Kapitel 26

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Abwartend lehnte Lova sich gegen die Wand in ihrem Rücken und hob skeptisch die Brauen. „Ich wage zu behaupten, dass das Geschäft gerade den größten Rückschlag deiner gesamten Karriere zu verbuchen hatte", sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. „Gibt es da wirklich etwas zu bereden?"

„Ich spreche nicht von Gold und Drachenjagd, Louvisa", gab Viggo zurück. „Ich spreche von meinem Bruder." Verbitterung schlich sich in Lovas Züge, ihre Finger zuckten hoch zu den Würgemalen an ihrem Hals. „Ryker ist tot", gab sie zurück und ballte die Hände zu Fäusten. „Und das ist auch gut so." Ihr Körper bebte vor unterdrücktem Zorn, die Bissspuren auf ihre Lippen brannten. In dieser Sekunde wünschte sie sich nichts mehr, als Ryker selbst den Hals umzudrehen. „Wäre er es nicht, würde ich eigenständig dafür sorgen."

„Was hat er getan?", fragte Viggo und auch in seiner Stimme hatte sich Wut ausgebreitet. Statt des flammendem Zorn in ihrer war die seine allerdings geradezu schneidend kalt und so ruhig, dass es ihr eine unleugbare Gefährlichkeit verlieh. Doch Lova schüttelte nur den Kopf. „Er ist tot, wie er es verdient. Es ist mir gleich, was er getan oder nicht getan hat."

„Das ist es dir nicht, und das wissen wir beide, meine Liebe", sagte Viggo und bewies damit ein weiteres Mal sein Talent, all ihre Selbstbeherrschung mit einem Blick auf die Probe zu stellen. Durch das schief hängende Tuch über dem Fenster drang ein kleiner Strahl Licht, der seine Augen in der Farbe von dunklem Honig erscheinen ließ und seine blasse Haut mit goldenen Tupfen versah. Eilig wandte Lova sich ab und verfluchte Sol für ihre Sonnenstrahlen, die sich ausgerechnet in diesem Moment ihren Weg zu ihm bahnen mussten. „Selbst wenn es so wäre, ich kann nichts tun, um mich zu rächen."

Sie hielt den Blick stur auf das Fenster gerichtet, stumm betend, dass das in ihr brodelnde Gefühlsgemisch aus Wut und völlig irrationaler Aufregung abklang. Bei den Göttern, sie war keine Jugendliche mehr, mittlerweile sollte sie sich selbst deutlich besser unter Kontrolle haben und-

Lova erstarrte, als ihr behutsam und vorsichtig das Haar hinter die Ohren gestrichen wurde und warmer Atem auf ihre Haut traf. Viggos Finger verharrten nur Millimeter vor ihrem Hals, schwebten über den dunklen Malen. „Darf ich?", fragte er sie leise und Lova brachte kaum mehr als ein Nicken zustande. Sanft strichen seine Hände über ihre Haut und linderten die Schmerzen, die einerseits von den Druckstellen selbst, andererseits von den damit verbundenen Erinnerungen stammten. „Das war mein Bruder, habe ich nicht Recht?" Viggos Stimme war noch immer so betont ruhig und kalt vor Wut, dass Lova – wäre sie die Empfängerin seines Zornes gewesen – schleunigst die Flucht ergriffen hätte. Doch so brachte sie ein falsches, schiefes Lächeln und ein Nicken zustande. „Ja", sagte sie leise und verfluchte die Unsicherheit in ihrer Stimme.

Das sanfte, doch zugleich forschende Streichen seiner Hände über ihre Haut stoppte für einen Moment. „Darf ich dich bitten, mir zu erklären, was er getan hat?", fragte Viggo leise und dieses Mal lag statt unterdrückter Wut stummes Verständnis in seiner Stimme.

„Ich weiß nicht, ob ich das kann", gab Lova zurück, die Worte kamen schwach und zittrig über ihre Lippen. Schon bei der bloßen Vorstellung, ihre Erlebnisse auf Rykers Kriegsschiff in Worte zu fassen, bohrten sich Glasscherben in ihre Kehle und bereiten ihr bereits bei dem Gedanken daran, ihre Stimme ein weiteres Mal zu erheben, Phantomschmerzen. Ihr Verstand war sich völlig im Klaren darüber, dass sie keine Schmerzen empfinden konnte, dass alles in Ordnung war und niemand sie verletzen würde, doch ihr Körper versteifte sich und die Sicht vor ihren Augen verschwamm. Kalter Angstschweiß lief ihren Rücken hinab, während das ekelerregende Gefühl von fremden, ungewollten Lippen auf ihren eigenen ihren Geist vernebelte und eine völlig irrationale Panik in ihr hochstieg.

Fremde Hände strichen über ihre Haut, ihren Hals, während ihr Verstand nicht in der Lage war, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden, während sie selbst nicht wusste, was Einbildung und was Realität war, während Rykers Stimme in ihrem Ohr dröhnte und es ihr unmöglich machte, etwas anderes als seine Worte zu hören.
"Wenn ein anderer sich an seinem Goldmädchen vergreift..."

Jemand umfasste ihr Kinn, drehte sanft ihren Kopf zu sich und lenkte ihren Blick in eine vorbestimmte Richtung. Das Blut in ihren Ohren rauschte, machte es unmöglich, seine Worte zu verstehen, ihre verschwommene Sicht wurde klar, als ihr Blick auf seine Gestalt fiel, doch zugleich schienen die Ecken und Kanten seines Körpers zu verschwimmen. Zwei braune, hasserfüllte Augen starrten zu ihr herunter, während kräftige Hände ihren Kopf schraubstockartig in der gewünschten Position hielten und breite, muskulöse Schultern ihr bereits wortlos drohten, sie sollte ja keinen Widerstand leisten. Lovas Mund wurde staubtrocken, während alles in ihrem Inneren schrie, dass Ryker tot war und nicht hier sein konnte, doch seine Finger auf ihrer Haut fühlten sich viel zu real, viel zu wirklich an, um nur ihrer Fantasie zu entspringen.

Seine Lippen bewegten sich, formten Worte, die sie nicht verstehen konnten, doch ihr Gefühl versprach ihr bereits, dass es nichts gutes für sie bedeuten konnte. Er beugte sich nach vorn, näher zu ihr, sprach die gleichen, unverständlichen Worte und sah sie eindringlich an, während Lovas Gedanken rasten. Würde sie sich dieses Mal gegen ihn wehren können? Was, wenn sie es nicht konnte? Was würde geschehen, wenn sie Ryker ausgeliefert war?

„Hör auf", kam es über ihre Lippen, als er vor ihr auf die Knie ging. Am Liebsten hätte sie ihn von sich gestoßen, doch ihr Körper war wie erstarrt. „Viggo wird nicht zurückkehren, wenn du deinen Zorn an mir auslässt." Ein weiteres Mal versuchte sie, mit ihrem Verstand gegen Rykers Plan anzureden, während sie seinen sauren Atem wieder auf ihrer Haut spüren konnte und Erinnerungen an ihren letzten, gescheiterten Versuch ihren Kopf fluteten. Tränen der Verzweiflung stiegen in ihre Augen, ließen ihre Sicht verschwimmen. „Fass mich nicht an", wollte sie schreien, so laut, dass ihm die Ohren klingelten, doch es kam nur als Flüstern heraus.

Dennoch ließen die fremden Hände von ihr ab, zogen sich zurück und strichen dabei ein letztes Mal sanft über ihre Haut. Die Berührung war unendlich vorsichtig, als ob er sie nicht noch weiter verschrecken wollte. Zwei ungleiche Augen sahen in ihre, in beiden stand Schock und Unglaube, gepaart mit einem leicht übersehbaren Hauch Bedauern. Verwirrt legte Lova den Kopf schief und streckte die Hand nach ihm aus, ehe sie sich selbst davon abhalten konnte. Ihre Finger trafen auf vernarbte Haut und der Mann vor ihr verzog schmerzerfüllt das Gesicht und schob ihren Arm behutsam beiseite. „Vorsichtig, meine Liebe", sagte er und seine Stimme jagte ihr einen Schauder über den Rücken. Nichts daran war so hart und kalt wie die Rykers, ganz davon abgesehen, dass Ryker kein graues Auge und noch weniger Brandnarben im Gesicht hatte.

Die falschen Bilder vor ihrem inneren Auge zogen sich endgültig zurück, das Rauschen des Blutes in ihren Ohren verklang. Lova blinzelte, um die Erscheinung des Mannes vor sich vollständig zu begreifen, während auch ihr Verstand langsam zur Ruhe kam und ihre Erinnerungen von der Realität zu unterscheiden vermochte.

„Viggo?", fragte sie leise, während heiße Tränen über ihre Wangen liefen. Ob aus Erleichterung oder der Last ihrer Erinnerungen wegen, das konnte sie nicht sagen. Doch als sie das schiefe Lächeln erkannte, welches seine Lippen umspielte, seine warmen, ungleichen Augen und den ordentlichen Haarschnitt samt dem unverkennbaren Bart, ließen die unbarmherzigen Klauen ihres Traumas fürs Erste von ihr ab.

„Lova", gab er zurück. „Sag mir, was mein Bruder getan hat, ich bitte dich."

Sie erstarrte, schüttelte den Kopf, senkte den Blick. „Ich kann nicht", sagte sie leise. „Mich daran erinnern..." Verständnis trat in seinen Blick, löste die reine Besorgnis in seinen Augen ab. „Es fühlt sich an, als würde man von Scherben umgeben in einem brennenden Gebäude stehen, nicht wahr?", fragte Viggo leise. „Doch stehenbleiben ist dann in keinem Fall eine Lösung, meine Teure." Er streckte langsam die Hände nach ihren aus, verharrte aber kurz vor ihnen in der Luft. „Darf ich?" Er musterte sie aufmerksam, suchte nach der leisesten Spur Unwohlsein in ihrem Blick, doch Lova nickte, ehe sie sich bremsen und auf ihre Selbstbeherrschung berufen konnte. Seine Finger verflochten sich mit ihren und erst in dieser Sekunde wurde ihr bewusst, dass er noch immer vor ihr kniete.

Obwohl sie erhöht auf der Bettkante saß, war er doch groß genug, dass sie so beinahe auf Augenhöhe waren. Mindestens ein halber Meter trennte sie beide, doch ihre miteinander verschränkten Hände verliehen der abstrakten Situation eine Intimität, mit der sie weder jetzt, noch zu irgendeinem anderen Zeitpunkt jemals gerechnet hätte. Sie musste den Verstand verloren haben, weil seine Nähe ihr Herz schneller schlagen ließ, während in ihr gleichzeitig der Wunsch stärker wurde, ihm von den vergangenen Ereignisse zu berichten und nach Halt zu suchen. Einerseits schimpfte sie sich dafür eine Idiotin, andererseits... wenn er sie darum bat und sie sich insgeheim danach sehnte, warum wagte sie es nicht einfach? Die Glasscherben in ihrer Kehle, die jedes Wort verhindert hatten, waren verschwunden. Sie sollte diese Chance nutzen, ehe die dunklen Erinnerungen sie erneut einholten.

„Er hat versucht, sich an mir zu vergehen."

Die Worte entflohen ihren Lippen, ehe Lova sich doch noch stoppen konnte, doch kaum waren sie entkommen, stolperten sie über ihre eigenen Füße, schwebten hilflos in der Luft und verhedderten sich in der bedeutungsvollen Stille. Sie wagte kaum, den Blick zu heben und Viggo anzusehen. Was wäre, wenn sie mit diesen wenigen Worten seinen Respekt verloren hatte? Unüblich unter Wikingern wäre dies keineswegs, zugetraut hätte sie es ihm nie, doch jede Sekunde, die ohne ein Wort verging, schien tonnenschwer auf ihrem Rücken zu lasten.

„Er hat es versucht?", wiederholte Viggo und sie spürte, wie seine Hand ihre unwillkürlich ein wenig fester hielt. War das ein Hauch von Wut, den sie in seiner Stimme vernahm? Und gegen wen war diese gerichtet? Gegen seinen Bruder, oder gegen sie selbst? Was immer die Antwort war, Lova senkte das Kinn und ließ ein weiteres Mal zu, dass ihre Blicke sich trafen. „Ich habe ihn aufgehalten", gab sie zurück und obwohl sie es nicht wollte, schlich sich Genugtuung in ihre Stimme. „Glühende Kohlen auf seiner Haut waren ihm hoffentlich eine Lehre."

Ein leises Lachen, durchtränkt von purer Bitterkeit, erklang. „Dessen bin ich mir sicher, auch wenn wir es wohl nie mehr erfahren werden", entgegnete Viggo. Seine Augen lagen einzig und allein auf ihr, die Sorge daran war so offensichtlich, dass selbst Lova nicht mehr an ihre Vorstellungskraft glauben konnte. „Aber wieso hat er es getan? Was hat er sich erhofft?"

Sie versteifte, zog hastig ihre Hände zurück. Die Glasscherben kehrten wieder, um sie ein weiteres Mal ihrer Stimme zu berauben. Sie konnte ihm nicht sagen, dass es seinetwegen gewesen war. Es ging zu weit, die unausgesprochene Schuldszusprechung würde – egal ob von ihr beabsichtigt – wie eine Kluft zwischen ihnen stehen. Doch galt das auch, wenn der wahre Schuldner, Ryker, tot war, versunken im Meer und doch weit weg von Odins Ruhmeshallen, weil neben dem Blut zahlloser Menschen und Drachen nun auch versuchte Schändung an ihm haftete? Würde es eine Schlucht geben, die sie trennte, wenn sie die Geschehnisse nicht als Viggos Schuld, sondern als notwendiges Übel für seine Rettung deklarierte?

„Lova?", fragte er leise, riss sie damit aus dem unbarmherzigen Strudel ihrer Gedanken. Und wie jedes Mal lief ein angenehmer Schauder über ihren Rücken, wenn er ihren Namen sagte. Doch trotz seiner sanften, ruhigen Stimme, die es ihr unmöglich machte, sich eine Spaltung zwischen ihnen beiden vorzustellen, zögerte sie. Was, wenn er sie für egoistisch hielt, weil sie sich nicht nur von Ryker hatte überwältigen lassen, sondern ihn nun auch noch als Auslöser dessen bezeichnete?

„Meine Teure, ich weiß, dass es nicht leicht für dich ist", sagte Viggo und die Sorge in seiner Stimme war beinahe greifbar, als wolle sie ihre schützenden Arme um Lova schlingen und sie von all diesen Gedanken abhalten. „Du weißt, dass ich dir keinerlei Vorwurf mache, nicht wahr?"

Obwohl Lova nickte, verriet ihre angespannte Miene genau das Gegenteil. Sie biss sich auf die Unterlippe, ersetzte die ohnehin schon entstandenen Wunden durch neue, blutige Spuren und hätte sich am Liebsten für immer in diesem Bett verkrochen, um nicht über die Ereignisse auf dem Kriegsschiff nachdenken zu müssen. Doch so spielte das Leben nicht.

„Ryker plante es wohl als verzweifelten, letzten Akt, um dich endlich auszumerzen", stieß Lova mühsam hervor, die Worte sperrten sich regelrecht gegen sie und ihre Hände verkrampften sich in ihrem Schoss. Egal, wie sie es in ihrem Kopf formulierte, es klang weiterhin wie eine Anklage...

„Bei den Göttern", fluchte Viggo lautstark und verließ somit ein weiteres Mal in ihrer Anwesenheit die eigentlich unerschütterliche Rolle des skrupellosen, doch charmanten Geschäftsmannes. „Hat er wirklich geglaubt... Ich kann nicht fassen, dass das sein Plan war, nachdem er mit meinem Verschwinden eine unausweichliche Niederlage einstecken musste." Er raufte sich die Haare, erhob sich, ging einige Schritte durch den kleinen Raum, um sich zu beruhigen, ehe er sie mit einigem Abstand neben ihr auf das Bett sinken ließ.

„Meine Liebe, ich entschuldige mich für alles, was du unter meinem Bruder erdulden musstest. Er hat seine gute Erziehung offensichtlich völlig vergessen", sagte Viggo förmlich und klang aufrichtig. „Und was immer du gerade denken magst, trägst du in keinster Weise die Schuld an den Geschehnissen. Ich weiß, wie so etwas in unserer Welt gehandhabt wird und kann mir vorstellen, was dir gerade durch den Kopf geht, dass du den Fehler bei dir suchst, doch da wirst du keinen finden, denn die Schuld liegt allein bei meinem Bruder."

Seine Brust hob und senkte sich schneller als normalerweise, seine leicht geteilten Lippen verrieten seinen beschleunigten Atem. Er hatte sich völlig um Kopf und Kragen geredet bei dem Versuch, sie von sämtlicher Selbstschuld abzubringen und sich gleichzeitig für seine und vor allem für die Rolle seines Bruders in alldem zu entschuldigen. Wärme stieg in Lova auf und ein kleines Lächeln erklomm wagemutig ihre Lippen. „Ich danke dir", sagte sie leise und strich sich einige verirrte Haarsträhnen aus der Stirn, um ihren unruhigen Händen eine Beschäftigung zu geben.

„Mir fällt nichts ein, wofür du dich bedanken müsstest, meine Liebe", sagte Viggo ernst und als sie einen Seitenblick zu ihm riskierte, bemerkte sie, dass er sie noch immer genau beobachtete. Seine Augen erkundeten jeden Millimeter ihres Gesichtes, glitten weiter zu ihrem Hals und ihren freiliegenden Schultern, ehe sie sich wieder auf sittsamere Pfade begaben. „Ohne dich wäre ich nicht hier – ein weiteres Mal."

Lova lächelte verlegen und drehte sich endgültig zurück zu ihm. Nun, wo sie sich einander zugewandt hatten, war der Abstand zwischen ihnen ein weiteres Mal nur knapp innerhalb der Grenzen des Anstandes. „Ich sage es dir ein weiteres Mal", gab sie zurück und betete, dass er ihren rasenden Herzschlag nicht vernehmen konnte. „Ich konnte dich nicht einfach zurücklassen, nicht ohne sicherzustellen, dass es wirklich keine Hoffnung mehr..." Ihre Stimme erstarb, doch er hatte sie ohnehin verstanden. „Und was du dafür durchgestanden hast", entgegnete Viggo leise. „Verdient ebenso Anerkennung. Mein Bruder- Ryker war nie..."

Allein bei seiner Erwähnung kroch lähmende Eiseskälte in ihr hoch, ihre Muskeln versagten den Dienst. „Ich will nicht an ihn denken", murmelte Lova, während sie händeringend versuchte, ihre Gedanken in andere Gefilde zu lenken. „Das ist mehr als verständlich", gab er leise zurück und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Wenn ich dich auf andere Gedanken bringen soll, meine Liebe...?" Es war wohl diese Sekunde, in welcher sie erkannte, dass es um sie geschehen war.

„Küss mich", bat sie ihn leise. „Lass mich das alles vergessen."

Seine Augen weiteten sich kaum merklich, sein Atem stockte für einen Augenblick, doch gleichzeitig machte Viggo keine Anstalten, zurückzuweichen. Stattdessen glaubte Lova, nahezu perfekt verborgenes Verlangen in seiner Miene zu erkennen. „Ich bitte dich", sagte sie gedämpft. „Nur dieser eine Gefallen."

Er zögerte. Sie konnte förmlich sehen, wie er alle möglichen Szenarien in seinem Kopf durchspielte, alles bedachte, was passieren könnte. Mit jeder Sekunde wuchs ihr Wunsch, ihm die Entscheidung abzunehmen und sich somit selbst endlich seliges Vergessen zu bescheren. Doch sie wartete, um ihm die freie Wahl zu lassen. „Louvisa", sagte Viggo, unendlich sanft, ihr Name ein sehnsüchtiges Gebet auf seinen Lippen, doch noch immer machte er keine Anstalten, den Abstand zwischen ihnen beiden zu überbrücken und ihr ihre verzweifelte Hoffnung zu erfüllen. „Du weißt nicht, was du dir da wünschst."

„Vielleicht weiß ich das sogar sehr gut", gab sie zurück. „Ich kann auf mich aufpassen, weißt du?" Obwohl ihre Worte ihn eigentlich herausfordern sollten, schlich sich ein verzweifeltes Flehen hinein. In dieser Sekunde wünschte sie sich nichts mehr, als ihn zu küssen und alles zu vergessen, was in den letzten Stunden vorgefallen war, bis sie sich nur noch an seinen Geschmack auf ihren Lippen erinnerte. Wann hatte sie begonnen, auf diese Weise an ihn zu denken? Wann hatte sie den Punkt erreicht, an welchem ihre Gefühle sie leiteten und sogar ihren ausgeprägten Verstand verstummen ließen?

„Götter...", hörte sie ihn sagen, so leise, dass Lova es fast nicht wahrnahm, es nahezu übertönt wurde von dem schnellen Schlagen ihres Herzens gegen ihre Rippen. Doch sie hörte es, bemerkte die Anspannung darin und fragte sich, wann er seine Bedenken vergessen und ihre Bitte erhören würde. Wenn sie sich nicht irrte, war er ihr nähergekommen, sie spürte seinen warmen Atem an ihrer Haut und musste mit sich selbst kämpfen, den letzten Abstand zwischen ihnen nicht einfach zu überbrücken.

„Das ist eine miserable Idee", murmelte Viggo, doch sein Tonfall verriet, dass er das anders sah. Dennoch schien er wie erstarrt, rückte weder von ihr ab, noch lehnte er sich näher zu ihr. „Wir haben alle manchmal miserable Ideen", entgegnete Lova leise. „Was nicht heißt, dass wir sie am Ende bereuen müssen."

Er legte seine Hände auf ihre bloßen Schultern, die Wärme seiner Haut direkt an ihrer brachte sie beinahe um den Verstand. „Du magst Recht haben, meine Liebe", sagte Viggo langsam und sie sah, wie er mit sich rang. Mit jeder Sekunde schien die Anziehung zwischen ihnen stärker zu werden, als würden unsichtbare Kräfte sie zueinander lenken, sie in die gleiche Richtung locken, bis sie unweigerlich aufeinandertreffen würden. Hatte diese Spannung schon immer zwischen ihnen geherrscht und Lova hatte sie bisher nie wahrgenommen? Oder war sie erst in diesem Moment aufgetaucht, um sie in den Wahnsinn zu treiben? Was immer die Antwort war, seine Nähe fühlte sich richtig an, wie es schon in der Basis der Jäger getan hatte, nur lag dieses Mal mehr Bedeutung darin.

„Ich bitte dich", sagte Lova, ein weiteres Mal. „Lass mich nicht warten."

Der Griff seiner Hände auf ihren Schultern verstärkte sich, kaum merklich, doch ihre Gedanken schweiften sofort zu Ryker, ihre Augen weiteten sich panisch. Diese verräterische Reaktion hielt nur für den Bruchteil einer Sekunde, bis sie sich wieder fasste, doch Viggos Haltung änderte sich augenblicklich. Das Verlangen in seinen Augen erlosch, Besorgnis trat an seine Stelle und er schob sie sanft eine Armlänge von sich weg. „Nicht so", sagte er bestimmt. „Du stehst völlig neben dir, Louvisa." Seine Worte allein mochten herablassend klingen, doch wie so oft war jede Silbe so sanft, dass sie es ihm nicht einmal übelnehmen konnte.

„Ich weiß, was ich tue", widersprach Lova dennoch, obwohl ein mörderischer Schmerz ihr den Atem raubte. Kurz hielt sie es lediglich für ihren verletzten Stolz, der sich gemeinsam mit Scham und Reue bemerkbar machen wollte, doch das altbekannte Gefühl von heißem, klebenden Blut an ihrer Hüfte belehrte sie eines besseren. Sie stöhnte schmerzerfüllt auf, ehe sie sich sammeln konnte und presste die Lippen aufeinander, um einen weiteren Schmerzenslaut zurückzuhalten. Prüfend tastete sie nach der Schwertwunde an ihrem Rücken und trotz des deutlich spürbaren Verbandes aus Leinen waren ihre Finger sofort dunkelrot getränkt.

„Bei Hel", stieß Lova hervor und presste die Hände auf die Verletzung, um den Blutfluss zu stoppen, auch wenn die Schmerzen dabei noch mörderischere Ausmaße annahmen. Sie musste mit dem Rücken gegen den Bettpfosten gestoßen sein, als Viggo sie weggeschoben hatte, und damit die Wunde erneut aufgerissen haben. „Verdammt", knurrte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen und Panik schlich sich in ihre Stimme. Mehr und mehr des roten Stroms floss über ihre Hände, tropfte auf die weißen Laken. Es war soviel, dass ihr beinahe schwindelig wurde.

„Atme tief durch, Lova."

Viggos Stimme drang an ihr Ohr, durchbrach die Wolken aus Angst, Schmerz und Ungewissheit, die sie umgaben. Vorsichtig, aber zugleich auch bestimmt zog er ihre Hände von der Wunde und ersetzte sie durch seine eigenen. Erst jetzt bemerkte Lova, wie wenig Kraft sie lediglich hatte aufwenden können – kaum genug, um die Blutung einer einfachen Schnittwunde zu stoppen, wie hätte es bei dieser Verletzung helfen sollen, die sie ohnehin beinahe getötet hätte?

Sie beruhigte sich soweit, dass sie seiner Bitte Folge leisten konnte und sog gierig den dringend benötigten Sauerstoff in ihre Lungen. Unter dem Druck von Viggos Händen verringerte sich auch die Blutung allmählich, bis nichts übrig war als ein stetes Rinnsal. Dennoch war ihr Unterhemd rot durchtränkt, ihr Hemd hatte sie bei der Rettungsaktion endgültig zerstört und auch der Leinenverband hing nur noch lose um ihre Hüfte. „Danke", sagte Lova dennoch leise und schenkte Viggo ein schwaches Lächeln.
Er schüttelte nur leicht den Kopf. „Nicht dafür, meine Teure", gab er zurück und wischte sich die Hände an seiner ohnehin schon ruinierten, staubigen Tunika ab. „Ich werde bei Nehemias Mutter nach neuen Verbänden fragen, wenn das in Ordnung ist?" Viggo musterte sie aufmerksam, wartete geduldig auf ihre Zustimmung. Lova nickte eilig. „Das wäre wundervoll", gab sie statt eines erneuten Dankes zurück und entlockte ihm damit ein leises Lachen. „Ich bin gleich zurück", gab er zurück und erhob sich.

Sie beobachtete ihn, während er zur Tür ging und sie aufschob. Worte lagen ihr auf der Zunge, bildeten eine Frage, die sie niemals stellen könnte, doch zugleich drängten sie sich einen Weg über ihre Lippen, kämpften sich in die Freiheit, die sie nicht hätten erhalten sollen.

„Hättest du eben genauso gehandelt, wenn die Situation eine andere gewesen wäre?"

Lova verfluchte sich selbst für ihre Frage, während der Raum zwischen ihnen zu einem luftleeren Vakuum und die Worte zu kaltem Eis wurden und sie sich sicher war, keinen Laut mehr herausbringen zu können. Unsichtbare Hände schnürten ihr die Kehle zu, während Viggo sich zu ihr wandte, sein Blick erneut den ihren fand und sie hoffnungslos in der Tiefe seiner Augen ertrank. Ihr Körper sehnte sich nach seiner Antwort, während ihr Verstand sie eine Idiotin nannte. Er hatte sie bereits einmal abgewiesen, warum sollte er es kein weiteres Mal tun?

„Du hast keine Vorstellungen, wie..." Viggo zögerte, überdachte seine leichtsinnigen Worte und schüttelte dann den Kopf. „Meine Liebe, jetzt ist nicht der Moment, darüber zu sprechen." Und damit trat er durch die Tür in den hellen Flur, während die leise knarzenden Dielen sein Fortgehen verrieten.

„Und vielleicht wird dieser Moment auch niemals kommen", fügte Lova stumm hinzu und vergrub das Gesicht in den Händen. Hatte sie überhaupt nachgedacht, als sie ihre idiotische Bitte gestellt hatte? War sie von allen guten Geistern verlassen, dass sie ihre Gefühle das Kommando hatte übernehmen lassen und Viggo in einem Augenblick des kurzzeitigen Wahnsinns um etwas derart Intimes gebeten hatte? „Du hast den Verstand verloren", sagte sie kopfschüttelnd zu sich selbst und wünschte sich beinahe, den vergangenen Moment vergessen zu können.

Doch trotz allem ließ sie der unbedarfte Gedanke an seine Hände auf ihren Schultern und seinen Lippen auf ihren nicht los, egal wie verzweifelt sie es versuchte.

ClematisWhere stories live. Discover now