Kapitel 11: Raven

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In der Schule konnte Spectre vorhersagen, welches Thema von den Lehrkräften als nächstes behandelt werden würde, ohne je einen Blick in die begleitenden Lehrmaterialien geworfen zu haben. Im Grunde brauchte Spectre diese sowieso nie, auch nicht zur Vorbereitung auf Tests. Man sollte erwarten, dass Spectre Spaß an Klausuren und Überprüfungen gehabt hätte, aber dem war überhaupt nicht so. Oft verließ er das Schachbrett komplett, und hinterließ eine panikerfüllte Estella, die die Tests und Klausuren nur deshalb bestehen wollte, damit sie bei ihren Befreundeten in derselben Klasse bleiben konnte. Aber Estella war viel zu kreuz und quer in ihren Gedankengängen, um sich logische Schlüsse selbst nachvollziehbar zu machen. Josh versuchte ihr Nachhilfe zu geben, aber sie begann eigentlich immer nur nach kürzester Frustrationsanstauung zusammenzubrechen und loszuheulen. Thomas versuchte Spectre ein Interesse an Daten und Zahlen zu vermitteln, doch Spectres Interesse galt viel mehr anderen Dateneintragungen. So hatte er sich »Es ist besser zu mehreren bei einer illegalen Aktivität erwischt zu werden, da es die nähere Umgebung dann auf die Anderen schieben kann« notiert, nachdem Kasha und Culture bei ihrem Diebstahl erwischt worden waren. Kasha'aar konnte danach Culture nicht mehr nach Hause begleiten, da dessen Eltern Kasha die volle, alleinige Schuld an dem unflätigen Verhalten ihres Kindes gegeben hatten. Kasha'aar war der schlechte Einfluss gewesen, das war für Cultures Eltern eine ganz klare Angelegenheit gewesen. Genauso, wie es auch Estella für Silkes Mutter gewesen war. Eine weitere Eintragung betraf Möglichkeiten, wie andere Mitlernende bei den Tests betrogen. Sonderprorgamme auf dem Pad, mit mikroskopisch kleinen Schriften geschriebene Hintergrundbilder, Notizen und Geschreibsel auf und unter den Tischen, auf Körperteilen, Handzeichen und Onlineabfragen auf der Schultoilette. Spectre sammelte diese Daten und extrapolierte eine Erwischt-Nicht-Erwischt-Statistik aus ihr heraus. Doch er nutzte nichts davon um sie selbst anzuwenden, was Kasha'aar und Estella einfach nicht verstehen konnten. Ihre Noten hätten von einem solchen Boost nur profitiert, aber Spectre machte da einfach nur so sein Ding. Spectre war einer ganz anderen Sache auf der Spur, auch wenn er es zu diesem Zeitpunkt selbst noch nicht verstand. Er wusste nur: Er musste weiter sammeln. Bald kannten Starbound jeden Trend, bevor er auf dem Schulhof auftauchte. Sie hatten immer noch nicht genug Geld, um sich in die Gruppe derer einzukaufen, die besonders viel mit den Trends aktiv machten, und sie nutzen konnten, da die Spiele, und die Spielkarten nun mal teuer waren, und Kashas Diebeskarriere nach dem Erwischtwerden von Spectre als zu gefährlich eingestuft worden war, um weiter verfolgt werden zu können. Aber sie wussten stets was als nächstes kam und waren darauf vorbereitet. Spectre wusste als erster sicher, dass eine Lehrkraft nicht mehr erscheinen würde. Spectre wusste als erster, wenn am nächsten Schultag der Unterricht ausfallen würde. Spectre wusste, wann welche Freundschaften in der Klasse gefährdet waren. Doch eines Tages geschah etwas, das Spectre seine Grenzen aufzeigen sollte. Jeder in der Klasse sollte ein Poesietagebuch führen, was Estella auch wirklich gerne tat. Jeden Tag schrieb sie ein Gedicht, nach einer vorgegebenen Rhythmik. Jambus, Daktylus, Bachhius, Trochäus. Nichts davon interessierte Spectre. Und nichts davon interessierte Estella, aber sie mochte es aus dem Klang von Worten das meiste Gefühl herauszuholen. Sie schrieb oft auf dem Pausenhof und oft in ihrem Erdloch mit Silke zusammen. Als es Zeit wurde das Poesiealbum abzugeben, stand damit gleichzeitig ein Drittel der Gesamtnote von Star auf dem Spiel. Doch Estella konnte einfach ihr Poesiealbum nicht finden! Sie hatte die gesamte Schultasche ausgeleert, auf den Kopf gedreht, das Futter umgestülpt, auch das Futter ihrer Jacken und Hosen. Es war weg, einfach weg! Wenn sie hier durchfallen würden, würde es ein sehr anstrengendes Jahr werden! Für Spectre galt Schule nicht als Weg zur Karriere, oder zur Spitze, sondern nur als etwas Unnötiges, das er immer gerade so auf dem notwendigen Level hielt, um jedes Jahr noch zu bestehen und weiterzukommen. Er hatte schließlich Besseres und Wichtigeres in seiner Freizeit zu tun. Doch hier gab es nun ein echtes Problem. Ohne das Poesiealbum kippten einige Parameter auf einmal, und das Ausgleichen würde mehr Zeit und Energie verbrauchen, als es Spectre bereit war diese zu investieren. Er ließ Estella erstmal losheulen und setzte ihr möglichst schnell einen Gedanken ins Netzwerk: Man hat uns bestohlen. Spectre dachte da besonders an die Vier, die Estella immer hänselten, wegen ihrer Femininität. Estella sprang sofort darauf an und wandte sich an Silke und die Gruppe der ehemaligen Lancesters für seelische Unterstützung.

Plurale Welt - Ebene 01/03: GeburtWhere stories live. Discover now