Kapitel 56

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Lova hatte bei Weitem unterschätzt, wie schmerzhaft eine Stichwunde im Oberschenkel sein konnte, wenn man sieben Tage lang nichts als halbwegs saubere Stofffetzen und Schnee zur Versorgung zur Verfügung hatte. So humpelte sie nach einer Weile mehr, als sie ging, doch glücklicherweise war das Lager der Drachenfänger nicht weit. Anscheinend erwartete man sie auch nicht, was einerseits seltsam war, andererseits aber auch Sinn ergab – wer würde in ein Lager voller bis an die Zähne bewaffneter Männer und einiger gefangener Drachen am Ende der Welt eindringen wollen? Lova, offensichtlich, doch niemand anderes wäre verrückt genug oder hätte einen guten Grund dafür. Also ließ man die Wachsamkeit schleifen.

Die Wikingerin war noch nie an einem Ort wie diesem gewesen. Auf der dem Meer zugewandten Seite des Lagers konnte sie die Umrisse einiger Schiffe ausmachen, etwa ein Dutzend Zelte und kleiner Hütten bildete einen Ring um die Mitte. Wo bei einem normalen Dorf der Marktplatz gewesen wäre, befanden sich hier einige Kuppeln aus Metall. Es war nicht schwer zu erraten, dass darin vermutlich die Drachen verwahrt wurden. Das war auch der Grund, aus dem Lova geradewegs darauf zu hielt. Na gut, sie schlich viel mehr von einem Versteck zum nächsten und arbeitete sich systematisch näher an die Käfige heran, ohne gesehen zu werden – hoffentlich.

Noch während sie sich immer tiefer in das feindliche Lager schlich fragte Lova sich, ob es sich bei diesem Ort tatsächlich um den Stützpunkt dieses Dragos handelte. Falls ja, wäre es ziemlich erbärmlich, aber falls dies hier nur eins von vielen Zwischenlagern war... Nun, dann wäre ihr Verdacht bestätigt, dass es sich bei dem Mann um Krogans Auftraggeber aus dem Norden handelte. Für ihre Zwischenlager-Theorie stand natürlich, dass die Wohnräume sehr einfach gehalten waren. Es gab fast nur einfache Zelte, die aus Leder und Holzstangen bestanden, kaum der Bezeichnung eines Schlafplatzes wert. Die vereinzelten Hütten mussten Lager sein und sahen aus, als würde der leiseste Windhauch sie bereits wegwehen. Ein kleiner Schneesturm, und das ganze Lager – von den Käfigen abgesehen – läge in Trümmern. Und da Lova die Erfahrung gemacht hatte, dass sich das schlimmste Szenario stets bewahrheitete, setzte sie „Krogans Auftraggeber treffen" auf die Liste mit Dingen, die sie niemals hatte tun wollen, ehe sie vor dem ersten Drachenkäfig zum Stehen kam.

Prüfend musterte sie das Metall, welches im trüben Wintersonnenlicht mattgrau schimmerte. Der bläulich-grüne Ton, welcher üblicherweise auf drachensicheres Metall hinwies, fehlte. Lova nahm an, dass die Drachenfänger über keine Kenntnisse verfügten, was dieses Material anging, und das bedeutete, dass die Drachen im Inneren vermutlich zusätzlich gefesselt waren. Hoffentlich waren die Männer nicht klug genug gewesen, um an zusätzliche Schlösser zu denken...

Ein Blick über die Schulter bestätigte Lova, dass sie bisher noch allein war. Niemand schien sie gehört zu haben, und auch Drago hatte (noch?) nicht zu ihr aufgeschlossen. Alles lief nach Plan. Dennoch hielt sie automatisch die Luft an, als sie sich aus ihrer Deckung begab und zu dem Hebel huschte, der die Kuppel öffnen würde. Die eingeritzten Runen verrieten ihr, dass es sich um einen Regenschneider handeln musste, also eilte sie kopfschüttelnd weiter. „Wechselflügler, Wechselflügler...", murmelte sie angespannt, während sie von Kuppel zu Kuppel schlich und nach der Aufschrift suchte, die ihre viel zu lang andauernde Suche endlich beenden würde. Einige der Drachennamen kannte sie nicht, während wieder andere beinahe gestochen scharf vor ihrem inneren Auge erschienen. Während die Drachenjäger des Archipels sich mehr auf die klassischen Drachen wie Gronckel, Riesenhafte Albträume, Tödliche Nadder und Wahnsinnige Zipper konzentriert hatten, erschienen die hier festgehaltenen Wesen viel exotischer. Lova hatte in ihrem Leben noch nie von einem „Humpelnden Grunzer" oder einer „Schnappenden Falle" gehört. Sie fragte sich, woher diese Drachenfänger kamen, dass Drachen wie diese in solchen Massen vorkamen, ohne dass Lova je Notiz von ihnen genommen hätte.

Als sie endlich die sehnlich erwartete Aufschrift auf einer der Kuppeln erkannte, schob sie diese Gedanken beiseite. „Runna", flüsterte Lova und legte die Hand auf das kühle Metall, als könnte sie ihren Drachen so wissen lassen, dass sie nun endlich wieder bei ihr war. „Ich bin gleich bei dir, versprochen." Mit diesen Worten straffte sie entschlossen die Schultern und band ihr Haar zu einem Zopf, damit es ihr nicht ins Gesicht fallen würde, ehe sie beschwingt nach der Kurbel griff und diese zu drehen begann.

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