Kapitel 57

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„Nein...", kam es rau über Lovas Lippen. „Nein, nein, nein, nein, nein..."

Sie ließ den Dolch fallen, als wäre er vergiftet. Blutstropfen spritzten in die Höhe, als er in der dunklen Pfütze landete, rote Sprenkel blieben an Lovas Wangen kleben, während sie geradewegs in Runnas weit aufgerissene Augen starrte. Nun erschienen sie nicht einmal mehr grün, sondern glichen dem kalten Weiß des Schnees. Wenn in ihnen jemals die Seele dieses wundervollen, klugen Drachen gelebt hatte, dann war sie nun fort, in den Himmel entflohen. An einen Ort, wo die Flügel des Wechselflüglers noch unbeschadet und kräftigt waren, nicht unbelebt über den Boden schliffen. Einen Ort, wo keine Stichwunde ihre Kehle durchtrennte, wo kein stetes Rinnsal Blut aus ihrem Hals floss und in der eisigen Kälte schnell zu Eis gefror.

Sie hatte Runna umgebracht. Sie hatte... sie hatte Runna ermordet.

Ungläubig schüttelte Lova den Kopf, während sie mit zitternden Händen über die Schuppen ihres Drachens strich. Sie waren noch warm, das Leben war noch nicht ganz aus dem schlanken Körper gewichen, doch das blutige Lächeln, welches Lovas Dolch in Runnas Kehle geritzt hatte, verlieh dem Anblick des Wechselflüglers eine grausame Endgültigkeit. Und sie regte sich nicht mehr. Wenn Lova nicht selbst die ledrige Haut des Drachens unter ihren Händen nachgeben gefühlt hätte, dann wäre das der letzte Hinweis gewesen, denn sie gebraucht hätte, um sich einzugestehen, was sie getan hatte.

„Ich habe dich getötet", murmelte Lova, und bei diesen Worten zerbrach etwas von ihr. „Ich bin schuld." Weinend und schluchzend kauerte sie neben Runnas Leiche, schlang die Arme um den Hals ihres Drachens. „Es tut mir leid. So unglaublich leid."

Es fühlte sich wie Heuchelei an, im Blut des Wechselflüglers zu kauern, Halt an ihrem erkaltenden Körper zu suchen, während die Stichwunde an Runnas Kehle noch so frisch war, dass es ihren Hals in ein dunkles Rot tauchte. Das Blut glänzte im schwachen Wintersonnenlicht, als wollte es Lova verhöhnen. Alles schien sie anzuschreien, schien ihr vorzuwerfen, was sie getan hatte. Sie hatte sich geschworen, niemals eine Waffe gegen ihren Drachen zu erheben, ihr kein Leid zuzufügen und sie niemals wieder zurückzulassen. Sie hatte jedes dieser Versprechen gebrochen. Lova hatte diesem Drachen eine Familie sein wollen, hatte die Freiheit mit Runna teilen wollen, jedes Leid von ihr fernhalten. Und jetzt war sie tot, und es war Lova, die sie umgebracht hatte.

„Warum?", fragte sie, erst leise, doch dann legte sie den Kopf in den Nacken und schrie die Götter an, die sie vermutlich gerade lachend beobachteten. „WARUM?" Ein Schluchzen erstickte ihre Stimme, ihre Schultern bebten. „Was habe ich getan? Was habe ich.. das kann nicht..." Lova vergrub die Hände im Stoff ihrer Hose, ihre Fingernägel bohrten sich in ihre Haut. Der scharfe Schmerz hielt sie bei Verstand und trieb sie gleichzeitig in den Wahnsinn. Sie hatte ihrem Drachen diesen und noch viel schlimmeren Schmerz zugefügt. Sie hatte Runna ermordet. Sie war nicht besser als Drago, sie war ein ebenso großes Monster wie er. Und schlimmer. Sie hatte das einzige Wesen getötet, welches stets an ihrer Seite geblieben war, sie immer beschützt hatte. Bis... bis sie es am Ende nicht mehr getan hatte.

Verwirrt hielt Lova inne, während ein Verdacht sich wie Säure durch ihren Körper fraß, sich in ihrem Kopf einnistete. Runna hatte sie immer beschützt. Sie hatten einander beschützt. Was war vorgefallen, dass dieser freundliche, liebevolle Drache plötzlich ihren Tod gewollt hatte?

Obwohl ihre Beine noch immer zittern und die kaum verheilte Wunde an ihrem Oberschenkel schmerzte, konnte Lova sich aufrichten und sich an Runnas Leiche zu schaffen machen. Es klang grausamer, als es tatsächlich war, und doch trieb es ihr erneut Tränen in die Augen. Erst der Qualmdrache, jetzt ihr geliebter Wechselflügler... Und wenn ihr Verdacht richtig war, hatte sie für beide Tode einen Schuldigen. Ein- und denselben Schuldigen, genauer gesagt.

ClematisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt