Kapitel 25

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Als Viggo erwachte, waren die Schmerzen in seiner linken Gesichtshälfte abgeklungen und auch die Hitze des Vulkans, die das letzte war, woran er sich erinnern konnte, war verschwunden. Stattdessen lag er auf einer dünnen Matratze in einem halbdunklen Raum, bei dem er sich nicht entsinnen konnte, ihn jemals gesehen zu haben. Die Einrichtung war schlicht, geradezu unpersönlich, das schmale Fenster mit Tüchern abgedeckt. In dem zweiten Bett auf der anderen Seite des Raumes konnte er die Umrisse einer zweiten Person erahnen, deren regelmäßige Atemzüge auf einen ruhigen Schlaf hinwiesen. Aber wo befand er sich überhaupt?


Mit einem leisen Ächzen erhob er sich, was sein schmerzender Rücken mit einem Knacken kommentierte. Dennoch fühlte Viggo sich seltsam ausgeruht. Er musste eine ganze Weile geschlafen haben, denn sogar seine immerwährenden Kopfschmerzen – die wohl dem Schlafmangel geschuldet waren – hatten von ihm abgelassen. Es irritierte ihn nur, dass seine Sicht stark eingeschränkt war, lediglich sein rechtes Auge erfüllte seine Funktion. Dunkel erinnerte Viggo sich an glühende Lava auf seinem Gesicht, die sich durch seine Haut gefressen hatte, als er noch am Grund des Vulkans gelegen hatte. Was hatte er da denn bitte zu suchen gehabt?

Nur schemenhaft erinnerte er sich zudem an das Drachenauge und bröckelndes Gestein unter seinen Füßen. Es war, als hätte jemand einen Schleier vor diese wichtigen Erinnerungen gelegt, um ihm das Leben noch ein wenig schwerer zu machen. Als wäre das nicht genug, musste er zusätzlich auch noch an Halluzinationen gelitten haben, denn vor seinem inneren Auge tauchte hin und wieder Lovas Gesicht auf. Sie war leichenblass gewesen, ihre dunklen Locken wirr und ihre Lippen blutig, als hätte sie nicht nur einen Kampf hinter sich. Aber selbst wenn sein verräterischer Bruder sie am Leben gelassen hätte, auf welchem Wege hätte sie zu ihm finden sollen? Er hatte sich schließlich in einem Vulkan befunden. Trotz ihres Drachens, dem neugierigen Wechselflügler, wäre sie sicher nicht so wahnsinnig gewesen, ihm zu folgen.

„Sieh an, du bist endlich wach."

Eine unbekannte Frauenstimme riss ihn aus seinen Überlegungen. Wegen seines erblindeten Auges musste er den Kopf drehen, um einen Blick auf die Sprecherin zu erhaschen, doch er erkannte sie dennoch nicht. Sie war jung, vielleicht 12 Jahre alt, mit dunkler Haut und schwarzem Haar. Ihre braunen Augen funkelten, als würde sie seinen Anblick überaus amüsant finden. Gekleidet war sie in typische Händlertracht; weite, weinrote Hosen und eine cremefarbene Bluse, geschmückt mit allerhand goldenen Verzierungen. Als sie ihn anlächelte, überkam ihn das seltsame Gefühl, genau diese Mimik bereits mehrfach gesehen zu haben, doch er wusste nicht, wo.

„Wie geht es dir?", fragte das Mädchen ihn und erhob sich in einer eleganten Bewegung von ihrem Stuhl. Erst jetzt bemerkte Viggo ein allzu bekanntes Spielbrett, welches auf ihrem Schreibtisch aufgebaut wurden war. Der allgemeine Aufbau erinnerte ihn auf unheimliche Weise an sein eigenes Spiel, mit welchem er Nacht für Nacht seine Taktik für Rykers Verrat überdacht hatte, ohne wirklich zu einem Ergebnis zu kommen. Die Figur des Verräters allerdings stand neben dem Spielfeld, als hätte das Mädchen ihn geschlagen.

„Hättest du die Freundlichkeit, mir zu erklären, wo genau ich mich hier befinde?", fragte Viggo, ohne auf die Frage nach seinem Befinden einzugehen. Er war selbst überrascht davon, wie leicht er in seine charmante Rolle zurückfand.

Das Mädchen allerdings schien nicht sonderlich beeindruckt zu sein, sie verzog das Gesicht und ließ sich auf dem zweiten Bett nieder. Die darin schlafende Person regte sich nicht, obwohl ihre regelmäßigen Atemzüge für einen Moment aus dem Takt gerieten. Jetzt erkannte Viggo auch mehr als ihre bloßen Umrisse, sondern auch eine verfilzte Lockenmähne, die einen Kamm gut vertragen könnte. Allerdings verdeckte der wirre Haarschopf auch recht erfolgreich das Gesicht des Unbekannten. Ob das Absicht war oder lediglich Zufall, das konnte er nicht deuten.

„Du bist auf den nördlichen Marktinseln", erklärte das Mädchen ihm gelangweilt. Ihre Hände fanden den Weg in ihr rabenschwarzes Haar und flochten innerhalb weniger Sekunden einen eleganten Zopf daraus, als würde sie das jeden Tag machen. „Du und deine Begleiterin seid halbtot hier angekommen, mit einem aufgewühlten Händler im Gepäck. Der Alte meinte, sie hätte ihn angefleht, euch zu Nehemia zu bringen." Die Kleine zuckte die Schultern und löste ihren Zopf, indem sie mit den Fingern durch ihr glattes Haar fuhr. „Kaum stand sie vor meiner Haustür und hat ihr Anliegen vorgetragen, ist sie auch schon bewusstlos geworden." Ihre Hände trommelten einen schnellen Rhythmus gegen den Bettpfosten, als könnte sie es kaum ertragen, still zu sitzen. „Sie hatte eine ziemlich eindrucksvolle Schwertwunde in ihrem Rücken. Es ist ein Wunder, dass sie nicht verblutet ist, aber offenbar wollte sie dich unbedingt in Sicherheit wissen. Hat was von einem Vulkan gefaselt." Das Mädchen tippte gegen ihre linke Wange und warf ihm einen wissenden Blick zu. „Meine Mutter und ich haben dann eure Verletzungen versorgt, nur für dein Auge war's wohl zu spät."

Viggo nickte langsam, ziemlich verwirrt von dem Redefluss der Kleinen. Wenigstens wusste er jetzt, dass er sich die Schwärze auf seinem linken Auge nicht bloß einbildete. Blieb zu hoffen, dass er nun zumindest nicht allzu schrecklich aussah, denn er war zugegebenermaßen ziemlich eitel.

„Hat meine Begleitung dir ihren Namen genannt?", hakte Viggo schließlich nach. Auch wenn er wusste, dass es totaler Unsinn war, ließ ihn der Gedanke an Lova nicht los. Es gab schließlich nicht viele Menschen, die er noch nicht gegen sich aufgebracht hatte, und wer, wenn nicht sie, hätte ihn überhaupt retten wollen? Zusätzlich war sie die einzige, die genaueres über Krogan und seine Pläne wusste, was ein weiterer guter Grund war, ihn aus einem Vulkan zu fischen. Außerdem glaubte er, sich wage an das Gewicht ihres Kopfes auf seiner Brust zu erinnern, ganz zu schweigen von dem Gefühl ihres Haares unter seinen Händen. Sie war wohl eine der wenigen Menschen, die ihm freiwillig so nahe kommen würden. Die Reiter hätten ihm eher den Kopf von den Schultern getrennt, statt ihm das Leben zu retten und ihn aus der Schusslinie zu bringen.

„Hat sie nicht", sagte das Mädchen und wippte unruhig auf der Matratze hin und her, um einen Blick auf das Gesicht der schlafenden Person zu erhaschen. „Aber sie sah ziemlich ungewöhnlich aus. Die meisten auf den Nördlichen Marktinseln sind verschleiert, besonders die Frauen. Man schützt sich eben, besonders wenn nachts die Drachenjäger umherziehen."

Viggos Herzschlag beschleunigte sich, als er ihre Worte vernahm, obwohl er sich für diese Gefühlsregung selbst verfluchte. „Wie sah sie aus?", fragte er, ein Hauch von Ungeduld schlich sich in seine Stimme. „Dunkles Haar, Locken, unregelmäßiger Haarschnitt?" Die Worte flossen über seine Lippen, ehe er sich bremsen konnte. Das Mädchen nickte breit grinsend zu jeder seiner Fragen und malte mit der Stiefelspitze unsichtbare Muster auf die Holzdielen. „Das ist alles richtig", sagte sie amüsiert. „Aber mach ruhig weiter, wenn du's ganz genau wissen willst."

Ihn überkam das unbestreitbare Gefühl, dass sie sich über ihn lustig machte, doch ein weiteres Mal kamen die Worte schneller, als er sie überdenken konnte. „Helle Haut, sturmgraue Augen und Sommersprossen?", fragte Viggo, während vor seinem inneren Auge ihr Bild mehr und mehr Gestalt annahm. „Nicht viele, nur einige um ihre Nase, aber doch unübersehbar, wenn man genau hinschaut." Ein kleines Lächeln schlich sich bei dem Gedanken auf seine Lippen. „Ziemlich muskulös, sehr wahrscheinlich stärker als ich und-" Das Mädchen unterbrach ihn lachend, tiefe Grübchen lagen dabei in ihren Wangen. Man sah ihr an, dass sie eine Frohnatur war, doch es missfiel ihm, wie ihre braunen Augen ihn neckend anfunkelten, als sie sprach.

„Stärker war sie definitiv", sagte sie grinsend und zwinkerte ihm zu. „Hat dich den ganzen Weg hierher getragen, deine grauäugige Schönheit." Sie erhob sich und ging einige Meter auf ihn zu, in jedem ihrer Schritte lag eine unbestreitbare Eleganz, wie man sie von Tänzerinnen kannte. Ohne jede Berührungsangst beugte sie sich zu ihm, sie spürte ihren Atem an seinem Ohr und hörte ihr leises Kichern. „Wie heißt sie denn?", fragte das Mädchen und er sah, wie sie vor Aufregung die Finger ineinander verschränkte und wieder voneinander löste. „Du scheinst sie ja sehr gut zu kennen."

Viggo verkniff sich ein Augenverdrehen bei der kindlichen Naivität dieses Mädchens, denn auch wenn ihre Fröhlichkeit ziemlich erfrischend war, ihre zweideutigen Aussagen zerrten an seinen Nerven. Andererseits verhielt er sich völlig kopflos, seit er in den Vulkan gefallen war. Vielleicht hatte er sich den Kopf gestoßen, denn einen anderen Grund könnte es nicht dafür geben, dass seine Sorgen in dieser Sekunde nicht sich selbst, sondern einer Frau galten, die nicht einmal annähernd etwas mit seinem Geschäft zu tun hatte und die ihm noch weniger einen Vorteil brachte.

„Ihr Name ist Louvisa", sagte er und kniff bei dem begeisterten Quietschen des Mädchens genervt die Augen zusammen. „Endlich mal jemand mit einem ähnlich exotischen Namen", sagte die Kleine fröhlich und zog ihren Schreibtischstuhl heran, damit sie sich ihm gegenüber setzen konnte. „Meine Mutter hielt es ja für eine großartige Idee, mich Nehemia zu nennen, aber ich denke..."

Das Mädchen – Nehemia – machte keine Anstalten, ihren schier endlosen Redefluss zu unterbrechen. Viggo selbst würde sich ebenfalls als eine sehr gesprächige Person einschätzen, doch er war zudem absolut kein Morgenmensch. Außerdem brannte die Wunde auf seinem Gesicht mittlerweile wieder und trug ihren Teil dazu bei, dass seine Nerven blank lagen. Hatte er sich mit 12 ähnlich unreif verhalten? Götter, in seinen Teenagerjahren hatte er sich bereits einen Namen als begnadeter Drachenjäger erarbeitet und gemeinsam mit seinem Bruder eimerweise Gold gescheffelt. Allerdings war er nun allein und verwundet in einem kleinen Zimmer, ohne Armee und ohne Gold, während das Mädchen vor ihm förmlich zu strahlen schien. Ihre Fröhlichkeit würde sicher nicht so einfach verschwinden wie sein Reichtum, dessen konnte er sich sicher sein.

Viggo stieß ein leises Seufzen aus und hob die Hand, um Nehemia zum Schweigen zu bringen. „Meine Liebe, ich weiß deine Hilfe und die deiner Mutter wirklich sehr zu schätzen, doch wenn ihr eine Gegenleistung erwartet, werde ich euch leider..." Das Mädchen schüttelte heftig den Kopf und lächelte mitfühlend zu ihm herüber. „Wir haben nie Geld von Verletzten angenommen und werden auch sicher nicht damit anfangen", stellte sie klar und hob zur Verdeutlichung abwehrend die Hände. „Außerdem kennt deine Begleitung meinen Vater. Er hat sie geschickt, und die Freunde meines Vaters gehören quasi zur Familie!" Nehemia offenes Lächeln wurde noch ein wenig breiter.

Er allerdings wurde stutzig und legte nachdenklich den Kopf schief, eine Geste, die er sich von Louvisa abgeschaut hatte. Ihren Worten verlieh das immer eine unleugbare Wichtigkeit, doch er fürchtete, dass es bei ihm lediglich sein Image als Bösewicht unterstützte, besonders mit den neuen Narben, die er nun zu verzeichnen hatte. Dennoch hatte Viggo das Gefühl, dass diese Geste seinen ohnehin schon überragenden Verstand noch ein wenig mehr schärfte.

„Und wer ist dein Vater, meine Teure?", fragte er und verschränkte die Arme vor der Brust. Eine abwehrende Geste, denn wenn sie mit einem seiner vielen Feinde verwandt war, könnte es in Sekundenschnelle ziemlich hässlich werden. Nehemia machte allerdings keine Anstalten, sich auf ihn zu stürzen, als sie fröhlich sagte: „Finn, er ist ein Drachenjäger, deswegen ist er so gut wie nie hier, aber er hat immer ziemlich aufregende Geschichten im Gepäck, wenn er Nachhause kommt und- Ist alles in Ordnung?"

Schon bei der Nennung des Namens ihres Vaters waren Viggos Gesichtszüge völlig entgleist. „Finn?", wiederholte er ungläubig und das Mädchen nickte eifrig als Bestätigung. „Richtig", sagte sie lächelnd. „Kennst du ihn auch?" Nehemia musterte ihn neugierig, als er langsam nickte, doch dieses Mal blieb sie still. Offensichtlich schien sie abwarten zu wollen, was er noch zu sagen hatte, oder sie hatte lediglich seinen Schock zur Kenntnis genommen und sich entschieden, darauf Rücksicht zu nehmen. Beide Möglichkeiten gefielen ihm nicht sonderlich, denn er würde ihr so oder so die Wahrheit sagen müssen. Aber es war besser, es ihr jetzt zu sagen, ehe sie irgendeine verdrehte Version der Ereignisse aufschnappte und ihn hochkant herauswarf.

„Nun...", Viggo nahm einen tiefen Atemzug und straffte die Schultern, ehe er sein typisches Lächeln aufsetzte und stumm betete, dass er keinen Fehler beging. „Ich bin gewissermaßen der Chef deines Vaters... gewesen." Das letzte Wort behagte ihm absolut nicht, es streute verdammt viel Salz in die Wunde, die Rykers Verrat hinterlassen hatte. „Allerdings gab es eine Revolte unter meinen Männern", erklärte Viggo und hoffte, dass das Mädchen ihn verstand. Bisher war ihr Blick noch freundlich, sie lehnte sich sogar ein wenig zu ihm, um seine Worte in sich aufzusaugen. „Dein Vater war einer der wenigen, die sich nicht zu meinem Bruder bekennen wollten, als dieser die Macht an sich riss." All das auszusprechen sorgte dafür, dass es sich so viel realer anfühlte. Dieser Plan war seinerseits ein absoluter Fehlschlag gewesen, er wäre beinahe gestorben und die Hälfte seines Augenlichtes hatte er auch noch eingebüßt. Nicht gerade seine beste Strategie, wenn er ehrlich war.

„Dann musst du im Recht gewesen sein", stellte Nehemia fest und riss ihn somit aus seinen Gedanken. „Und dein Bruder im Unrecht."

So, wie sie das sagte, so völlig überzeugt, brachte es ihn tatsächlich zum Schmunzeln. Ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen, auch wenn es bei den Schmerzen, die seine Brandwunde so auslöste, nahezu sofort wieder erlosch, das amüsierte Funkeln blieb. „Meine Liebe, die Welt ist nicht nur schwarz und weiß", sagte Viggo und hob die Brauen. „Und selbst wenn es so wäre, würden viele mich eher auf der unrechten Seite verorten."

Nehemia verdrehte die braunen Augen und warf ihm einen genervten Seitenblick zu. „Ich weiß, wie es sich mit der Welt verhält", sagte sie altklug und lehnte sich überlegen in ihrem Stuhl zurück. „Aber wenn mein Vater dir vertraut, werde ich das auch tun."

