Kapitel 8

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Sie konnte nicht schwimmen.

Nein, das war nicht ganz richtig; sie konnte schwimmen. Sie war auf einer Insel groß geworden, natürlich kannte sie die Bewegungen und wusste, wie sie ihren Kopf über Wasser halten und sich fortbewegen musste. Aber da war etwas unter ihr. Und dieses Etwas hielt sie fest.

Lova gab ihr verzweifeltes Um-sich-schlagen auf und riskierte einen Blick nach unten. Blasen stiegen aus ihrem Mund an die Oberfläche, als ihr die Kinnlade herunterklappte. Unter ihr war ein Wesen, wie sie es noch nie gesehen hatte. Es musste ein Drache sein, denn er besaß große, mit Schuppen bedeckte Flügel. Seine Beine waren ungewöhnlich kurz, die Krallen weder sonderlich lang, noch scharf. Sein schmaler Hals war dafür umso länger, dieses Tier musste mindestens das fünffache ihrer Größe erreichen. Und er hatte die kleinen, spitzen Zähne im Leder ihres Stiefels vergraben. Das war es auch, was sie festhielt. Hatte Viggo das gewusst? War das der Drache, den er und sein Jäger erwähnt hatten? Falls ja, dann gab es hier nicht nur einen davon und er musste verdammt gefährlich sein.

Lova schüttelte den Kopf, um die Gedanken loszuwerden. Erst einmal musste sie an Land kommen, dann konnte sie das hier weiter überdenken.

In einem Anflug von idiotischen Heldenmut streckte sie die Hand nach dem Drachen aus, der sie langsam und zielsicher nach unten zog. Sie spürte schon den Druck in ihren Ohren, nicht mehr weit und es würde gefährlich für sie werden, besonders bei der Geschwindigkeit... Ihn zu zähmen war neben einem direkten Angriff ihre einzige Chance, und sie hatte gerade leider keine Waffen zur Hand. Das Wesen sah interessiert zu ihr hoch und Lova spürte eine Art Saugen an ihrem Fuß. Wasser strömte an ihr vorbei ins Maul des Drachen und sie wurde Zeuge, wie sein Bauch sich aufblähte, um all die Flüssigkeit aufzunehmen. Sie blinzelte, einmal aus Unglauben, Verwirrung und um das brennende Salzwasser aus ihren Augen zu vertreiben.

Dann geschahen zu viele Dinge gleichzeitig; zuallererst ließ der Drache Lovas Stiefel los, um sein Maul öffnen zu können. Ihre erste Reaktion war es, sofort nach oben zu schwimmen, um endlich wieder Atem zu holen, doch das war genau das, womit das Wesen rechnete. Das erkannte sie in dem Moment, in welchem der Körper des Drachen langsam wieder abschwoll und siedend heißes Wasser im Bruchteil einer Sekunde zu ihr katapultiert wurde. Einzig ihre Reflexe retteten sie davor, qualvoll verbrüht zu werden, sie konnte sich gerade noch mit einer unbeholfenen Rolle aus der Gefahrenzone bringen. Hitze umgab sie, sie spürte nahezu sofort einen brennenden Schmerz an ihrem Arm. Gleichzeitig fühlte die Stelle sich seltsam taub an, was eindeutig auf eine Verbrühung hinwies.

Götter, dieser Drache war gefährlich... Lova verschwendete keine Zeit damit, auf eine zweite Vorführung zu warten. Sie machte, dass sie davon kam, während der Drache mit einem schmatzenden Geräusch neues Wasser einsog. Noch einem solchen Treffer würde sie nicht so leicht ausweichen können, also sollte sie dann lieber weit genug weg sein.

Keuchend und hustend schleppte Lova sich an den Strand und ließ sich schwer atmend in den weichen, von der Sonne gewärmten Sand fallen. Jetzt wusste sie auch, warum Viggo sich keine Sorgen machte, dass sie sich einfach ein Floß baute und ihm auf einfachstem Wege hinterhersegelte. Dieses Wesen würde sie bei lebendigem Leibe kochen, wenn sie sich erneut ins Wasser wagte, soviel war sicher.

Wo sie gerade bei kochen war... Lova nahm einen tiefen Atemzug gegen den brennenden Schmerz an ihrem linken Arm, ehe sie den Mut hatte, sich die Wunde anzusehen. Der Heißwasser-Stoß des Drachen hatte sie glücklicherweise nur gestreift, sonst hätte sie jetzt ein ziemliches Problem. Es war schon schlimm genug, dass ihr kompletter Oberarm gerötet war und kleine Brandblasen aufwies. Außerdem fühlte ihr Arm sich seltsam taub an, was nicht wirklich zu den starken Schmerzen passte, die sie nebenbei zusätzlich hatte. „Denk nach, Lova, denk nach", murmelte sie, an sich selbst gewandt. Wie hatte Viggo ihre Wunde damals behandelt? Ihre Erinnerungen waren verschwommen, von Schmerzen überdeckt. Sie war damals wie in Trance gewesen, schließlich war das Brandzeichen deutlich schlimmer gewesen. Dennoch, die Wikingerin hatte für ihr Leben genug von Verbrennungen. Kühlen, dachte sie dann, kühlen wird schon helfen.

Also stolperte sie zurück ans Meer, schöpfte Salzwasser heraus und ließ es über die Wunde fließen. Es brannte schlimmer als die Wunde selbst, aber Lova biss die Zähne zusammen und machte weiter, bis der Schmerz abklang. Götter, hoffentlich war es das wert...

Erst jetzt fand sie die Zeit, sich umzusehen. Am Horizont konnte sie noch das Schiff der Drachenjäger erkennen, kaum größer als ein Kinderspielzeug aus ihrer Perspektive. Um sie herum gab es keinerlei andere Inseln, geschweige denn Festland. Sie musste mit dem klarkommen, dass sie hier hatte. Leider war das auch nicht sonderlich viel; ein kleines Wäldchen und ein Bachlauf, mehr konnte sie vom Strand aus nicht sehen. Vermutlich könnte sie sich mit Beeren, Pilzen und Wild über Wasser halten, wenn Fische wegfielen. Sie würde es nicht riskieren, dem Drachen von vorhin die Beute wegzuschnappen, denn Lova wollte nicht herausfinden, ob er mit seinen kleinen, aber kräftigen Beinen auch Land betreten konnte. Wenn sie es allerdings nicht schaffte, Fallen oder Waffen zu bauen, würde ihr kaum etwas übrig bleiben, um am Leben zu bleiben.

„Erstmal die Insel erkunden", erinnerte sie sich selbst. Danach könnte sie immer noch in Panik verfallen. Viggo hatte sie sicher nicht hier ausgesetzt, damit sie verhungerte. Wenn er sie tot sehen wollte, hätte er das auch einfacher haben können. Es musste einen Weg geben. Ganz sicher gab es einen.

~

Im Wald war es angenehm kühl und still, nur das Rascheln der Blätter, der Gesang der Vögel und das leise Plätschern des Baches waren zu hören. Keine Anzeichen anderer Menschen oder Drachen, was Lova als gutes Zeichen deutete. Während sie sich ihren Weg durchs Dickicht bahnte, sah sie außerdem hin und wieder dunkle, reife Beeren zwischen den Büschen aufblitzen. Wenn sie genauer hinsah, erkannte sie hauptsächlich wilde Heidelbeeren und einige Brombeersträucher. Allein damit würde sie nicht überleben können, aber es war ein Anfang. Nichts schwächte die Moral eines Menschen mehr als Hunger, und eine geschwächte Moral konnte sie gerade überhaupt nicht gebrauchen. Auch wenn sie neben den Vögeln in den Bäumen auch ab und zu ein davonlaufendes Kaninchen oder ein paar Mäuse ausmachen konnte, wusste Lova noch nicht wirklich, wie sie diese auch fangen könnte. Sie konnte zwar mit Pfeil und Bogen umgehen, aber wie sollte sie so etwas auf einer einsamen Insel auftreiben? Sie könnte sich sicher aus einem Ast einen Speer schnitzen, aber damit konnte sie erstens nicht umgehen und zweitens wäre es nicht sonderlich effektiv. Als Waffe zur Jagd war ein Speer viel zu groß, sie würde ein Kleintier damit eher zu Matsch verarbeiten als zu etwas Essbarem.

Lova seufzte und lehnte sich an den nächstbesten Baumstamm, um einen Moment zu verschnaufen. Wenn es auf dieser Insel nicht eine riesige Überraschung gab, die sich bisher äußerst geschickt vor ihr verborgen hatte, sah es schon an Tag 1 ziemlich schlecht für sie aus. Sie stieß sich von ihrem Stamm ab und straffte die Schultern. Wenn sie jetzt schon aufgab, hätte sie sich auch gleich ins Maul des Heißwasser-Drachen stürzen können, und das hatte sie nicht. Also könnte sie auch weitergehen und sehen, was diese einsame, menschenleere Insel noch so zu bieten hatte.


Die Antwort war so unerwartet wie überraschend. Lova war anscheinend einmal quer über die kleine Insel gelaufen, denn sie war wieder am Strand gelandet. Von dieser Seite aus gesehen sah es allerdings nicht mehr so einsam aus, wie sie anfangs vermutet hatte. Verlassen traf es besser.

Sie war offenbar direkt in ein ehemaliges Lager der Drachenjäger gestolpert. Zerfetzte Zelte säumten den Strand, abgeknickte Pfeilspitzen lagen halb verborgen im Sand und, am beängstigenden von allem, von den Jägern waren nichts als abgenagte Knochen übrig geblieben. Es mussten mindestens zwanzig Skelette sein, die in den seltsamsten Positionen lagen oder saßen. Wenn Lova es nicht besser wüsste, hätte sie gesagt, dass man die toten Körper wie Puppen in den alltäglichsten Stellungen positioniert hatte. Ein paar saßen um verkohle Holzstücken herum, vermutlich ein Lagerfeuer, ein anderer schien im Sand zu dösen. Je weiter die Wikingerin allerdings in das Lager vordrang, desto ungewöhnlicher wurde es. Hier, am anderen Ende, hatten die Männer wohl endlich die Gefahr erkannt, die ihre Kameraden erledigt hatte, denn die Skelette hier waren wohl auf den Eingang zugestürzt, bis sie mit dem Gesicht voran und den Waffen in der Hand auf den Sand gefallen waren. Was immer hier geschehen war, ein gerechter Kampf war es sicher nicht gewesen.

Lova hockte sich neben einen der Männer in den Sand und drehte den Körper vorsichtig herum. Er war auf einem Stein gelandet, sein Schädel war vollständig zertrümmert. Seltsam war allerdings, dass er keine Anstalten gemacht hatte, seinen Fall abzufangen. Er musste schon tot gewesen sein, als es passierte. Und wenn Lova genauer darüber nachdachte, hätte sein Schädel gar nicht so schlimm zugerichtet sein dürfen. Haut und Fett in seinem Gesicht hätte zumindest ein wenig des Schadens verhindern müssen, aber die Knochen waren voller Risse und kleiner Splitter. Es hing auch kein Verwesungsgeruch in der Luft, der Sand war so strahlend weiß, als hätte er niemals Blut gesehen. Sie runzelte die Stirn und musterte den Strand nachdenklich. Der Stoff der Zelte war zwar völlig zerfetzt, aber ebenfalls sauber. Kein einziger Tropfen Blut, obwohl sie aus Erfahrung wusste, dass dieses sich nicht mit ein wenig Regen aus dem Stoff waschen ließ. Fast, als ob die Angreifer den Drachenjägern Haut und Fleisch in Sekundenschnelle weggeätzt hätten...

Lova erschauderte bei der Vorstellung. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass das schmerzlos von Statten gegangen war. Wenn sie sich nicht irrte, und sie hoffte sehr, dass sie sich irrte. Was wäre in der Lage, so anzugreifen? So brutal und schnell, dass die Hälfte der Jäger schon tot war, bevor sie überhaupt eine Chance zur Gegenwehr gehabt hatten... Bevor sie weiter darüber nachdachte und sich selbst mehr Angst einjagte, als unbedingt nötig war, nahm sie dem Skelett den Bogen aus der Hand. Sein Köcher war leer, aber als sie den Bogen probeweise spannte, nickte sie zufrieden. Wenn sie noch Pfeile fand, würde der Bogen fürs Erste als Waffe ausreichen. In einem der zahllosen Zelte würde sie sicher fündig werden, allerdings fühlte Lova sich nicht wohl dabei, das letzte Heim dieser zahllosen Toten zu durchwühlen. „Jetzt nicht sentimental werden", tadelte sie sich selbst und schob den Vorhang des Zeltes neben sich beiseite. „Sie sind tot, es interessiert sie sowieso nicht mehr." Mit diesen Worten schlüpfte sie in das Zelt.

Sie wurde von einem Fauchen begrüßt und wäre beinahe wieder herausgestürmt, wenn sie sich nicht die Zeit genommen hätte, sich umzusehen. Natürlich musste sie sich erst an die Dunkelheit im Inneren gewöhnen, aber schon im ersten Augenblick erkannte sie die unverkennbaren Umrisse eines Käfigs. Darin kauerte ein heruntergekommener Drache mit tiefen, kaum verheilten Wunden. Es sah aus, als hätte ihn jemand immer und immer wieder mit einem Speer gestochen, um... Was zu erreichen? Lova legte verwirrt den Kopf schief und musterte das verängstigte Tier vor sich. Es musste sich um einen Wechselflügler handeln, das verriet der schmale Kopf mit den langen, rankenähnlichen Auswüchsen an den Seiten. Er war ungewöhnlich schmal, vermutlich noch ein recht junges Tier, mit grünen Augen und von hübscher, orange-roter Farbe. Vermutlich hatten die Drachenjäger ihn hier eingefangen und seine Artgenossen hatten sich gerächt. Das erklärte zumindest die verätzten Skelette, die die Drachen von ihrem Rachefeldzug übrig gelassen hatten. Aber warum hatten sie den Käfig nicht zerstört? Wechselflüglersäure brannte sich angeblich sogar durch drachensicheres Eisen, was also hatte die Drachen davon abgehalten?

Nachdenklich strich sie über die Gitterstäbe, während der Wechselflügler sie misstrauisch beäugte. „Eisen", sagte Lova nachdenklich. „Das ist Eisen." Der Drache starrte sie an, als ob sie verrückt geworden wäre, und ließ seine beeindruckenden Zähne sehen. Erst jetzt bemerkte sie die Bissspuren an den Gittern. Er musste versucht haben, sich herauszubeißen, war aber offensichtlich gescheitert. „Ihr könnt Eisen nicht zerstören, richtig?", fragte sie und der Drache ließ ein beleidigtes Grollen hören. Lova sah sich nachdenklich um, in der Hoffnung, etwas zu finden, was die Pläne der Drachenjäger verständlicher machte. Auf dem kleinen Tisch in der Ecke des Zeltes wurde sie fündig. Dort lag ein Pergament, welches ganz eindeutig von Viggo stammte. Diese Handschrift würde sie überall erkennen. Die Worte darauf ließen nichts von seinem ausgeprägten Wortschatz erkennen, sorgten aber dafür, dass ihr sich das Ereignis um einiges besser erschloss.

Die Drachenjäger hatten den Auftrag gehabt, einige Wechselflügler zu Versteigerungszwecken zu fangen. Da die Drachen aber in großen Rudeln lebten, sollten sie einen erbeuten und den Rest mithilfe seines Geruchs und seiner Rufe in ihre Arme locken. Anscheinend hatte das nur bedingt funktioniert, sonst wäre Lova jetzt nicht von zwei Dutzend Skeletten umgeben.

„Und dich haben sie zurückgelassen...", stellte sie fest und sah zu dem Wechselflügler im Käfig. Er grollte nur und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Nur seine grünen Augen starrten sie genauso unerschrocken an wie vorher, als er sich tarnte und mit seiner Umgebung verschmolz. Lova seufzte und ging vorsichtig auf den Drachen zu. Wenn sie wollte, könnte sie den Käfig innerhalb weniger Momente öffnen. Aber Lova war nicht sonderlich scharf darauf, von der Säure des Drachen in ein Häufchen schwelender Knochen verwandelt zu werden, wenn sie ehrlich war.

„Lass uns einen Kompromiss schließen", sagte sie, an den Wechselflügler gewandt. Der verengte die Augen zu Schlitzen, sah sie aber zugleich neugierig an. „Ich lasse dich raus und du lässt mich dafür am Leben." Lova versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln, als sie mit geübten Bewegungen Haken um Haken umlegte, um die Tür des Käfigs zu öffnen. Das Konzept war ziemlich einfach, wenn man Hände hatte, aber die Familie des Kleinen hier hatte vermutlich verzweifelt vor dem Käfig gesessen und es irgendwann aufgegeben, ihn zu befreien. Als der Drache sich mühsam herausschleppte, wusste sie auch, dass seitdem schon eine lange Zeitspanne vergangen sein musste.

Der Wechselflügler war völlig abgemagert, sie konnte seine Rippen unter seinen Schuppen zählen. Seine Krallen hatte er komplett abgekaut, entweder aus Apathie oder wegen des Hungers. Er war ganz sicher nicht in der Lage, allein zu überleben und sie wusste nicht, ob sein Rudel ihn nach all der Zeit noch aufnehmen würde. Lova seufzte und wühlte ein paar verlorene Pfeile aus dem Sand. „Also gut", murmelte sie an den Drachen gewandt. „Ich besorge dir was zu essen, Kleiner." Der Wechselflügler knurrte nur, doch als sie das Zelt verließ, sah er ihr neugierig und vielleicht etwas hoffnungsvoll nach.

~

Im Wald war es angenehm kühl und still. Wie vorhin hörte sie nur die Blätter, den Bachlauf und die Vögel, eine äußerst beruhigende Abwechslung zu der Totenstille am Strand. Selbst das Meer hatte dort ehrfürchtig innegehalten, als würde es den Geist dieses Massengrabes spüren. Eine Vorstellung, die ihre flatternden Nerven nicht gerade beruhigte. Wenigstens gab es keine Hinweise auf weitere Drachen, von Wechselflüglern ganz zu schweigen. Nicht einmal Kaninchen bekam sie noch zu sehen, als hätte eine Art höhere Macht sämtliches Leben auf stumm geschaltet. Einzig die Vögel waren Lova noch geblieben, somit auch ihre einzige Chance, an etwas Essbares zu kommen.

Den Bogen hatte sie zwischen ihren Schulterblättern verhakt und die Pfeile baumelten an ihrem Gürtel, aber jetzt holte sie beides hervor. Der Bogen war von der gleichen Herstellungsart wie ihrer, vermutlich stammte er sogar aus demselben Lager, denn als sie ihn spannte, war der einzige Unterschied die Größe. Er war für die Hände eines ausgebildeten, männlichen Drachenjägers gemacht wurden, da konnte sie selbst als recht muskulöse Wikingerin nicht mithalten, aber sie würde sich schon daran gewöhnen.

Aufmerksam sah sie sich in den Baumwipfeln um, den Pfeil abschussbereit in der Sehne. Eine winzige Bewegung im Blätterdach reichte und Lova fuhr mit perfekt gespanntem Bogen herum. Am Stamm einer Buche kletterte ein Eichhörnchen hinauf, mit buschigem, roten Schwanz und das Maul voller Nahrung. Ohne einen zweiten Gedanken zielte sie und schoss es herunter. Es landete im Laub und Lova hockte sich daneben, den Bogen noch in den Händen. Den Pfeil zog sie vorsichtig aus dem Körper des Tieres und wischte das Blut an einem Haufen Blätter ab.

„Ich danke Skadi, der Göttin der Jagd, für diese Beute", sagte sie leise, während sie die Augen des Tieres schloss und es schließlich hochhob, um es zu begutachten. Für ein Eichhörnchen war es ungewöhnlich kräftig, aber es sah nicht krank aus und als Lova prüfend den Bauch abtastete, konnte sie auch nichts beunruhigendes spüren. Es würde also sicher für den Wechselflügler ausreichen. Für sich selbst pflückte Lova unterwegs hin und wieder ein paar Beeren am Rande ihres mittlerweile ausgetretenen Pfades. Wenn es sich vermeiden ließ, würde sie fürs Erste so wenig Blut wie möglich vergießen, denn der charakteristische Geruch könnte größere, angriffslustige Tiere anlocken. Mit drei Pfeilen und einem übergroßen Bogen als einzige Verteidigung würde sie sich ganz sicher nicht mit Räubern anlegen. Besonders dann nicht, wenn diese alles verätzende Säure speien und sich unsichtbar machen konnten. Sie war ja nicht völlig von Sinnen.

~

Zurück im verlassenen Lager der Drachenjäger wurde sie von einem Wechselflügler begrüßt. Das hätte sie in Panik versetzen müssen, aber der Kleine sah aus, als hätte er all seine Kraft dafür verwendet, den kurzen Weg von Zelt zum Waldrand zu kriechen. Speichel lief sein Maul herab, als er das Eichhörnchen in ihren Händen erblickte und Lova musste grinsen. „Hungriges kleines Monster", sagte sie belustigt und warf ihm das tote Tier zu. Ohne Umschweife begann der Drache, es zu zerlegen und kurze Zeit später war seine Schnauze mit roten Fellresten bedeckt. Er grollte zufrieden und rollte sich zu einem Ball zusammen. Lova konnte seinen nun gefüllten Bauch grummeln hören, als könnte er kaum glauben, dass er in diesem Leben noch etwas zu verdauen bekommen hatte.

Sie lächelte zufrieden. „Schon besser, nicht wahr?", fragte sie und der Wechselflügler gähnte zur Antwort. Sie konnte all seine scharfen, weißen Zähne sehen, also war zumindest sein Gebiss noch intakt. Seine Krallen waren natürlich eine Katastrophe, aber mit ein wenig Zeit würde das schon wieder werden. Um sein Maul herum klebten Blutspritzer, aber es gab glücklicherweise keine dazugehörenden Wunden, also kam das Blut von dem Eichhörnchen, nicht von ihm. An seinem Bauch konnte sie die tiefen Stiche eines Speeres erkennen, einige der Wunden eiterten schon oder bluteten noch, während von anderen nur noch dünne Narben zu erkennen waren.

Lova biss sich auf die Unterlippe, um keinen lauten Fluch auszustoßen und kniete sich neben den Drachen in den Sand. Sofort stieg ihr der Gestank von verfaultem Fleisch in die Nase und sie musste würgen. Erschrocken keuchend fuhr sie zurück und erhob sich, um dem Geruch zu entkommen. „Das muss behandelt werden", sagte sie leise und eilte schnurstracks zum nächstbesten Zelt. Grob riss sie Stofffetzen um Stofffetzen ab, bis von dem Zelt nur noch das Gerüst übrig war. Erst dann kehrte sie zu dem mittlerweile leise schnarchenden Drachen zurück und legte den Stoff im Sand neben ihm ab. Ein paar der Streifen behielt sie in der Hand, während sie zum Meer ging und die Zeltfetzen in den Ozean tunkte. Sofort saugten sie sich mit Salzwasser voll und Lova hinterließ eine nasse Spur im Sand, als sie zu dem Wechselflügler zurücklief. „Das wird jetzt wehtun", erklärte sie und verzog in Erwartung des Kommenden das Gesicht. Es konnte gut sein, dass der Drache sie mit einem Säurestoß zu einem Skelett verwandelte, falls er sich erschrak. Dennoch machte sie weiter. Sie konnte ihn nicht einfach hier liegen und sterben lassen.

Mit diesem Vorsatz beugte sie sich vor, presste die mit Salzwasser durchtränkten Laken auf den Bauch des Wechselflüglers und kniff in Erwartung des Kommenden die grauen Augen zusammen.

Der Drache stieß einen animalischen Schmerzensschrei aus und fauchte in ihre Richtung. Sie konnte beobachten, wie erst sein Bauch, dann seine Halsmuskulatur arbeitete. Dann riss er sein Maul weit auf und... Ein einzelner Tropfen Säure landete auf dem Boden und ätzte sich durch ein paar Sandkörner. Ungläubig sah Lova erst auf den Tropfen knallgrüner Säure, dann zu dem verzweifelt würgenden Drachen. Nicht das kleinste bisschen Säure folgte und die Wikingerin entspannte sich langsam. Er war zu abgemagert und verletzt, um ihr wirklich gefährlich zu werden. Das hieß allerdings auch, dass es wirklich schlecht um ihn stand.

Lova streckte vorsichtig und langsam die Hand nach dem Drachen aus und der Wechselflügler folgte der Bewegung, bis sie einige Zentimeter vor seiner Schnauze stoppte. Seine Versuche, Säure zu speien, hatte er inzwischen aufgegeben. „Das hier wird gleich wehtun, aber es wird dir helfen, hörst du?", erklärte sie mit sanfter Stimme. Der Drache knurrte nur. „Ich will dich nicht verletzen", stellte Lova klar. „Ich will, dass du wieder fliegen kannst."

Bei dem Wort „fliegen" sah der Wechselflügler zum ersten Mal nicht feindselig zu ihr, sondern hielt inne. Er breitete seine prachtvollen Flügel aus und schnurrte, als er den Wind darüberstreichen spürte. Doch als er sich auf die Beine stemmen wollte, sank er in sich zusammen und wimmerte schmerzerfüllt. Lova sah den gequälten Blick in den eindrucksvollen, grünen Augen und strich dem Drachen sanft über die warme Schnauze. Schuppen lösten sich, als sie sie berührte und fielen als rötlich-schimmernde, durchsichtige Fetzen zu Boden. Nichts als kahle Haut blieb zurück. „Bei den Göttern", murmelte sie beunruhigt. Dieser Drache stand an der Schwelle des Todes, dessen war sie sich jetzt sicher.

Ohne auf sein widerstrebendes Knurren zu achten, schob sie sich unter seinem Flügel hindurch zu seinem Bauch, mehrere trockene Fetzen Stoff um den Arm gewickelt. Die provisorischen, noch nassen Verbände klebten bereits auf den Wunden, einige waren bereits von Blut durchtränkt. Lova musste die Luft anhalten, um den Fäulnisgestank nicht einatmen zu müssen, also arbeitete sie schnell und konzentriert. Innerhalb weniger Sekunden befestigte sie die Salzwasser-Binden, legte Verbände darüber und riss die Stofffetzen in noch schmalere Stücke, damit es sich nicht löste, sobald der Drache sich bewegte. Als sie fertig war, sank sie rückwärts in den weichen Sand und nahm einige tiefe, erleichterte Atemzüge. „Du hast es geschafft, Kleiner", sagte Lova erschöpft und strich dem Drachen stolz über den ausgebreiteten Flügel. Der grollte nur verschlafen und zog seinen Flügel zu sich, um wenige Sekunden später einzuschlafen.

Sie nutzte diese Zeit der Ruhe, um sich den Wechselflügler genauer anzuschauen. Er war abgemagert, aber sie konnte ihm nicht zu viel auf einmal füttern, das würde ihm genauso schaden wie weiterhin zu fasten. Abgesehen von den tiefen Speerwunden am Bauch schien er bis auf ein paar kleine Kratzer unverletzt, auch seine abgekauten Krallen machten ihr keine weiteren Sorgen. Probeweise hob sie jede Pfote einzeln an, um sie zu überprüfen, aber nirgendwo gab es eine ungewöhnlich warme Stelle oder ähnliches, die auf eine Entzündung hinweisen könnte. Doch als Lova seine Stirn abtasten, zog sie ihre Hand sofort zurück. Seine Haut war ungewöhnlich warm, geradezu heiß, besonders da, wo er Schuppen eingebüßt hatte. „Fieber", stellte sie beunruhigt fest. Dieser Drache würde einige Pflege brauchen, wenn er überleben wollte. Und Lova war überzeugt davon, dass sie ihn nicht sterben lassen würde. Und wenn sie für immer auf dieser Insel bleiben musste, sie würde nicht noch ein Lebewesen unter ihren Händen gehen lassen.

ClematisWhere stories live. Discover now