Kapitel 60

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Mit zusammengebissenen Zähnen hangelte sie sich den Hang hinunter, ihre Hände mit kleinen, steinigen Splittern gespickt. Rote Striemen zogen sich über ihre helle Haut, da, wo der raue Fels ihre Haut abgerieben hatte, doch Lova ließ sich nicht beirren. Sie war nur froh, dass sie sich mit den Jahren eine ansehnliche Erfahrung angesammelt hatte, was das Klettern betraf, denn sonst hätte sie den schneebedeckten, eisglatten Gipfel wohl niemals in diesem Tempo hinabsteigen können. Es reichte schon, dass ihre Hände in der kalten Luft schmerzten und brannten. Sie konnte es bereits jetzt kaum erwarten, ihre neuen Schrammen zu versorgen, doch die Wikingerin würde sich in Geduld üben müssen. Zumindest hatte sie nun ein Ziel, auf das sie zuhalten konnte.

Viggos Botschaft war zur Abwechslung einmal mehr als deutlich gewesen, auch wenn sie kein einziges Wort miteinander gewechselt hatten, und nun lag Lovas Weg klar und deutlich vor ihren Augen. Sie würde den schnellsten Weg zur Drachenjägerbasis einschlagen, den sie finden konnte. Und der schnellste Weg, der ihr spontan einfiel, war auf dem Rücken eines Drachens.

Sie fühlte sich nicht wohl bei der Vorstellung, sich nach einem neuen Drachen auf die Suche zu machen, während Runnas kürzlicher Verlust noch wie ein Stein in ihrem Magen lastete. Wäre ihre Lage nicht so prekär, hätte sie sich in einem warmen Bett zusammengerollt, das Gesicht in den Händen vergraben und sich in den Schlaf geweint, bis der Schmerz in ihrer Brust nachließ, doch sie musste sich zusammenreißen, bis sie Viggo in Sicherheit wusste. Wenn sie ehrlich mit sich war, dann war der Gedanke an ihn alles, was sie davon abhielt, aufzugeben. Sie würde kämpfen, bis er in Sicherheit war, ganz gleich, was es kosten würde.

Lova schüttelte den Kopf, um die düsteren Gedanken zu vertreiben, die sie wie Fliegen umschwärmten. Sie fröstelte in der kalten Luft, obwohl man meinen könnte, dass sie sich mittlerweile an den ewigen Winter der Eisigen Felder gewohnt hatte. Allerdings musste Lova kein Genie sein, um zu wissen, dass die Kälte in ihrem Inneren einen anderen Ursprung hatte. Obwohl sie dem Tod schon oft nahe gewesen war, hatte sie seinen heißen Atem noch nie so deutlich in ihrem Nacken spüren können, noch nie hatte der modrige, übelkeitserregende Gestank nach Verwesung auf ihrer Zunge gelegen, wie er es gerade tat. Eine dunkle Vorahnung, Paranoia oder ein Wink der Götter? Wieder einmal konnte Lova es nicht beantworten, doch keine Möglichkeit behagte ihr sonderlich. Fürs Erste würde sie es jedoch auf ihre Erkältung schieben, oder auf die schmerzhaft pochende Wunde an ihren Oberschenkel.

Mit einem entschiedenen Nicken sprang Lova von dem kleinen Felsvorsprung und landete auf weichem Gras. Hier, in dem kleinen Tal dicht an dem schneebedeckten Gipfel, hatte der Winter seine eisigen Krallen erstmals gelockert, und vom Meer her wehte eine Brise Frühlingsduft zu ihr hinüber. Mit einem leisen Seufzen wischte sie sich die Tränen von der Wange, die in ihr hochgestiegen waren, und sog den angenehmen Geruch tief ein. Beinahe konnte sie den Regen riechen, eine sanfte Wohltat für ihre Nase nach der strengen Winterkälte, denn auch eine milde Wärme schwang in der Luft mit. Auch der schwache Duft nach Blumenpollen wurde vom Wind herbeigetragen, mittlerweile mussten selbst die Obstbäume die ersten Blüten tragen. Oh, wie sehr sie sich nach dem Archipel sehnte, nach den zahlreichen Inseln, auf denen im Frühling die Wiesen von bunten Farbtupfern nur so übersät waren... Sie konnte nur beten, dass die Götter sie diesen Frühling noch erleben lassen würde, nachdem sie die ersten Wochen nun schon im Ewigen Eis verschwendet hatte.

Die Wikingerin erlaubte sich einen letzten, tiefen Atemzug der milden Luft, als ein stechender Geruch in ihre Nase stieg und sie innehalten ließ. Es roch nach Fisch und Feuer, gleichzeitig aber auch nach nach dem unverwechselbaren Gestank von Drachenschuppen, die schon eine lange Zeit nicht mehr geputzt wurden. Sie kannte diesen Geruch nur zu gut von ihrer Zeit bei den Jägern, doch in der Wildnis war er selten anzutreffen... Etwas hier war seltsam.

Lova ließ den Blick prüfend über die Insel schweifen und ballte die Hände zu Fäusten. Wenn es hier tatsächlich noch einen Drachen gab, warum hatte er sich dann nicht blicken lassen, als der Skrill in sein Revier eingedrungen war, und warum ließ er sich nun die Chance auf leichte Beute entgehen? Es war gut möglich, dass es sich um ein kleines Exemplar handelte, bei dem Menschen nicht auf der Speisekarte standen, doch der strenge Geruch sprach dagegen. Es musste ein größerer Drache sein, einer der Sorte, dessen Krallen und Zähne zum Töten ausreichten, der nicht einmal Feuer benötigte, um sich zu verteidigen.

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