„Dir liegt viel an deinem Vater, nicht wahr?", fragte er interessiert. Nehemia nickte eifrig und hob stolz das Kinn. „Selbstverständlich", gab sie zurück, doch dann verwarf sie das Thema mit einer beiläufigen Handbewegung. „Viel wichtigere Frage, wie gut bist du in Keule und Klaue? Ich hatte schon seit ewigen keinen angemessenen Gegner mehr und du siehst aus, als könntest du eine Ablenkung gebrauchen." Viggo ignorierte die offensichtliche Spitze in ihren Worten und hob eine Augenbraue. „Meine Liebe, ich wurde bisher nur von einer einzigen Person geschlagen – und damals war ich 11 Jahre alt." Das Mädchen lachte fröhlich und streckte eine Hand nach ihm aus, um ihm auf die Füße zu helfen. Er ließ es zu und bekam dafür einen gespielt finsteren Blick geschenkt, dessen Wirkung von dem Funkeln in Nehemias Augen deutlich geschmälert wurde. „Gib mir eine Stunde und wir machen Zwei draus, Viggo Grimborn", sagte sie selbstsicher und entlockte ihm damit ein ehrliches Lachen. „Wir werden sehen", gab er betont kühl zurück und ließ sich ihr gegenüber neben dem Spielbrett nieder. „Lass das Spiel beginnen."

~

„Ich hatte dir bereits angekündigt, dass ich gewinnen würde, meine Liebe."
„Das ist unfair, du hast viel mehr Übung als ich, natürlich hast du gewonnen!"
„Vor einer Stunde klang das aber noch ganz anders, meine teure Nehemia."
„Da wusste ich ja noch nicht, dass ich gegen dein allwissendes, altes Superhirn antreten würde."
„Hast du mich gerade alt genannt?"
„Steinalt." Ein Kichern folgte. „Aber unfair ist es trotzdem."
„Wenn du jemanden herausforderst, musst du dir immer im Klaren darüber sein, dass du auch eine Niederlage einstecken könntest, meine Liebe."
„Jetzt klingst du wie die rechthaberischen Geschichtenerzähler am Hafen, die einen immer mit ihren endlosen Erzählungen belehren."
„In den meisten Geschichten steckt mehr Wahrheit, als wir es uns eingestehen wollen. Früher oder später müssen wir alle lernen, dass wir gut daran tun, den Empfehlungen anderer Gehör zu schenken."
„Laaaangweilig."
„Viel mehr die einfachste Moral, die das Leben zu bieten hat."
„Sagte ich ja, langweilig."

Mit einem frustrierten Seufzen zog Lova sich die Wolldecke über den Kopf und betete, dass der dünne Stoff die viel zu lauten Stimmen dämpfen würde. Ihr war eiskalt, ihr Rücken schmerzte und sie wusste jetzt schon, dass die Welt sich vor ihr drehen würde, sobald sie die Augen aufschlug. Wäre es nach ihr gegangen, hätte sie noch stundenlang schlafen können, doch seltsame Träume suchten sie immer dann heim, wenn sie glaubte, endlich Ruhe gefunden zu haben. Sie war doch nicht wirklich in einen Vulkan geflogen, um Viggo das Leben zu retten? Das war absurd, selbst für sie. Sicher befand sie sich noch immer auf Rykers verdammten Kriegsschiff und ihre Träume rührten vermutlich davon, dass sie einen ordentlichen Schlag auf den Kopf bekommen hatte. Sobald sie den Kopf heben und die Augen öffnen würde, würde die Wahrheit über ihr hereinschlagen und ihr jegliche Chance der Erholung rauben. Sie täte mehr als gut daran, sich schlafend zu stellen, bis Ryker sich einen neuen, sadistischen Plan ausgedacht hatte.

„Ich kann nicht glauben, dass du tatsächlich all deine Jäger geopfert hast, um meinen König zu schlagen!"

Ein verwirrtes Stirnrunzeln schlich sich auf Lovas Miene. Die Stimme klang nicht nur weiblich, sondern auch ziemlich jung. Es gab keine Jugendlichen in Rykers Elitetruppe, erst recht keine Mädchen. Und selbst wenn, dann hätten diese ganz sicher nicht so heiter und fröhlich geklungen, das hatten ihre letzten Erfahrungen ihr ziemlich deutlich gezeigt.

