Kapitel 42

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„Er verbringt einige Tage versteckt auf dieser Insel, um den besten Wind für die Heimfahrt abzupassen. Du kannst ihn nicht verfehlen; verlasse das Dorf über den Waldweg, bis du am Fuße des Vulkans angekommen bist. Dort musst du dich vor den Wachposten in Acht nehmen, such am besten im Unterholz Schutz. Dann folgst du dem Trampelpfad, den du früher oder später finden wirst, bis du an einer abseits liegenden Bucht ankommst. Sie ist vor jeglichen Blicken geschützt und wird fast nie aufgesucht, höchstens im Sommer. Dort wirst du ein kleines Handelsschiff finden, such die Kajüte und berichte Finn von deinem Anliegen. Er wird dir helfen, das weißt du so gut wie ich."

Dunjas Worte hallten als stetes Mantra in Lovas Kopf wider, während sie sich mit gesenktem Kopf einen Weg durch die Gassen des Dorfes bahnte. Von allen Seiten kamen ihr Menschen entgegen und sie hörte fröhliches Geplauder, doch niemand schenkte ihr sonderlich Beachtung. Der Preis dafür war, dass sie auf ihrer Flucht außer ihrem Dolch, einer Karaffe Trinkwasser, einem Stoß Wechselkleidung und einem Beutel voll Trockenfleisch nichts mitnehmen konnte, ohne aufzufallen. Es war mühsam genug gewesen, diese wenigen Sachen in einem unauffälligen Korb unterzubringen, denn Dunja ihr mit feierlicher Miene überreicht hatte. Lediglich Viggos Brief hatte sie in ihrer Hosentasche aufbewahrt, denn wenn sie ihn zurückließ, könnte er bei seiner Entdeckung für Dunjas Ableben sorgen. Und bei dem Gedanken, ihn zu verbrennen, hatte sie gezögert. Es fühlte sich falsch an, obwohl sie wusste, dass sie diesen Mann vergessen sollte. Hatte er sie nicht erst in diese Situation gebracht? Warum sehnte ihr Herz sich dann noch immer nach ihm, so völlig irrational und weit über die Grenzen ihres Verstandes hinaus?

Ein Ruck an ihrem Arm zwang Lova, innezuhalten. Hektisch fuhr sie herum, einen deftigen Fluch auf den Lippen, den sie mühsam herunterzuschlucken versuchte. Throk stand hinter ihr, mit finsterer Miene, wie er sie nur ihr und Dunja gegenüber aufsetzte.

„Solltest du nicht auf dem Festplatz sein und mit dem Abwasch helfen, wie die Königin es dir aufgetragen hat?", fragte er, schien sich jedoch um einen freundlichen Ton zu bemühen. Ob es an seiner Erziehung oder den Menschen um sie herum lag, konnte Lova nicht beurteilen. Vielmehr lief ihr gerade kalter Schweiß über den Rücken, als sie sich ihrer Situation bewusst wurde. Sie würde wertvolle Zeit verlieren, wenn sie die frühen, noch recht ruhigen Morgenstunden auf dem Festplatz verschwendete.

„Ich werde ihrem Befehl Folge leisten, sobald ich kann", versprach Lova und ließ hektisch den Blick schweifen, auf der Suche nach einer möglichen Ablenkung. Es kam ihr wie gerufen, dass Hicks sich anscheinend gerade ebenfalls aufbrach, denn die Tür des Gasthauses schwang auf und der junge Häuptlingssohn trat mit verschlafener Miene heraus, dicht gefolgt von seinem Nachtschatten. Ihre Blicke trafen sich und ein erleichtertes Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. „Doch ich muss noch mit den Drachenreitern sprechen, wenn du verzeihst..." Mit diesen Worten drängte sie sich an Throk vorbei und lief mit schnellen Schritten auf Hicks zu, dessen Gesellschaft ihr momentan etwas weniger suboptimal erschien.

„Guten Morgen", sagte sie höflich und hob die Hand zum Gruß. „Ich hoffe, ich störe nicht." Lova versuchte sich an einem freundlichen Lächeln, um ihren beschleunigten Atem und die Schweißperlen auf ihrer Stirn zu überspielen. Sie sah, wie der Nachtschatten sie misstrauisch musterte und auch, dass Hicks ihren Gruß nur zögerlich erwiderte.

„Tust du nicht", erwiderte er dennoch. „Kann ich dir helfen?"

„Nein", sagte Lova eilig und schüttelte den Kopf. „Ich werde die Insel heute verlassen", erklärte sie und hielt dem Nachtschatten einen Streifen Trockenfleisch entgegen, während sie sprach. Es war vermutlich eine Verschwendung von Ressourcen, doch solange der schwarze Drache sie nicht auffliegen ließ, wäre es das wert. Tiere verfügten meistens über ein instinktives Gespür, ganz zu schweigen davon, dass er ihre Angst sicher riechen konnte. „Ich wollte euch nur mein Beileid aussprechen, nachdem ich gestern keine Chance dazu hatte."

ClematisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt