Kapitel 12

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Panisch riss Lova die Augen auf und zwang sich in eine stehenden Position, kaum dass die Hitze an ihrem Gesicht abgeklungen war.

Dickflüssiges, dunkelrotes Blut rann ihre Wange hinab, der Nadder kreischte und fauchte schmerzerfüllt. Als sie zur Seite stolperte, konnte sie auch erkennen, weswegen. Viggos Schwert steckte zwischen seinen Schulterblättern, die Flügel des Drachen hingen nutzlos herab und er schien für einen Moment wie erstarrt vor Schmerz. Sie wusste jedoch, dass es sich nur um einige Sekunden handeln würde, bis der Drache sie nur noch wütender attackieren würde, wenn sie nicht handelte, und dieses Mal konnte Viggo rein gar nichts tun, um ihr zu helfen.

Lova holte tief Luft, ehe sie losrannte.
Mit schweißnassen Händen umfasste sie den Griff des Schwertes und zerrte mit ruckartigen Bewegungen daran, um es aus dem Fleisch des Drachen zu ziehen. Während sie das versuchte, drang mehr und mehr Blut aus der Wunde, lief heiß und rot über ihre Hände, machte ihr das Festhalten nahezu unmöglich. Als wäre all das nicht genug, schlug der Nadder verzweifelt mit den Flügeln, kreischte und knurrte, schoss seine Pfeile in alle Richtungen, während Funken aus seinem geöffneten Maul stoben. Wieder und wieder wurde Lova in die Luft gehoben, nur um unsanft wieder auf dem Boden aufzukommen, mit jedem erneuten Schwung wurde ihr übel. Wenn sie losließ, würde der Drache sie töten, und wenn er sie tötete, würde er mit dem wehrlosen Viggo weitermachen und sie würde nie erfahren, was in dieser Nacht vorgefallen war, sie würde niemals erfahren, was er mit „Schicksal" gemeint hatte, sie würde nie... Mit einem ekelerregenden Geräusch glitt das Schwert aus dem Fleisch des Drachen.

Lova taumelte angesichts des ungewohnten Gewichts, kam auf ihrem verletzten Bein auf und sank wieder zu Boden. Sie biss sich auf die Unterlippe, um einen Schmerzensschrei zurückzuhalten, als sie ihr gesamtes Körpergewicht auf ihrem vermutlich verstauchtem Knöchel spürte. Mit protestierenden Muskeln und schmerzenden Armen zerrte sie das Schwert zurück zu sich und tat ihr Bestes, um es in die Luft zu heben.
Schweißperlen liefen ihr über die Stirn, als sie dem Drachen die Waffe entgegenhielt. Sie keuchte leise und spürte förmlich, wie ihre Kraft mit jeder Sekunde nachließ. Aus einem Kratzer über ihrem Auge, von dem sie nicht einmal wusste, wie sie ihn bekommen hatte, floss ein dünnes Rinnsal Blut. Auch ihre Hände, die den Schwertgriff gepackt hielten, waren von dunkelrotem, bereits trocknendem Blut bedeckt. Dennoch starrte sie dem Nadder direkt in die leuchtend gelben Augen und wich keinen Millimeter zurück.

„Geh", sagte Lova mit rauer Stimme. Ihre Lippen waren so trocken, dass jedes Wort schmerzte. Wie lange hatte sie mit dem Drachen gerungen? Ihr Zeitgefühl ließ sie völlig im Stich, als sie da im Dreck kauerte und dem Drachen ein blutbeflecktes Schwert entgegenhielt. „Ich bitte dich, geh." Dann ließ sie das Schwert fallen, ehe es aus ihren zitternden Händen gleiten konnte. Mit einem Klirren landete es auf dem Boden zu ihren Füßen, eine silbern leuchtende Grenze zwischen ihr und dem Drachen.

Der Nadder riss das Maul auf und entblößte seine scharfen Zähne. Seine gelben Augen starrten feindselig und starr auf sie herab und Lova war sich sicher, dass sie jetzt sterben würde. Sie hatte nie eine Chance gehabt gegen einen Drachen wie diesen, vor allem nicht ohne Erfahrung im Nahkampf. Es war lediglich ein verzweifelter Versuch gewesen, sich irgendwie am Leben zu erhalten und-

Der Nadder breitete die Flügel aus und stieg in die Lüfte, ohne einen Blick zurück.
Tränen der Erleichterung rannen über ihre Wangen, das Salz brannte in den kleinen Schürfwunden überall auf ihrem Gesicht, ihr Knöchel schmerzte und sie musste ständig blinzeln, damit kein Blut in ihre Augen lief, aber sie war am Leben.

Lova erlaubte sich, einen Moment tief durchzuatmen, ehe sie sich schwankend erhob und nach dem Schwert griff, bevor sie zurück zu Viggo humpelte. Als er sie bemerkte, sah er zu ihr hoch. Im Dunkel der Nacht konnte sie seinen Gesichtsausdruck nicht deuten, doch sie erkannte sofort, dass er sich wieder die Hände auf die Wunde presste, als hätte der Schmerz erneut zugenommen. „Du lebst", sagte Viggo erleichtert und lächelte, doch sie hörte das unterdrückte Keuchen in seiner Stimme. „Ich hatte nicht geglaubt, dass du es schaffen würdest."

Lova ließ sich neben ihm nieder und streckte das linke Bein so weit wie möglich von sich weg, ihr Knöchel war angeschwollen und schmerzte. Als ihr Fuß den Boden berührte, ächzte sie leise. „Wie überaus schmeichelhaft", gab sie zurück und wischte sich das Blut aus den Augen. „Eigentlich war das als Kompliment gemeint", sagte Viggo leise. Lova sah, wie sein Blick auf die Wunde in ihrem Gesicht traf und sie versuchte sich an einem Lächeln. „Dann danke", entgegnete sie trocken. „Ich hatte es zwar anders aufgefasst, aber..." Sie stockte, als sie seine Hand an ihrer Wange spürte, angenehm kühl an ihrer Haut.

„Der Stachel des Nadders hätte beinahe dein Auge erwischt", erklärte Viggo und musterte die Wunde oberhalb ihres Auges mit konzentriert zusammengekniffenen Augen, während Lova nur versuchte, sich auf seine Worte zu konzentrieren. Seine Finger wanderten zu der Verletzung und wischten sanft das Blut beiseite. „Aber er hat dich glücklicherweise kaum gestreift", meinte er dann und zog seine Hand zurück. Sie spürte seine Berührung noch immer als leichtes Kribbeln auf ihrer Haut. Lova räusperte sich verlegen und rieb sich den Nacken, Hitze stieg ihr in die Wangen. „Glücklicherweise", wiederholte sie. „Ja." Ihr Blick traf den seinen. Er sah so gefasst aus wie eh und je, weder sein charmantes Lächeln, noch seine warmen, braunen Augen verrieten, was er gerade dachte.

„Und dein Knöchel?", fragte er dann. „Wird schon wieder", gab sie mit einer abwehrenden Handbewegung zurück, obwohl sie das selbst nicht wirklich glaubte. Viggo anscheinend auch nicht, denn sie sahen gleichzeitig auf ihren verletzten, linken Fuß herab. Ihr Knöchel war mittlerweile nicht nur angeschwollen, ihr einfaches Umknicken hatte blaue Flecken hinterlassen. Zweifelnd und um die Schmerzen auszublenden, biss Lova sich auf die Unterlippe. Wenn sie ehrlich war, sah das nicht so aus, als ob sie in nächster Zeit wieder laufen würde...

„Ich bin kein Heiler, aber das sieht nach einer Verstauchung aus", hörte sie Viggos Stimme und spürte seinen besorgten Blick auf sich.

Sie stieß frustriert die Luft aus und unterdrückte einen wütenden Fluch. „Das ist es wahrscheinlich auch", stieß sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. „Und was hilft dagegen?", fragte er nur und Lova sah zu ihm hoch. Unwillkürlich fragte sie sich, ob sie sich die Sorge in seinem Blick nur einbildete. Sah sie Dinge in ihm, die da nicht waren? Viggo war ein Geschäftsmann, warum sollte er sich um sie sorgen? Aber hing das eine wirklich so sehr mit dem anderem zusammen?

Bevor sie sich in ihren Gedanken verlor, antwortete sie eilig: „Zeit, wenig Belastung, kühlen..." Er rieb sich die Stirn, als hätte er Kopfschmerzen. „Wie viel Zeit?", fragte er, und es klang drängend. Lova warf einen nachdenklichen Blick auf ihren Knöchel und legte den Kopf schief.

„Etwa 6 Tage, vielleicht etwas weniger", gab sie zurück. „Wieso?" Viggo stieß einen leisen Fluch aus. „So viel Zeit hast du nicht", sagte er und sah ihr eindringlich in die Augen. „Du wärst ein zu leichtes Ziel, wir wären heute beinahe beide gestorben und wenn du nicht laufen kannst..." Lova unterbrach ihn unwirsch. „Ein zu leichtes Ziel für wen, Viggo?" Er wandte den Blick ab, das Mondlicht ließ seine Haut noch heller als ohnehin erstrahlen. Die Blut- und Tintenflecken auf seiner Tunika glänzten und sie sah die Narben an seinem Hals, direkt vor sich. Wer war es, der selbst Viggo Grimborn, den gefürchteten Drachenjäger, so aus der Fassung bringen konnte?

„Ryker hat die Türen des Käfigs demoliert, um mich aus dem Weg zu räumen."

Lovas graue Augen weiteten sich. „Dein... eigener Bruder?", fragte sie entgeistert. Dennoch hatte sie das Gefühl, dass sie entsetzter sein sollte, überrascht war sie kaum und als Viggo nickte, seufzte sie nur. Nach dem anfänglichen Schock musste sie zugeben, dass sie es dem älteren Drachenjäger durchaus zutraute. Er war brutal und grausam, ließ sich von seinen Emotionen leiten und es war offensichtlich, dass deswegen sein kleiner Bruder an der Spitze seines Stammes stand und nicht er. Hatte sie nicht selbst gesagt, dass Rache das war, was die Menschen antrieb?

„Was vermutest du, warum hat er es gerade heute versucht?" Mit leicht schiefgelegtem Kopf sah Lova fragend zu ihm. Viggo lächelte noch immer, aber etwas Bitteres hatte sich in seine Züge geschlichen. Beinahe ebenso hatte er ausgesehen, als er ihr auf der Insel des Skrills die Geschichte seines Stammes erzählt hatte...

„Er muss vermutet haben, dass ich abgelenkt war, wegen deiner vorzeitigen Rückkehr", sagte Viggo schließlich mit rauer Stimme. „Als wir sprachen, war er wütend." - „Weswegen war er wütend?", hakte sie vorsichtig nach. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie sehr ein Verrat innerhalb der eigenen Familie schmerzen musste... Ryker war sein Bruder, sein großer Bruder, und mit ihm der letzte Vertreter seiner Blutlinie. Und er hatte versucht, Viggo zu ermorden und es wie einen Unfall aussehen zu lassen.

„Deinetwegen", antwortete er ihr dann. „Er hat dich schon immer gehasst, seit dem Tag, an welchem du unser Schiff betreten hast und ihm vor die Füße gespuckt hast." Viggo lachte leise bei der Erinnerung. „Auch ich war nicht sonderlich glücklich darüber, dass ausgerechnet Tochter des Häuptlings überlebt hatte", gab er zu und Lova schnaubte. „Wie der Junge von Berk", entgegnete sie trocken. „Das muss Erinnerungen geweckt haben." Aus Viggos falschem Lächeln wurde ein echtes, amüsiertes. „Das hat es", bestätigte er. „Aber aus diesem Grund habe ich dich stets nah bei mir gehalten; einerseits, damit wir uns nicht mit einer weiteren Drachenreiterin herumschlagen müssen und andererseits, weil Ryker dich sonst vermutlich auf schnellstem Wege losgeworden wäre."

Lova warf ihm einen aufgebrachten Blick zu und hob die Brauen. „Wenn du mir erzählen willst, dass du mich immer nur beschützen wolltest, pfeife ich den Nadder zurück", erklärte sie und rutschte unwillkürlich ein Stück von ihm weg. „Lova, meine Teure", begann er, doch sie fiel ihm ins Wort. „Nenn mich nicht so. Ich war diejenige, die drei Jahre als Gefangene in deinen Reihen verbracht hat, das solltest du niemals vergessen", sagte Lova, geradezu bedrohlich ruhig.

Das Brandzeichen an ihrem Rücken schmerzte, als hätte das Eisen gerade erst ihre Haut verlassen. Ihr unregelmäßig nachgewachsenes Haar schirmte ihr Gesicht vor seinen Blicken ab und an ihren Handgelenken spürte sie die Schmerzen von den unzähligen Malen, an denen ihr raue Seile als Fesseln angelegt wurden. Die mühsam zurückgedrängten Tränen in ihren grauen Augen schimmerten im Mondlicht und sie biss sich auf die Unterlippe, um nicht zu schluchzen. Der Geschmack von Blut breitete sich auf ihrer Zunge aus, aber sie gab keinen Laut von sich.

„Lova, ich weiß, dass all meine Worte nichtig sind im Vergleich zu meinen Taten, aber ich appelliere an deinen Verstand..." Viggos Stimme drang an ihr Ohr, so sanft wie am Tag ihres ersten Treffens, aber irgendwie flehend. Bat er sie gerade um ihr Gehör? Wusste er nicht, dass sie an seinen Lippen hing, wann immer er sprach?

„Wenn dir oder deinen Männern etwas unaussprechliches geschehen ist, wer war es dann, der bei mir stand, als es geschah?"

Lova schwieg. Sie spürte Viggos drängenden Blick auf sich und schlang die Arme um ihren Körper, als könnte sie damit all diese Dinge von sich abwenden, die sie gar nicht hören wollte. Ihre Stimme war rau vor unterdrücktem Schmerz, als sie ihm antwortete: „Ryker."

Mit aller Macht drängte sie ein Schluchzen zurück. All die Zeit, all die Qualen, all die Männer, die sie nach Walhalla hatte schicken müssen... die letzten Vertreter ihres Stammes, versunken im Meer wegen ihrer Dummheit. Lova hatte geglaubt, dass sie sich diesen Fehler verzeihen konnte, doch es nagte an ihr, lauerte nur auf einen Moment der Schwäche. „Aber du warst es doch, der mich zu diesem Handel gezwungen hat", flüsterte Lova. Sie brachte es nicht über sich, diese Worte lauter auszusprechen. Es fühlte sich wie Verrat an. Verrat an den zehn toten Körper, die am Meeresgrund verrotteten. Ihretwegen und seinetwegen.

„Lova", begann Viggo mit sanfter Stimme. „Denk nach. Was hätte Ryker getan, wenn ich dich nicht durch diesen Handel an mich gebunden hätte?", fragte er. „Und wer war es, der dich überhaupt erst auf mein Schiff brachte?" Sie schüttelte verzweifelt den Kopf und hätte sich am liebsten die Hände auf die Ohren gepresst. „Er hätte mich über Bord geworfen", gab sie leise zurück. „Und es war Dagur, nicht du."

Stumme Tränen rannen über ihre Wangen und nahmen ein wenig das bereits getrockneten Blutes auf ihrem Gesicht mit sich fort. Noch nie war sie so dankbar für ihr langes Haar gewesen, welches sie vor Viggos Blicken abschirmte. Sie wusste nicht, ob sie ihm trauen konnte. Er hatte nicht Unrecht, aber wenn er nur die Schuld von sich schieben wollte, damit sie ihm vertraute? Blieb nur die Frage, was er mit ihrem Vertrauen wollte. Für den Skrill war sie nicht mehr nützlich, vor Rykers Mordversuch hatte sie ihn schon gerettet und es gab nichts, was sie zu seiner Flotte beitragen könnte. Das hatte es nie gegeben, eine Jägerin mehr oder weniger hatte noch nie einen Unterschied gemacht. Und er war Viggo, der klügste Mann des Inselreiches, er brauchte niemanden, um seine Pläne zu schmieden. Jeder informierte Mittelmann war nur ein Risiko, das musste er spätestens seit Heidrun gelernt haben. Was wollte er wirklich von ihr?

„Ich weiß nicht, was ich glauben soll", sagte Lova mit tränenerstickter Stimme. „All das, es klingt so logisch... Es war immer Ryker, der dabei war, was immer auch schreckliches geschah. Das Brandzeichen, die Hinrichtung, der Handel... Aber zu glauben, dass du unschuldig bist, das fühlt sich nicht richtig an." Sie wischte sich die salzigen Tränen mit dem Handrücken aus dem Gesicht und sah ihn aus klaren, grauen Augen an. „Du bist nicht unschuldig. Das wissen wir beide."