„Alles reine Taktik. Besonders bei Keule und Klaue ist es leicht, Figuren für strategische Zwecke zu opfern. Das wirst du noch lernen, meine Liebe, dessen bin ich mir sicher."

Jetzt war sie sich vor allem ziemlich sicher, dass sie an Halluzinationen oder an beginnendem Wahnsinn litt. Anders konnte sie sich nicht erklären, warum sie Viggos Stimme hörte. So sehr sie gebetet hatte, dass er am Leben war, so würde er sich doch sicher nicht im Kriegsschiff seines Bruders aufhalten. Und was im Namen aller vernünftig denkenden Götter hatte er mit einer Teenagerin und einem Keule und Klaue Spiel zu schaffen? Man könnte meinen, dass er größere Probleme hätte, nachdem Ryker ihn verraten hatte.

„Hast du es so geschafft, zum erfolgreichsten Mann des Inselreiches zu werden?"

Die Stimme des Mädchens erklang erneut. Unverhohlene Neugierde schwang darin mit, zudem sprach sie ungehemmt und laut, als ob die ganze Welt ihre Worte vernehmen musste. So sprach man doch nicht, wenn man sich in Gefangenschaft befand. Und Ryker würde ein Mädchen sicher nicht in seine Mannschaft aufnehmen, aber falls doch, dann zu Zwecken, die keinen Anlass zur Freude boten. Lova würde ja gern glauben, dass sie Rykers Schiff tatsächlich verlassen hatte – und auch ihre Erinnerungen boten jeden Anlass dazu – doch es erschien ihr nahezu wahnsinnig, dies auch nur in Betracht zu ziehen.

„Nun, als Geschäftsmann gehören Risiken sicher dazu, doch hauptsächlich beschäftigt man sich mit Angebot und Nachfrage. Der taktische Teil kommt erst, sobald man einen ernstzunehmenden Gegenspieler hat. Verstehst du das, Nehemia?"

Bei dem Namen klingelte etwas in Lovas Hinterkopf. Hatte Finn ihr nicht gesagt, sie könnte bei seiner Tochter Schutz finden? Aber würde das nicht bedeuten, dass sie tatsächlich geflohen war? Götter, sie hatte Viggo doch nicht wirklich in einem Vulkan gefunden und war mit ihm bis zu den Nördlichen Marktinseln geflogen?! Ganz zu schweigen von ihrer Flucht aus dem Kriegsschiff, bei welcher sie und Runna beinahe ertrunken wären... Das musste ein verdammter Scherz sein, den ihre Sinne ihr hier spielten.

„Und mit Gegenspieler meinst du diese Drachenreiter, nicht? Mein Vater hat mir von ihnen erzählt!"

Sogar Finn und die Drachenreiter brachte ihr Unterbewusstsein in diese absolut seltsame Wahnvorstellung mit ein. Wüsste sie es nicht besser, würde sie glauben, dass es sich hier tatsächlich um die Realität handelte. Vielleicht war es die Schwertwunde in ihrem Rücken, die sich entzündet hatte und ihr nun Halluzinationen bescherte.

„Momentan wohl eher meinen eigenen Bruder, Ryker. Verrat in der Familie, wiegt schwer und verwirft selbst die besten Taktiken."

Nun, wenigstens dieser Teil entsprach der Wahrheit. Ryker war gefährlich, rücksichtslos und sein Verrat unaufhaltsam gewesen. Lova hatte nicht wirklich geglaubt, dass Viggo tatsächlich eine Niederlage erleiden würde, bis es zu spät gewesen war.

„Ryker ist tot, sein Schiff ist gesunken. Hat kaum einer überlebt, gab wohl ein riesiges Drama, direkt vor der Basis der Drachenreiter. Mein Vater hat mir davon erzählt."

„Was?", fragte Lova ungläubig, ehe sie sich bremsen konnte.
„Wie bitte?" Das war Viggos Stimme, etwas gefasster als ihre eigene, doch ebenso überrascht.

