Kapitel 46 (2)

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Die Welt schien stillzustehen, als Lova das ganze Ausmaß der Wahrheit erblickte, die sie gerade aufgedeckt hatte. Sie konnte nichts hören außer das Rauschen ihres Blutes in ihren Ohren, doch was sie sah, bedurfte keiner Worte. Ihre Augen weiteten sich, ihr Körper wurde zu Eis, still und starr.

Da war ein Mann, mit üblicher Händlertracht, einem wettergegerbten Gesicht und einem spöttischen Lächeln, welches nicht zu seinem harmlosen Aussehen passen wollte. Er hielt zwei Dolche in den Händen, die unter seinen ausladenden Ärmeln verschwanden. Wäre das Glänzen von Metall im Sonnenlicht nicht gewesen, so hätte Lova sie nicht bemerkt. Doch so wusste sie sofort, dass ihr kaum Zeit zum Reagieren blieb, wenn sie nicht aus nächster Nähe erleben wollte, was diese beiden Waffen anrichten konnten.

Lova riss sich von dem beunruhigenden Anblick los und schüttelte die Angst ab, die ihre Glieder lähmte. Sie stürmte los, zum Kamin, wie sie es ursprünglich geplant hatte. Schweißperlen rannen ihre Stirn herab, als sie ihre Fesseln über den Schürhaken legte und ruckartig daran zog, bis ein befriedigendes Reißen ertönte und Lova spürte, wie der Druck um ihre Handgelenke nachließ. „Bei Freyja", murmelte sie erleichtert, ehe sie sich ihrer Mission entsann und nach dem Schürhaken griff. Ein gefährliches Funkeln lag in ihren Augen, als sie ihre provisorische Waffe hob und den Mann fixierte, der sich lautlos näher und näher an Viggo heranpirschte. Kaum ein Meter trennte die Beiden, als Lova einen Kampfschrei ausstieß und sich auf den Fremden stürzte.

Sie betete zu den Göttern, bat sie um Stärke und Zielsicherheit, doch all das wäre nicht nötig gewesen, denn der überraschte Mann war ein einfaches Ziel. Er hatte gerade genug Zeit, die Hände schützend vor sein Gesicht zu heben, ehe Lova den Schürhaken auf seine Visage herabsausen ließ. Die Wut in ihren Adern wurde durch Entschlossenheit ersetzten, die mächtiger war als jede Waffe, unbeirrt durch ihren Körper pulsierte und ihre Schläge lenkte.

„Ein Hinterhalt, mh?", fragte Lova abschätzig, als sie einen Angriff seinerseits mit ihren Schürhaken abwehrte und Funken stoben, als Metall auf Metall traf. „Wie erbärmlich."

Über die Hände des Fremden floss Blut aus Wunden, die ihr erster Treffer hinterlassen hatte, doch sein spöttisches Lächeln blieb. „Nicht so erbärmlich, wie du vielleicht denken magst", sagte der Mann mit einer Stimme, die perfekt zu dem Händler passte, der er vorgab zu sein. Sein Auftreten musste eine Scharade sein, denn kein Händler, der etwas auf sich hielt, würde sich in die Basis der Jäger wagen und deren Anführer hinterrücks attackieren. Auch seine Haltung, die verriet, dass er bereits einige Schlachten geschlagen hatte, passte nicht zu seinem Aussehen. Er balancierte sein Gewicht perfekt aus, nutze die Dolche so geschickt, als wären sie ein zweites Paar Arme. Es war, als würde Lova in einen Spiegel schauen. Denn dieser Mann kämpfte genau wie sie.

„Ich glaube, was ich sehe", erwiderte sie und hob den Schürhaken.

Der Mann folgte der Bewegung mit den Augen, genau wie sie erwartet hatte. Er machte ihr ein leichtes Spiel, als sie auf ihn zustürmte und ihm statt einem Schlag mit dem Schürhaken einen Tritt gegen den Oberschenkel verpasste, der ihn taumeln ließ. Mit einem zufriedenen Schnauben ließ sie ihre Waffe fallen und ballte die Hände zu Fäusten. Schwertkampf hatte ihr ohnehin nie gelegen.

„Nicht schlecht", sagte der Mann anerkennend. „Viggos Goldmädchen hat Feuer, ganz wie erwartet." Sein Lächeln wurde breiter, als er seine Dolche ein wenig fester umfasste. „Wollen wir mal sehen, wie viel du wirklich kannst, nicht wahr, Louvisa von Vernell?"

„Woher kennst du meinen Namen?", fragte Lova und verengte die Augen zu Schlitzen. Sie war kampfbereit, doch ihre Verwirrung machte sie verwundbar. Mit einem Kopfschütteln verdrängte sie ihre Fragen und schluckte die Angst herunter, die in ihr aufstieg. „Weißt du was?", sagte sie dann. „Erzähl es mir, wenn ich dich besiegt habe." Und damit stürzte sie sich auf ihn.

ClematisWhere stories live. Discover now