Kapitel 45

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Der anbrechende Morgen weckte Lova mit goldenem Sonnenlicht, dem fröhlichen Gezwitscher der Vögel und dem Geruch von Wald und Meer, der durch die geöffneten Fenster mit der leichten Brise ins Innere der Hütte wehte. Gähnend schlug sie die Augen auf und streckte sich, um die Trägheit des Schlafes von sich abzuschütteln, ehe sie sich das wirre Haar aus dem Gesicht strich und die Beine aus dem Bett schwang. Verschlafen blieb sie auf der Bettkante sitzen und rieb sich den Schlaf aus den Augen, nur um wenige Sekunden danach erneut gegen die erbarmungslose Helligkeit des Tages anzukämpfen. Mit einem unwilligen Brummen erhob sich die Wikingerin und fröstelte in der ungewohnten Kühle. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, um die Kälte und ihre Gänsehaut zu vertreiben, während sie missmutig ihren Seesack unter dem Bett hervorzog und ihr Hemd herausholte. Es war noch immer feucht und klamm, sodass die Wikingerin es mit einem Augenverdrehen auf Viggos Stuhllehne platzierte und sich stattdessen nach einer Alternative umsah. Der Overall der Beschützer kam ihr in den Sinn, doch wenn sie ehrlich war, hatte dieser von Anfang an einen seltsamen Eindruck auf sie gemacht – schwarze Kleidung aus einer Art Leder, Kapuze und Maske? Näher hätte sie einem Verbrecher nicht kommen können.

Mit einem entnervten Seufzen zupfte sie ihr Unterhemd zurecht und sah sich suchend in der Hütte um, bis ihr Blick auf Viggo fiel. Schon gestern war ihr aufgefallen, dass seine Augenringe noch dunkler und tiefer geworden waren als in der Zeit von Rykers Rebellion, seine Haut war so blass, dass sie der einer Leiche ähnelte. Man musste kein Genie sein, um zu erkennen, dass er kaum geschlafen hatte, seit er in Krogans Dienst stand. Auch das Bett war bisher von ihm unbenutzt geblieben, was den Wäschehaufen neben dem Waffenschrank erklärte. Lova hatte Viggo gestern nur mit Mühe überreden können, sich etwas Ruhe zu genehmigen, und sie konnte nicht leugnen, dass sie sich da bereits um ihn gesorgt hatte. Es war kein Wunder, dass er nun tief und fest schlief.

„Dummkopf", tadelte sie ihn leise. „Du bist ein Dummkopf." Obwohl ihre Worte hart erscheinen mochten, schlich sich dennoch eine gewisse Wärme hinein, die sich auch in ihren Augen widerspiegelte. Viggo sah friedlich aus, und so hatte sie ihn bisher nur auf den Nördlichen Marktinseln erlebt. Sein Anblick rief Erinnerungen an diese viel zu kurze Zeit wach, die nahezu durchgehend von guten Erlebnissen geprägt war. Nirgends hatte Lova sich jemals so willkommen gefühlt wie in Adajas Wirtshaus, wo Nehemias Gelächter und ihr stetes Geplauder jede Stille füllten und selbst den dunkelsten Gedanken ein wenig Licht einhauchten. Sie vermisste diesen Ort, mehr als sie es sich bisher eingestanden hatte.

Lova schüttelte bestimmt den Kopf, um diese Gedanken loszuwerden. Es brachte nichts, der Illusion einer Zukunft nachzutrauern, während sie selbst kaum weiter vorausplanen konnte als bis zum nächsten Morgen. Sie könnte tot sein, ehe die Sonne erneut aufging. Warum sollte sie sich Hoffnungen machen, sich Träume aufbauen für ein Leben, welches ihr möglicherweise entrissen werden würde, ehe sie auch nur die Chance gehabt hätte, es zu beginnen.

„Ich schätze, ich bin eine ebenso große Idiotin wie du", murmelte Lova und ließ sich neben Viggo auf das Bett sinken. „Haben wir ja etwas gemeinsam." Sie merkte kaum, wie sie sich in seinem Anblick verlor, ein versonnenes Lächeln auf den Lippen.

Trotz der Narben, die das Gesicht des Drachenjägers prägten, schien Viggo ohne die angespannte Haltung und die besorgte Miene deutlich friedlicher. Sein Haar war wirr vom Schlaf, und statt seiner üblichen Kleidung, die seine Autorität als Anführer nur allzu gut zu vermitteln verstand, war er bis zur Hüfte in die dünnen Laken seiner Bettdecke gehüllt. Es mochte absurd klingen, doch Lova hatte ihn in der gesamten Zeitspanne ihrer Bekanntschaft kein einziges Mal schlafend gesehen. Soweit sie sich erinnern konnte, war er meist bereits im Morgengrauen auf den Beinen gewesen, nachdem er erst spät am Abend – zu spät für Lova – ins Bett gegangen war. Wie es schien, hatte sein Körper diese Erholung gut gebrauchen können.

ClematisWhere stories live. Discover now