Kapitel 54

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Sieben Tage hatte Lova mittlerweile in dieser Zelle verbracht.

Sieben geöffnete Briefe lagen zu ihren Füßen.

Sieben blutige Stofffetzen neben ihr im Schnee.

Nach dieser Zeit waren ihre Hände taub geworden in der eisigen Kälte, und ihr Haar war gräulich-weiß von all dem Frost, der darin hing. Mit ihren Schultern, die gebeugt waren von dem pulsierenden Schmerz in ihrem verwundeten Oberschenkel, wirkte sie vermutlich wie eine alte Jungfer. Eine dramatische Beschreibung, die nur zu gut zu ihrem eigenen Gefängnis passte. Eis überzog die Gitterstäbe des Käfigs, der wohl eigentlich für einen deutlich größeren Drachen gedacht war. Einerseits verlieh dieser Umstand Lova Bewegungsfreiheit, andererseits war sie ohnehin schon seit ihrer ersten Nacht kaum zu einer Regung fähig. Nur dann, wenn man ihr Nahrung oder Wasser in die Zelle reichte, konnte sie sich aufraffen. Der einzige Grund dafür war, dass sie sonst schon längst tot wäre.

Während ihr Körper schwächer und schwächer wurde, lief ihr Geist allerdings auf Hochtouren. Seit sie den Kampf gegen den Fremden auf so demütigende Weise verloren hatte, suchte sie unermüdlich nach einer Möglichkeit zur Flucht. Die Briefe, die sie in den letzten Tagen erhalten hatte, waren dabei allerdings keine Hilfe gewesen. Jeder einzelne stammte von Viggo, und sie stachelten ihre Ängste nur noch mehr an.

Es hatte harmlos begonnen. Er hatte sie gebeten, vorsichtig zu sein, achtzugeben, keine unnötigen Risiken einzugehen. Sie sollte sich bald melden, sollte ihn wissen lassen, wo sie war. Doch mit jedem neuen Tag wurde seine Schrift verschmierter, als würde er unter großer Eile schreiben. Auch das Papier, zuerst noch edles Pergament, war nun nicht viel mehr als ein einfaches, mit Kohlestift beschriebenes Stück Stoff. Auch hatte er kaum erklären können, was geschehen war. Mit wirren Worten, die so gar nicht zu Viggo passten, hatte er ihr geschildert, dass die Lage sich erneut zuspitzte. Und in seinem letzten Brief hatte er sie förmlich angefleht, ihm den Standort des Skrills zu verraten oder ihm wenigstens zu versichern, dass sie noch am Leben war. Doch Lova konnte nicht viel mehr tun, als tatenlos herumsitzen und händeringend zu beten, dass sich eine Lösung finden würde, dass sie endlich einen Fluchtweg entdeckte. Sie war so verzweifelt, dass sie mittlerweile wohl alles versucht hätte.

Lova stieß einen derben Fluch aus und verpasste dem Gitter vor ihr einen Tritt. Wie all die Tage zuvor brachte es nichts, nur ihre Zehen schmerzten und sie sog zischend die Luft ein. „Gut zu wissen, dass wenigstens meine Gliedmaßen noch nicht abgefroren sind", murmelte sie in einem verzweifelten Versuch, optimistisch zu sein. Immerhin – sie war eine Wikingerin, sie hatte schon mehr Männer und Frauen mit eingebüßten Nasen, Ohren und Fingern gesehen, die die grausame Kälte des Nordens unterschätzt hatten. Und sie hatte daraus gelernt. Sie behielt die Hände in den Taschen, rollte sich zu einem Ball zusammen und vergrub die Nase in ihrem Überwurf aus Schaffell. Zumindest die meiste Zeit über.

Gerade war Lova aufgewühlt, ihr war kälter als sonst – falls das überhaupt möglich war – und ihr sonst ausgezeichneter Geruchssinn ließ sie dank ihrer Erkältung im Stich. Sie hätte schwören können, dass etwas in der Luft lag, doch sie war nicht in der Lage, es auszumachen. Es entglitt ihr immer dann, wenn sie glaubte, es endlich entdeckt zu haben.

Ein weiterer Fluch, ein weiterer Tritt gegen das Gitter und Lova raffte sich mühsam auf. Ihre Beine waren steif, ihr Rücken knackte, als sie sich tatsächlich erhob. Schneeflocken und Eiskristalle rieselten aus ihrem Haar, als sie auf ihren Füßen tatsächlich das Gleichgewicht verlor und beinahe wieder auf ihrem Hintern gelandet wäre. Nur schwerlich kam sie auf die Beine, doch nach einer Weile stand sie – mehr schlecht als recht, doch sie stand. Die Haut an ihren Händen schmerzte in der ungewohnten Kälte, feine Risse und Blutspuren zierten ihre Fingerknöchel. Die Kälte forderte ihren Tribut, in den gewohnten Wegen wie in den ungewöhnlichen. Als Wikingerin hätte sie es gewohnt sein sollen, doch sieben Nächte in diesen Umständen hatten sie an ihre Grenzen gebracht, ganz zu schweigen von der noch immer schmerzenden Stichwunde an ihrem Oberschenkel.

ClematisDonde viven las historias. Descúbrelo ahora