, und es machte ihn sehr glücklich von einer Gesellschaft akzeptiert zu werden. Aber dieses Gefühl sollte nicht lange halten.

Plurale Welt - Ebene 01/03: GeburtWhere stories live. Discover now