Kapitel 32: Stummer Abschied

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"Was?" Überrascht starrte ich den großen Jungen an, der sich jetzt durch die roten Locken fuhr. "Ich will zurück und meine Familie holen" Ich runzelte die Stirn. "Deine Familie?", fragte ich leise und er nickte. "Meine Schwester und meine Mutter" Ich schüttelte leicht den Kopf. "Das ist unmöglich- ich meine selbst wenn du es durch die Stadt schaffst, was sagt dir, dass deine Familie noch nicht infiziert oder tot ist?" Ein dunkler Schatten huschte über Daniels Gesicht und ich wollte mir auf die Zunge beißen. "Tut mir leid-" "Nein du hast Recht. Dann geh ich eben allein" Mit enttäuschtem Blick drehte er sich herum und war im Begriff, hinter dem Zelt zu verschwinden. Ich seufzte genervt auf. Warum nur mussten heute alle abhauen? "Daniel ich komm mit" Sofort drehte er sich wieder herum und kam freudestrahlend zurück. "Was muss ich machen?", fragte ich. Ich hatte nicht das Herz, meine Aussage jetzt wieder zurück zu ziehen. Es war leichtsinnig, aber ich verstand seine Angst. "Nur mit in die Stadt kommen. Ich geh rein und hol sie und dann fahren wir wieder her" "Zu zweit wird das ein ziemliches Abenteuer", sagte ich mit gerunzelter Stirn und er grinste. Ohne Erklärung legte er die Finger an die Lippen und stieß einen kurzen Pfiff aus. Irritiert blickte ich herum und beobachtete mit offenem Mund, wie eine sehr bekannte Person sich aus den Schatten der Zelte löste. Harriet kam mit einem ebenso breiten Grinsen vor uns zum Stehen. "Du?" Sie nickte und zwinkerte mir zu. "Wir sind vor dem Morgengrauen zurück wenn wir jetzt losfahren" "Dann lasst uns keine Zeit verlieren", erwiderte Daniel freudestrahlend, griff meinen Arm und zog mich mit. "Warte- ich will mich noch verabschieden!", sagte ich rasch und zog mich aus dem lockeren Griff. "Sie- sie machen sich sonst Sorgen-" Harriet schüttelte den Kopf. "Meinst du wirklich, dass sie dich gehen lassen, wenn du ihnen deine Absicht erklärst?" Ich öffnete den Mund - und schloss ihn langsam wieder. Sie hatte Recht. Die Lichter würden mich keinen Schritt in Richtung Stadt gehen lassen - weil sie genau wussten, wie gefährlich es war. Unsicher kaute ich auf meiner Unterlippe herum und blickte zwischen Daniel und dem Zelt, in dem meine Freunde diskutierten, hin und her. "Im Morgengrauen sind wir wieder da, mach dir mal nicht in die Hose", grinste Harriet und Daniel folgte ihr. Ich schloss kurz die Augen und spürte innere Panik aufsteigen. Newt, Thomas und Pfanne würden krank werden vor Sorge. Das war nun das zweite Mal, dass ich unangekündigt verschwinden würde. Die Szene mit Newt am Berghang tauchte wieder vor meinem inneren Auge auf. "Hau ab!" Die Worte schnitten tiefer als jeder Messer. Vermutlich würde er mich ohnehin nicht vermissen, er hatte selbst gesagt dass ich gehen sollte. Nun mit entschlossenem Blick folgte ich meinen Freunden den Hang hinab ohne zurückzusehen. Eine Weile liefen wir wortlos durch die sonnige Prärie, immer weiter weg vom Lager des rechten Armes. Ich spürte noch immer Zweifel an mir nagen und dachte an Pfanne's Gesicht, wenn er von meinem Verschwinden erfuhr. Er würde sich tierische Sorgen machen. Plötzlich hielt ich irritiert inne. Harriet und Daniel waren spurlos verschwunden. "Harriet?", rief ich schrill und spürte mein Herz panisch klopfen. "Hier unten!" Erleichtert fasste ich mir ans Herz und folgte der starken, weiblichen Stimme einen verdeckten Hang hinab. "Sieh dir das an!", rief Daniel und ich kam näher. Sie standen vor einem kleinen, rostigen Auto. Die Lackfarbe war bereits nicht mehr zu erkennen, einzelne Teile der Türen fehlten und die Scheiben waren zerbröselt und eingeschlagen. "Das ist unser Ticket in die Stadt", meinte Harriet und stieg auf der Fahrerseite ein. "Aber nicht zurück", bemerkte ich mit kritischem Blick und ließ mich auf der verdreckten Rückbank nieder. Staub und Sand wirbelte auf. "Jetzt mach dir mal nicht ins Hemd, Y/n", hörte ich Harriets Stimme erneut und beobachtete, wie sie ein paar Kabel auseinander zog und wieder verband. "Das Teil fährt vielleicht zwanzig Meter wenn wir Glück haben", murrte ich und starrte nachdenklich aus dem zersplitterten Fenster. Womöglich war dies das Zeichen, dass es eine schlechte Idee war. Eine sehr sehr schlechte Idee. "Wir sollten umkehren", sagte ich deshalb nach ein paar Minuten der Stille laut und erntete sofort Widerspruch. "Auf keinen Fall. Ich bin so nah dran, ich werde nicht aufgeben", sprach Daniel und ich erkannte seine dunklen Augen im Seitenspiegel, wie sie mich betrachteten. In ihnen lag Entschlossenheit und ich war mir sicher, dass er nicht mehr umkehren würde, egal was ich sagte. Lautlos seufzte ich - und erschrak. Plötzlich erklang ein leises Knattern aus dem Motorraum und ich spürte den Boden unter meinen Füßen erzittern. "Was zur-", ich verstummte und beobachtete unter Staunen, wie der Wagen sich in Bewegung setzte. "Du fährst das Teil?", fragte ich Harriet laut durch den lärmenden Motor und erkannte den verschmitzten Blick im Rückspiegel. "Vince hat's mir beigebracht" "Vince?!", fragte ich laut und verstummte, um mich an den Vordersitzen festzukrallen. "Kann der überhaupt fahren?!" Harriet und Daniel lachten nur auf und ich schluckte. Nun gab es kein Zurück mehr.

Die Sonne stand bereits tief am Horizont als ich die ersten Lichter der chaotischen Stadt entdeckte. "Festhalten, Ladies. Wir sind gleich da", sagte Harriet laut durch den scheppernden Motor und ich spürte die Nervosität der letzten Stunden stärker als je zuvor. Ich war hier nun ohne Newt, ohne die Lichter. Mit zwei Fremden, von denen ich nicht einmal wusste, ob ich ihnen vertrauen sollte. Das hier war eine idiotische Idee gewesen, schlimmer als Thomas' Plan. Vermutlich hatten er und die Anderen nun mein Verschwinden längst bemerkt und suchten überall nach mir - genau wie vor ein paar Tagen, als ich im alten Einkaufszentrum abgehauen war. Ich erinnerte mich auch an Pfanne's Worte, als sie mich in Jorges Lager wiedergefunden hatten: "Newt hat jeden Stein nach dir umgedreht und zwei Nächte nicht geschlafen. Es war hart für ihn, den Ort zu verlassen, an dem wir dich das letzte Mal gesehen haben" Er würde rasend sein vor Wut, wenn er herausfand wohin und vor allem mit wem ich dieses Mal verschwunden war. Er hasste Daniel bis aufs Blut, schon seit den ersten Momenten an in Marcus' Club. Keiner der Lichter hatte ihn so wirklich gemocht und ich war mir sicher, das mein kleiner Trip, um seine Familie zu holen, ihm nicht direkt Pluspunkte einbrachte. Und wieder einmal verstand ich nicht, warum ich mit ihm so einfach mitgekommen war. Warum setzte ich mein Leben aufs Spiel für die Familie eines komplett Fremden? Ich seufzte laut auf und erntete feixende Blicke im Rückspiegel. "Angst, Prinzessin?", wollte Harriet wissen und ich verengte die Augen. "Nein, eigentlich nicht"

Lüge.

Ich hatte verdammte Angst, dass ich nicht mehr zurückkehren würde. Und ich hatte mich nicht einmal von meinen Freunden verabschiedet, von Newt. Was, wenn ich in einer der Schiessereien fiel? Oder mich infizierte? Es gab tausende Gründe, warum das hier eine dämliche Idee war. "Wir sind da, Ladies"

Verloren im Feuer Where stories live. Discover now