Kapitel 16

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Die Stimmung in der Drachenjägerbasis war so angespannt wie seit vielen Jahren nicht mehr.
Die zunehmenden Versuche Rykers, die Männer gegen ihren Anführer aufzubringen, hatten eine tiefe Kluft des Misstrauens in die Mitte des Stützpunkts geschlagen und obwohl die Arbeit am Projekt Granatenfeuer schnell vonstattenging, wurden die fordernden Stimmen immer lauter. Wann immer Lova das Essenszelt betrat, wurde sie von misstrauischen Blicken begrüßt. Es entging ihr nicht, dass die Jäger verstummten, wenn sie in ihr Sichtfeld trat. Ihr tägliches Training mit Viggo musste sich herumgesprochen haben, denn sie wurde mit denselben hasserfüllten Blicken bedacht wie er.

Nicht, dass das einer Frau mit einem unsichtbar machenden Umhang viel bedeuten wurde, doch es war spürbar, wie sich die Lage für Viggo mit jedem Tag ein wenig mehr zuspitzte. Die Gefahr, dass sie eines Morgens vor seinem Zelt stehen und ihn von seinem eigenen Bruder ermordet finden würde, nahm schneller zu, als Lova es verarbeiten konnte. Gestern noch, so schien es ihr, hatte Viggo seinen Männern eine Rede über ihr Geburtsrecht und ihre wichtige Rolle in seinen Reihen gehalten, während sie aufmerksam an seinen Lippen hingen. Mittlerweile war sie die Einzige, die seinen Worten noch Gehör schenkte.

Was immer Ryker ihnen versprochen hatte, es musste seine Wirkung ganz nach seinem Wunsch entfaltet haben. Welche Lügen er ihnen wohl in die Köpfe gesetzt hatte?

Mit einem leisen Seufzen schob sie diese Gedanken beiseite und widmete sich wieder ihrem Drachen. Der Wechselflügler allerdings schien die Anspannung und den Hass um sie herum kaum zu bemerken. Man musste es Lova durchaus positiv anrechnen, dass sie alles tat, um Runna von den aufgebrachten Jägern fernzuhalten. Odin allein wusste, was sie ihrem geliebten Drachen antun würden, wenn sie sie fanden...

Um genau das niemals erfahren zu müssen, hatte sie Runna so gut wie möglich eingeschärft, sich von den Zelten der Jäger fernzuhalten, selbst ihr provisorisches Lager bei den Drachenkäfigen hatten sie aufgegeben. Sie verbrachten die Nächte an einem kleinen, klaren See in dem Wald in der Nähe der Basis, immer im Schatten der Bäume und immer durch ihre Unsichtbarkeit vor zu scharfsinnigen Patrouillen geschützt. Der einzige Nachteil war, dass sie nun so weit von Viggos Zelt entfernt war, dass sie nicht bemerken würde, wenn ihm mitten in der Nacht etwas geschah.

Es war nicht ausgeschlossen, dass Ryker seinen Bruder einfach ermordete, hinterhältig wie eine Schlange und selbst für die rauesten unter den Wikingern so schrecklich, dass er es wohl auf einen seiner Anhänger schieben musste, um nicht in Ungnade zu fallen. Lova traute ihm zwar durchaus zu, dass er diese kleine Tatsache einfach übersah und sich selbst von seinem hohen Ross stürzte, aber Viggo beharrte darauf, dass sein Bruder klüger war, als sie glaubte.

„Was nichts an der Tatsache ändert, dass er es verdient hätte", murmelte sie in sich hinein, während sie mit routinierten Bewegungen jedes noch so kleine Staubkorn von Runnas Schuppen wusch. Der Wechselflügler genoss die sanfte Massage mit Lappen und Bürste, für ihre Reiterin war es dagegen reine Vorsichtsmaßnahme. Wenn der Drache sich nicht unsichtbar machen konnte, wäre das ihr Todesurteil, denn ein sichtbarer Wechselflügler war so leicht angreifbar, dass seine Überlebenschancen gegen eine Horde schießwütiger Drachenjäger wohl noch unter null lagen.

Lova schob diesen Gedanken so gut wie nur möglich beiseite und wusch den Lappen in dem mittlerweile trüben Wasser ihres Eimers aus. „Es ist wirklich unglaublich, wie viel Dreck an einem Drachen wie dir hängenbleibt", sagte sie belustigt und klopfte Runna sanft gegen die Flanke. „Ich bin gleich zurück, Kleine. Mach keinen Unsinn." Der Wechselflügler stieß ihr beleidigt die Schnauze gegen die Schulter, als könnte sie es kaum fassen, wie ihre Reiterin auch nur auf den Gedanken kommen konnte. Lova griff nach dem Wassereimer und bedachte Runna dann mit einem zweifelnden Blick. „Du weißt ganz genau, was ich meine. Ich erinnere dich nur an dein erstes Treffen mit Viggo, Süße." Der Drache gluckste nur amüsiert bei der Erinnerung.

„Du könntest ruhig ein bisschen schlechtes Gewissen zeigen", meinte Lova, kraulte ihrem Drachen aber dennoch liebevoll mit der freien Hand unter dem Kinn. Dementsprechend wenig schuldbewusst ließ Runna sich wieder in den Staub fallen, während sie die Streicheleinheiten genoss. Lova dagegen hätte sich am liebsten die Hand gegen die Stirn geschlagen. „Du bist wirklich schrecklich, weißt du das?", fragte sie entrüstet, obwohl sich ein kleines Lächeln auf ihre Lippen schlich. Wenigstens Runna konnte noch glücklich und frei sein.

Ebenjene sah ihre Reiterin aus großen, grünen Augen an und imitierte ihr Lächeln, als ob der Drache sie aufmuntern wollte. Bei Runnas beeindruckendem Gebiss sah es eher aus, als ob sie ihr drohen wollte, aber Lova wusste den Versuch dennoch zu schätzen und lehnte ihre Stirn für einen Moment gegen die ihres Drachen. Ruhe stieg in ihr hoch, kaum dass ihre Haut Runnas Schuppen berührte. Lova erlaubte es sich, einen tiefen Atemzug nach dem anderen zu nehmen, bis die Gedanken an das Kommende ein wenig weiter in die Ferne rückten.

Denn mittlerweile war sie sich sicher, dass es keinen Weg mehr gab, um Rykers Verrat zu entkommen. Wie richtig sie damit lag, sollte sie bald herausfinden.

~

Leise vor sich hin summend und mit zwei frisch gefüllten Wassereimern in den Händen kehrte Lova zurück zur Trainingslichtung. „Ich bin wieder zurück", rief sie, um Runna über ihre Rückkehr zu unterrichten. Kein freundliches Grollen oder auch nur das leiseste Schnauben, um sie willkommen zu heißen.

„Runna?", fragte Lova, lauter diesmal. Nur das Rascheln der Blätter über ihren Köpfen antwortete ihr. „Wenn das ein Scherz sein soll, finde ich ihn kein bisschen lustig." Obwohl sie sich um einen fordernden Tonfall bemühte, stieg bereits Misstrauen in ihr hoch. Ja, ihr Wechselflügler war jung und viel zu verspielt, aber das hier... das sah ihr nicht ähnlich.

So leise wie möglich stellte die Wikingerin die Eimer ab und zog das Schwert von ihrem Gürtel. Der lederne Griff war beruhigend weich unter ihren Händen, aber sie wusste, dass die Schneide so scharf war, dass sie ein einzelnes Haar spalten könnte. Lova hatte eine ziemliche Summe Gold hingegeben, um ihre Waffe bei dem Schmied der Basis schärfen zu lassen, als die hasserfüllten Blicke der Jäger häufiger wurden.

Sie lief weiter zu der Stelle, wo Wassertropfen und nasse Stellen im Staub noch auf ihre Säuberungsaktion hinwiesen. Doch als sie den Boden genauer untersuchte, wurde ihr bewusst, was nichts stimmte. Kalte Schauder liefen ihr über den Rücken, während zugleich Wut in ihr hochstieg. Die nassen Stellen waren kein Wasser. Es war Blut.

Lova fuhr mit den Fingern durch die noch warme Flüssigkeit. Sie war dunkler als menschliches Blut, mit einem leichten Lilastich, wie es für Drachen üblich war. Als sie prüfend daran roch, nahm sie nicht nur den typischen Eisengestank wahr, sondern auch den stechenden Geruch von Angstschweiß, der sich in ihren Kopf einbrannte. Panik übernahm die Kontrolle über ihren Körper, als sie sich aufrichtete und nach irgendeinem Lebenszeichen ihres Drachen suchte. Erst dann bemerkte sie die Schleif- und Fußspuren, die von ihr weg und zurück zu den Zelten der Drachenjäger führten. Lova steckte ihr Schwert zurück in die Scheide und rannte.


Auf der niedergetrampelten Wiese vor dem Essenszelt kam sie zum abrupt zum Stehen. Ein halbes Dutzend Jäger empfing sie, angeführt von Ryker. Und vor ihnen, liegen gelassen wie ein Stück verrottendes Fleisch, lag Runna.

Pfeile steckten in ihrem Körper, mehr, als Lova zählen konnte. Ihr Drache atmete noch, aber ihre Lider flackerten und feine Rinnsale von tiefviolettem Blut rannen ihren Rücken herab. Die Schuppen des Wechselflüglers wurden mal dunkler, mal heller, als ob Runna verzweifelt versuchen würde, sich unsichtbar zu machen. In der Luft lag der Gestank von gerinnendem Blut und Drachenwurz. Als die Wikingerin den Blick hob, um Ryker in die Augen zu sehen, wurde sie von seinem kalten Lachen begrüßt. Er machte sich nicht einmal die Mühe, seine Schwerter zu ziehen, als ob er sich sicher wäre, dass sie bei dem Anblick ihres sterbenden Drachens zerbrechen würde wie eine Figur aus Porzellan.

„Louvisa Vernell", begrüßte er sie und an seinem Tonfall hörte sie schon, dass er sich seines Sieges sicher war. „Ryker Grimborn", gab sie zurück, zog ihr Schwert und spuckte verächtlich vor ihm aus. Dieses Mal wurde er nicht wütend. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass sie ihm keine Zeit dafür ließ.

Mit einem Wutschrei stürzte sie sich auf ihn und stach mit dem Schwert auf jedes noch so kleine Stück seines Körpers ein, ehe er sie an ihren Haaren zu fassen bekam und von sich wegschleuderte. Lova landete hart auf dem kalten Boden und blinzelte benommen, um ihre Orientierung zurückzuerlangen. Währenddessen verriet ihr ein metallisches Klirren, dass Ryker seine Schwerter gezogen hatte. „Ich erledige das allein", befahl er seinen Männern knapp. „Sie wird keine große Herausforderung sein." Lova lauschte jedem seiner Worte aufmerksam, suchte nach der kleinsten Spur von Schmerz, die ihr verraten würde, dass sie eine empfindliche Stelle getroffen hatte. Sie blieb aus, aber die Wikingerin verkniff sich ihre Verärgerung darüber und ließ ihren Kopf auf der Brust liegen, um den Anschein zu bewahren, dass er sie schon beinahe ausgeschaltet hatte. Nur, wenn Ryker sich überschätzte, hätte sie eine Chance gegen ihn.

So regungslos wie möglich verharrte Lova, während seine Schritte langsam näher kamen. Sein leises Keuchen verriet ihr, dass er sein Schwert hob, aber sie reagierte erst als sie hörte, wie es auf sie zu sauste. Das leise Wispern der Luft war ihr Hinweis, ihre eigene Waffe zu heben und so zu parieren, während Ryker sich schon als Sieger wähnte. Dementsprechend gering war auch seine Aufmerksamkeit, die kaum auf ihr lag, bis sie ihm das erste Schwert aus der Hand schleuderte.

Seine Augen weiteten sich, als es mit einem Klirren auf dem Gras aufkam, zu weit weg, um danach zu greifen. „Sicher, dass du deine Handlanger nicht doch noch rufen willst?", fragte Lova. Sie legte es darauf an, ihn zu reizen, was bei Ryker so einfach war, dass er das leise Zittern in ihrer Stimme nicht bemerkte. „Ich brauche keine Hilfe gegen eine dreckige Schlampe wie dich", knurrte er und zog sein zweites Schwert. Sie hob nur unbeeindruckt die Brauen. „Drei Jahre, und du hast keine bessere Beleidigung auf Lager?", fragte sie höhnisch und machte sich bereit, seinen nächsten Angriff zu entgegen. Dieser kam schneller als gedacht und so heftig, dass er sie beinahe von den Füßen holte. Nur einen Hauch weniger Körperspannung und Lova wäre wehrlos im Gras gelandet. So konnte sie notdürftig parieren und sich dann unter seinem Schwert wegducken, um sich aus der Gefahrenzone zu bringen.


Natürlich war sie nicht lange vor seinen Schwertern sicher. Wenige Sekunden später klirrte Metall wieder auf Metall und Lova stemmte all ihre Körperkraft gegen den Mann vor ihr. Sie spürte, wie er sie weiter nach hinten drängte und ihre Füße im Gras kaum Halt fanden. Schweißperlen liefen ihre Stirn herab, aber sie biss die Zähne zusammen und riss ihren Schwertarm in die Höhe, während sie mit dem anderen ihren verlagerten Schwerpunkt ausbalancierte. Ryker keuchte überrascht, als sie ihn so aus dem Gleichgewicht brachte und nach hinten taumeln ließ, während Lova in ihrer dringend benötigten Atempause Luft in ihre an ihre Grenzen gebrachten Lungen sog.

„Du hast mit meinem Bruder trainiert, oder?", stieß Ryker hasserfüllt hervor. „Auch wenn er lieber mit seinen Figürchen gespielt hat, als wirklich kämpfen zu lernen, wie es sich gehört, mit dem Schwert konnte er immer umgehen." Lova lachte kalt auf. „Vielleicht hätten dir diese Figürchen, wie du sie nennst, auch mal gut getan", spie sie ihm förmlich entgegen, während sie sich die schmerzende rechte Schulter rieb. Das ungewohnte Gewicht des Schwertes in ihrer Hand hinterließ auch nach einem kurzen Gefecht schon Spuren, aber sie würde lieber sterben, als ihn das bemerken zu lassen. Nicht ausgerechnet jetzt, wo er begann, sie ernstzunehmen und sie die besten Chancen hatte, ihm das arrogante Grinsen für immer aus der abartigen Visage zu wischen für das, was er ihrem geliebten Drachen angetan hatte.

„Du wagst es, mich zu beleidigen?", fragte er sie mit kaum verstecktem Zorn in den Augen. Wieder wurde Lova bewusst, wie sehr sie sich von denen jüngeren Bruders unterschieden. Kälte lag darin und Verbitterung, nicht dieser warme Ausdruck wie in Viggos tiefbraunen Augen. Obwohl sie sich die gleiche Farbe teilten, hätten die beiden Brüder mit ihnen kaum unterschiedlichere Gefühle in Lova auslösen können. „Ich wage nicht nur das", entgegnete sie, ehe ihre Gedanken in Gefilde segeln würden, die zu erkunden sie noch lange nicht bereit war. Was zwischen Viggo und ihr stand, musste warten.

Mit neu gefasstem Mut stürzte Lova sich auf Ryker, duckte sich unter seiner Parade weg und landete einen Treffer an seiner Schulter, ehe sie sich mit zwei eiligen Schritten rückwärts aus seiner Reichweite brachte. Blut tropfte von der frisch zugefügten Wunde auf das tiefgrüne Gras und er starrte ungläubig auf seine geschundene Haut, während sie ihr Schwert wieder hob, bereit zu einem weiteren Angriff. „Du miese...", knurrte Ryker und presste seine freie Hand auf die Verletzung, aus welcher noch immer Blut strömte. Sie sah, dass seine ohnehin schon blasse Haut eine Spur heller war als sonst und sein Gesicht verzerrt war von einer irren Grimasse aus Wut und Schmerz.
Ihr Blick huschte panisch zu den Drachenjägern. Was, wenn diese entschieden, dass es Zeit war, für ihren neuen Anführer einzustehen und sich auf sie zu stürzen?

Dieser Seitenblick war ihr großer Fehler. Es waren nicht die Jäger, um die sie sich hätte sorgen müssen, denn diese standen um die schwer verletzte Runna herum und feuerten ihren Gegner an. Lovas Blick traf die nur halb geöffneten, leuchtend grünen Augen ihres Drachens. Selbst aus dieser Entfernung erkannte sie den Schmerz darin und auch die kaum verborgene Angst. Ohne es zu wissen, spürte die Wikingerin, dass der Wechselflügler instinktiv wusste, dass sie beide sterben würden, wenn ihre Reiterin nicht durch irgendeinen absurden Zufall die Oberhand gewann. Etwas in ihrem Herzen brach in dem Moment, in welchem Runna ihrem Schicksal ergeben die Augen schloss und dem entgegensah, was die Götter für ihre Zukunft bereit hielten.

Wenn Lova nicht all ihre Aufmerksamkeit auf ihren langsam sterbenden Drachen gelegt hätte, wenn sie keine Schwäche zugelassen und ohne jede Reue weiter gegen Ryker gekämpft hätte, hätte sie seinen nächsten, vernichtenden Schlag vielleicht auch verhindern können.

Der Schwerthieb traf mit tödlicher Genauigkeit.

Er schlug ihr das Schwert aus den Händen, mit einem endgültigen Klirren landete es im Gras, während Lova unter der Wucht seines Schlages taumelte. Stechender Schmerz fuhr durch ihren verstauchten Knöchel, als sie auf ihrem verletzten Bein auftrat, um sich abzufedern und eine Bruchlandung zu verhindern. Den Schmerzensschrei, der sich einen Weg über ihre Lippen bahnen wollte, zwang sie mit einem hartnäckigen Zähneknirschen zurück.

Sie kämpfte um Fassung, versprach sich, jeden Moment mit zu Fäusten geballten Händen auf den Mann vor sich loszugehen, ihn ihretwegen auch ohne eine Waffe zu Boden zu ringen und ihm den Hals umzudrehen für das, war er Runna angetan hatte. Ihr war bewusst, dass all das nur hoffnungsvolle Illusionen waren und sie keine Chance gegen den zweiten Anführer der Drachenjäger hatte, aber die alles verzehrende Rachsucht ließ sie blind gegenüber der offensichtlichen Wahrheit werden. Lova erwischte sich dabei, wie sie jede Sekunde einzeln abzählte und sich wieder und wieder versprach, dass die nächste Sekunde die letzte ihrer dringend benötigten Pause sein würde. Einen Moment nur, sagte sie sich selbst, während ihr Knöchel schmerzte, als hätte sie ihn in heiße Glut getaucht. Nur einen einzigen.

Doch Ryker wartete keinen Moment ab, packte sie am Kragen ihres Umhangs und legte ihr das Schwert an die Kehle. „Ich werde dich das nur ein einziges Mal fragen", spie er ihr förmlich entgegen und presste sie gegen den Baum in ihrem Rücken. Lova spürte, wie die rauen Strukturen der Eichenrinde durch ihre Kleidung hindurch tiefe Abdrücke in ihrer Haut hinterließen, doch sie war gefangen zwischen Rykers Schwert, seinem massigen Körper und seiner Hand, die noch immer ihren Umhang gepackt hielt. „Wo. Ist. Mein. Bruder.?", fragte Ryker sie, stieß ihr jede Silbe einzeln entgegen, als ob er sie damit erdolchen wollte. Sein Gesicht war dem ihren so nahe, dass sie jede noch so kleine Unebenheit seiner Haut, die feinen Narben an seinem Kinn und die Kälte in seinen Augen sehen konnte. Zu letzterem war die Wikingerin schon vorher in der Lage gewesen, doch erst jetzt wurde ihr wirklich voll und ganz bewusst, wozu diese hasserfüllten Iriden in der Lage wären, wenn sie die falsche Antwort gab.

Sie spürte die scharfen Zacken an seinem Schwert an der empfindlichen Haut ihres Halses. Ryker würde sicher nicht zögern, ihr damit genüsslich den Kopf von den Schultern zu trennen, wenn sie ihm nicht die Informationen liefern konnte, die er haben wollte. Doch Lova hatte ebenjene nicht. Sie wusste nicht im Geringsten, wo Viggo sich befand.

„Ich weiß es nicht", drang es über ihre Lippen, ehe sie sich bremsen konnte. „Ich habe heute nicht mit ihm gesprochen." Rykers Hand wanderte von ihrem Umhang zu ihrem Hals. Quälend langsam schloss seine Hand sich um ihre Kehle, vernarbt und kalt wie der Tod spürte sie seine Haut an ihrer. Sie hörte sein zorniges Grollen, sah, wie seine Augen sich zu schmalen Schlitzen verengten, ehe er zudrückte und ihr die Atemwege verschloss.

„Lüg mich nicht an", gab er zurück, während Lova in seinem festen Griff zappelte und verzweifelt nach Luft rang. „Sein Zelt ist leer, das Drachenauge ist fort. Er muss dir gesagt haben, wohin er verschwunden ist." Sie schüttelte hilflos den Kopf, obwohl seine Finger dabei sicher blaue Male an ihrem Hals hinterließen. „Er... hat kein Wort gesagt", brachte sie krächzend hervor.

Lova wusste nur, dass er den immer näher rückenden Verrat besorgt beobachtet hatte. In den letzten Tagen waren die dunklen Ringe unter seinen Augen tiefer und ihre gemeinsame Zeit weniger geworden. Immer öfter hatte sie ihn mit seinen Männern sprechen sehen, in dem verzweifelten Versuch, sie doch noch zu bekehren, ehe er – ohne ein weiteres Wort an sie zu richten – in sein Zelt zurückkehrte. Keine ihrer gemeinsam während des Schwerttrainings ersonnenen Strategien hatte auch nur den Hauch einer Wirkung gezeigt, für sie beide war ein Aufenthalt zwischen den Jägern immer gefährlicher geworden. Und heute, an dem Tag der Eskalation, musste Viggo die Chance genutzt haben und geflohen sein, ohne ihr Bescheid zu sagen.

Lova ignorierte den Stich in ihrem Herzen, den diese Möglichkeit hinterließ und sah Ryker so entschlossen wie möglich entgegen, obwohl die Luft in ihrer Lunge sekündlich weniger wurde und sie Schwierigkeiten hatte, sich auf sein Gesicht zu fokussieren. Ihre Lider flatterten, doch sie kämpfte gegen den Schwindel und die vor ihren Augen tanzenden, weißen Flecken an. „Ich weiß es nicht", wiederholte sie. Ihre Stimme war so leise, dass Ryker den Kopf zu ihr neigen musste, um ihre Worte zu vernehmen.

„Weißt du, ob er geflohen ist?", fragte der Mann drängend und der Druck der Baumrinde an ihrem Rücken verstärkte sich, als er sie mit all der ihm gegebenen Kraft dagegen drängte. Aus Lovas geteilten Lippen drang nur ein ersticktes Keuchen. Sie spürte, wie ihre Beine ihr den Dienst versagten und unter ihr nachgaben, einzig Rykers fester Griff um ihre Kehle hielt sie in ihrer stehenden Position. Sie brachte dennoch ein schwaches Kopfschütteln zustande, während sie gegen das Beben, Zucken und nach Luft schnappen ihres an seine Grenzen gebrachten Körpers ankämpfte. Eine falsche Bewegung, und Ryker könnte ihr ohne große Anstrengungen das Genick brechen. Doch auch in dieser Position würde sie nicht mehr lange überleben können.

Obwohl alles in ihr dagegen rebellierte, sah sie flehend zu dem Mann vor ihr. „Bitte", stieß Lova mit dem letzten Atem in ihrer Lunge hervor. Statt weißen Flecken drängte sich nun ein ruhiges Schwarz in ihr Blickfeld, welches ihr verlockenden Frieden versprach.

Während ihre Sicht verschwamm, spürte sie zuerst einen harten Schlag an ihrer Wange und ein wütendes Grollen, dann ließ der Druck um ihren Hals nach und die Wikingerin sank nach Luft ringend gegen den Stamm der Eiche. Ihre Beine zitterten unkontrolliert und sie hatte das grauenhafte Gefühl, dass kein bisschen des dringend benötigten Sauerstoffs durch ihren noch immer schmerzenden Hals gelangte. Ob es Phantomschmerzen waren, konnte Lova nicht sagen, doch das Gefühl von Rykers Händen an ihrer Kehle ließ nicht nach, egal wie oft ihre Finger prüfend über ihren Hals fuhren und sich versicherten, dass er von ihr abgelassen hatte. Mit rasselnden, schweren Atemzügen sog sie Quäntchen für Quäntchen Luft in ihre Lunge, während ihre Sicht mit jeder Sekunde klarer wurde. Auch das Gefühl der nicht enden wollenden Müdigkeit in ihrem Kopf verschwand, während langsam aber sicher wieder genug Sauerstoff in ihrem Körper steckte, um sich mit einem erstickten Keuchen wieder aufzurichten.

„Ich..." Sie stockte, ein krächzendes Husten drang über ihre aufgesprungenen Lippen. „Ich weiß nichts über Viggos Aufenthaltsort", wiederholte Lova, obwohl jedes Wort ein Kampf für ihren Hals und ihre Lungen war. Rykers abschätziger Blick wanderte von ihrer leichenblassen Haut zu den roten und blauen Malen seiner Hände um ihre Kehle herum. Ohne, dass die Wikingerin es bemerkt hatte, waren auch Tränen der Verzweiflung über ihre Wangen geflossen, während der Mann sie an die Schwelle des Todes gebracht hatte. Sie brachte es nicht einmal über sich, die Hände zu heben, um die verräterischen Tropfen wegzuwischen.

„Ich glaube dir", gab Ryker dann widerwillig zu und sie konnte ihm nur zu deutlich ansehen, dass es ihm lieber gewesen wäre, wenn er eine Lüge in ihren Worten erkannt hatte. Denn eine solche hätte er wenigstens bestrafen können. „Mein Bruder hatte schon immer ein Händchen für Geheimniskrämerei."

Lova verkniff sich ein zustimmendes Schnauben. Offensichtlich war sie es Viggo nicht einmal wert gewesen, sie über seine Flucht und die damit einhergehende Revolte zu informieren, damit sie sich auf Runnas Rücken schwingen und die Basis der Jäger unbeschadet verlassen konnte. Jetzt saß die Wikingerin unbewaffnet und hilflos im kalten Gras, mit Würgemalen an ihrem Hals und einem sterbenden Wechselflügler einige Meter von ihr entfernt, der ihr ganz sicher nicht mehr helfen konnte.

Von all der Wut, die in Lova hochstieg, hätte sie Viggo vermutlich mehr als nur ein einziges Mal im Schwertkampf besiegen können. Bei den Göttern, er konnte von Glück reden, wenn sie ihn am Leben ließ, falls sie ihn jemals wiederfand und...

„Hat Viggo jemals mit dir über irgendeine Art von Verstecken gesprochen?", fragte Ryker sie fordernd und brachte damit all ihre zurechtgelegten Rachepläne durcheinander. War es möglich, dass Viggo eine Flucht genau wie ihr nicht gelungen war und er noch immer verborgen auf der Insel ausharrte? Wenn dem so war, schwebten sie beide in Lebensgefahr, denn wenn man ihn fand, würde Ryker wohl keine Gnade mit seinem Bruder haben.

Lova schüttelte eilig den Kopf. „Nein", antwortete sie, so deutlich wie mit schmerzendem Hals und rasselndem Atem eben möglich. „Wir haben nie über so etwas gesprochen." Er lachte, doch es klang verbittert und hämisch zugleich. „Seine Geheimniskrämerei wird ihm zum Verhängnis werden", gab Ryker zurück und sein Tonfall war eine abstruse Mischung aus Schadenfreude und Frustration. Ihm wäre es wohl lieber gewesen, wenn er Viggo auf einfachstem Wege einen Kopf kürzer hätte machen können, doch hinter seinen wieder deutlich aufgehellten Zügen konnte Lova einen Plan heranreifen sehen.

„Bringt die Frau ins Essenszelt und den Drachen unter Deck. Gebt ihm die kleinstmögliche Portion des Gegenmittels, gerade genug, um ihn am Leben zu halten", befahl Ryker seinen Männern und wandte sich dann an Lova, deren erleichterter Seufzer über die mögliche Rettung ihres Drachens bei dem Funkeln in seinen Augen sofort im Keim erstickte. „Wir werden sehen, wie viel du meinem Bruder tatsächlich bedeutest. Wenn du dich benimmst und anständig mitspielst, verabreichen wir dem Wechselflügler genügend Gegengift, um die Wirkung der Drachenwurzpfeile auf ein Minimum zu reduzieren und ihr die Heilung zu erlauben", erklärte er ihr und sie nickte bei jedem seiner Worte. Wenn Runna ihretwegen ihr Leben lassen musste, nur weil sie ihrem idiotischen Plan gefolgt und auf die Insel zurückgekehrt war, würde sie sich das niemals verzeihen.

„Und wenn nicht?", fragte Lova dennoch, obwohl ihr gesenkter Blick und ihre Haltung nicht im Geringsten auf eine Rebellion hindeuteten. Ryker schien denselben Gedanken zu fassen, denn er grinste breit zu ihr herunter. „Glaub mir, das willst du nicht herausfinden."

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