„Er ist tot", wiederholte das Mädchen schulterzuckend. „Mein Vater hat es selbst nur mit Mühe und Not vom Schiff geschafft, offenbar haben die Drachenreiter keinerlei Gnade walten lassen. Irgendein riesiger Drache hat es wohl regelrecht verschlungen und den Granatenfeuer besiegt. Gab wohl ein riesiges Spektakel, ich wäre liebend gern dabei gewesen, allerdings..." Während sie fröhlich weiter plauderte, traf Viggos Blick auf Lovas. Erst in diesem Moment wurde ihr wirklich und endgültig bewusst, dass es sich hierbei nicht um eine Einbildung handelte. Sie war hier, und noch bedeutender, er war es ebenfalls. Sie waren beide am Leben, und für einen kleinen Augenblick war das alles, was zählte.

„Du bist wach, Lova, meine Liebe", stellte Viggo dann fest und ein Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Sofort verzog er das Gesicht vor Schmerzen, denn schon diese kleine Bewegung seiner Mundwinkel schien seine Brandwunden zu reizen. Dennoch verschwand die Wärme in seinen Augen nicht, als er sie musterte. Sein Blick traf auf ihren und sie spürte, wie sie sich langsam in ihm verlor. „Du lebst", gab sie zurück. In ihrer noch etwas verschlafenen Stimme schwang ein gewisser Unglaube mit, was von Viggo mit einem leisen Lachen quittiert wurde. „Das tue ich", antwortete er und neigte den Kopf vor ihr. „Und das habe ich dir allein zu verdanken."

„Ich will mich ja ungern einmischen", sagte das Mädchen, welches Nehemia sein musste. „Aber meine Mutter würde es sicher nicht schätzen, wenn sie hören würde, dass ihr ihre Kenntnisse der Medizin außen vorlasst." Lova hörte das Grinsen in ihren Worten, doch sie sah erst zu ihr hin, als auch Viggo seinen Blick von ihr löste. Sie hätte es vermutlich nicht über sich gebracht, sich als erstes von ihm abzuwenden, denn obwohl es ihr nicht so einfach über die Lippen kommen würde, wie es ihr in Gedanken gelang, so konnte sie doch nicht bestreiten, dass sie erleichter über seine gute Verfassung war.

„Meine Liebe, wir schulden deiner Mutter einen Dank", sagte Viggo und neigte höflich den Kopf vor dem Mädchen. An Respekt hatte er es ja ohnehin niemals fehlen lassen. „Und auch wenn ich euch beiden für eure Hilfe zutiefst verbunden bin, muss ich dich doch um etwas bitten." Nehemia nickte und schenkte ihm ein breites Grinsen. „Selbstverständlich", gab sie zurück und Lova sah ihr an, wie viel Mühe es sie kostete, nicht weiterzureden. Finns Tochter schien deutlich gesprächiger als ihr Vater zu sein, ihre Gesten zeugten von ziemlich viel Energie für diesen zierlichen Körper und ihr rechtes Bein wippte unaufhörlich auf und ab, als könnte sie es nicht ertragen, auch nur eine Sekunde stillzuhalten.

„Würdest du mich und Louvisa für einen Moment allein lassen? Wir haben einiges zu besprechen." Viggos Lächeln ließ nicht an Charme fehlen, doch Lova sah, wie sein Blick zu ihr schweifte. Lediglich aus dem Augenwinkel, nur für einen kleinen Moment, doch auffällig genug, dass es auch von Nehemia bemerkt wurde. Das Mädchen lächelte und erhob sich elegant, jede Bewegung einem Tanzschritt gleich, als wäre die Welt nichts als eine Bühne unter ihren Füßen. „Liebend gern", sagte sie und ihr Grinsen wurde noch ein wenig breiter, falls das überhaupt möglich war. „Ich werde meiner Mutter Bescheid sagen, dass ihr beide jetzt wach seid", kündigte Nehemia noch an, als sie schwungvoll die Tür aufzog. „Sie wird in einigen Minuten nach euch sehen wollen, also stellt euch auf ihre Fragen ein!" Und damit war sie weg, einzig ihre Schritte und das Knarren der hölzernen Treppenstufen wiesen noch auf ihre Gegenwart hin.

„Ihre jugendliche Eleganz ist wirklich zu beneiden", sagte Viggo und Lova stieß ein amüsiertes Schnauben aus. „Durchaus", gab sie zurück. „Aber das ist sicher nicht alles, was du mir sagen wolltest." Auf seinen Lippen breitete sich ein selbstsicheres Lächeln aus. „Selbstverständlich nicht, meine Liebe. Lass uns zum Geschäftlichen kommen, nicht wahr?"

ClematisWhere stories live. Discover now