Viggo erwiderte ihren Blick, mit diesem warmen Ausdruck in seinen Augen, aber ohne sein übliches Lächeln. Wie abstrakt ihre Konstellation, ihre Lage, wohl erscheinen musste... Der Anführer der Drachenjäger, mit einer gefährlichen Wunde an seinem Bauch, saß einer Frau in einem Mantel aus Wechselflüglerhaut gegenüber, die im Kampf gegen einen Nadder ihr Leben riskiert hatte, um... ihn zu retten. Um zu verhindern, dass Viggo starb.

„Das bin ich nicht", gab er zurück und riss sie aus ihren Gedanken. „Kein Mensch ist unschuldig, meine Liebe." Lova schnaubte. „Das hier ist keine Philosophie", hielt sie dagegen. „Das hier ist mein Leben."

Auf Viggos Gesicht zeichnete sich ein schiefes Lächeln ab. „Meine teure Louvisa, das Leben ist nichts als ein Spielfeld", sagte er. „Man muss nur lernen, die Figuren richtig zu setzen."

Lova verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. „Du warst es, der die Figuren auf meiner Seite des Feldes gesetzt hat, als wir damals aufeinandertrafen", schoss sie zurück. „Einzig und allein zu deinem Schutz", erklärte Viggo und lehnte sich zu ihr, als würden seine Worte ihr dadurch begreiflicher werden. „Meinen Schutz? Das nennst du Schutz?", echote sie wütend. „Ich habe alles verloren, deinetwegen, du hast mich nie beschützt, du..." - „Du hast keine Ahnung, wozu Ryker fähig ist!", unterbrach er sie unwirsch. Seine Schultern bebten vor unterdrücktem Zorn.
„Ich weiß, dass ich ohne deinen verdammten Handel besser dran gewesen wäre", schrie Lova zurück.

Viggos Brauen zogen sich unheilvoll zusammen. „Ohne meinen Handel wärst du jetzt tot", entgegnete er, nahezu bedrohlich ruhig. „Mein Bruder hätte dich beiseite geschafft wie einen Haufen Müll und deine Leiche den Haien zum Fraß überlassen, wenn meine Befehle dich nicht geschützt hätten."

Lovas angespannte Haltung fiel in sich zusammen wie ein einstürzendes Kartenhaus. War es tatsächlich möglich, dass Viggo sie nicht anlog? Sie nahm einen tiefen Atemzug, ehe sie wieder zu ihm sah, dieses Mal mit klarem Kopf. „Weswegen?", fragte sie. „Erklär mir, weswegen er mich einfach getötet hätte." Obwohl die Worte wie eine Forderung klangen, verriet ihr flehender Tonfall, dass es sich um eine Bitte handelte. Sie wollte Klarheit, einmal in ihrem Leben wollte sie verstehen...

„Mein Bruder ist kein sonderlich kluger Mensch", sagte Viggo schließlich. „Und er will sich niemandem unterordnen." - „Eine denkbar schlechte Kombination", warf Lova ein und er nickte anerkennend. „Solche Menschen fürchten die Intelligenten, auch wenn sie es zu verstecken versuchen. Sie wollen nicht von ihnen übertrumpft werden, auch wenn es früher oder später geschehen wird. Mein Bruder räumte die Klugen mit Vorliebe aus dem Weg, das tat er vor meiner Zeit und tut es auch weiterhin. Und du bist eine solche Person, Lova", meinte er. „Aber du bliebst auf meinen Befehl hin am Leben, soweit wie möglich fort von ihm."

„Aus dem Auge, aus dem Sinn", entgegnete sie trocken und entlockte Viggo damit ein leises Lachen. „So könnte man es ausdrücken", bestätigte er ihr. „Und... er hätte mich wirklich einfach ohne Skrupel ermordet?", fragte Lova fassungslos. Das erschien ihr so grausam, so unmenschlich, so... sehr nach Ryker. Genau das musste Viggo offensichtlich auch denken, denn er warf ihr einen amüsierten Blick zu. „Meine Liebe, er hat schon viel Schlimmeres aus nichtigsten Gründen getan", antwortete er ihr. „Das rechtfertigt es keineswegs, allerdings glaube ich nicht, dass es dich wirklich verwundert." Da hatte er vermutlich Recht. „Mittlerweile glaube ich, dass Gewalt begonnen hat, ihm Spaß zu bereiten." Viggos Tonfall war hart geworden vor Verbitterung, als er weitersprach.

Lova erschauderte. „Aber wieso?", fragte sie leise. „Kein Mensch wird böse geboren, die Welt ist nicht geteilt in schwarz und weiß. Es muss doch einen Grund geben..." Er zuckte nur die Schultern. „Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil er immer in meinem Schatten stand, vielleicht aus anderen Gründen", erklärte er ohne sonderlich viele Emotionen in seiner Stimme. „Wir sprechen kaum über etwas anderes als das Geschäft." - „Nicht gerade der engste Bund unter Geschwistern", entgegnete Lova trocken. „Nicht wirklich, nein", gab Viggo ihr Recht. „Aber das waren genug klärende Gespräche für einen Abend, meinst du nicht auch?"

Sie musste schmunzeln und nickte. „Möglicherweise", gab sie zu. „Aber eine Frage muss ich dir noch stellen." Er sah sie aufmerksam an und bedeutete ihr, fortzufahren. „Dein Zelt ist ein einziges Chaos, an deiner Tunika klebt Tinte und du sahst ziemlich aufgebracht aus, als ich dich vorhin wiedersah", zählte sie auf und hob für jede Aussage einen Finger in die Luft, um sie zu verdeutlichen. „Was ist vorgefallen?", fragte Lova dann. „Du lässt dich nie so derartig aus der Fassung bringen."

Viggos Blick verfinsterte sich. „Das gesamte Gold der Jäger ist in den Händen der Drachenreiter", antwortete er knapp. „Irgendwer muss ihnen Informationen über unseren Standort geliefert haben." Ihre Augen weiteten sich überrascht. „Das... gesamte Gold?", wiederholte sie ungläubig. Das musste ein schwerer Schlag gewesen sein. „Aber wie haben sie das geschafft?" Viggo ballte die Hände zu Fäusten. „Ich will nicht darüber sprechen", gab er zwischen zusammengepressten Zähnen zurück. „Nur soviel: Ich habe mich am Ende selbst verraten. Das ist nicht nur ein absoluter Tiefpunkt, sondern auch meine eigene Schuld, aber glaub nicht, dass sie damit durchkommen", stellte Viggo dann mit ruhiger Stimme klar und stützte sich an dem Baumstamm ab, um sich zu erheben. Lova versuchte gar nicht erst, zu antworten oder weitere Fragen zu stellen. Wenn Viggo nicht darüber reden wollte, würde sie das respektieren. Zumindest fürs Erste, obwohl sie neugierig genug auf seinen Plan war.

Als Viggo halbwegs sicher auf seinen eigenen Füßen stand, hielt er ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen. Sie nahm das Angebot dankbar an und schaffte es, schwankend auf einem Bein zum Stehen zu kommen. „Kannst du auftreten?", fragte er sie besorgt. „Ich schätze nicht", gab Lova zurück, versuchte es aber dennoch. Sie hatte kaum den Boden berührt, als sie ein schmerzerfülltes Zischen ausstieß, den linken Fuß ruckartig wieder nach oben zog und das Gleichgewicht verlor.

Hätte Viggo sie nicht aufgefangen, wäre sie wohl ziemlich unsanft auf dem Boden gelandet. Sie lag halb in seinen Armen, während sie versuchte, ihren Körper wieder auszubalancieren. „Lass mich jetzt bloß nicht los", sagte sie angespannt und merkte kaum, dass sie die Hände Halt suchend im Stoff seiner Tunika vergraben hatte. Er dagegen bemerkte es sofort und hob die Brauen. „Meine Liebe, selbst wenn ich dich loslassen wollen würde, du hältst mich fest", gab er zurück und Lova zog sofort ihre Hände zurück, ehe sie sich verlegen räusperte. „Du kannst mich loslassen", informierte sie ihn peinlich berührt. Er folgte ihrer Bitte, aber ihr entging nicht, dass seine Haltung darauf ausgerichtet war, sie erneut aufzufangen, falls sie stolpern sollte.

„Danke", sagte Lova dennoch und hoffte, dass er im Halbdunkel ihre geröteten Wangen nicht sah. Götter, sie wusste jetzt schon, dass sie den Weg zurück zu Runna nicht allein schaffen würde...

„Für dich immer gern, meine Liebe", gab Viggo zurück und sie sah, dass er belustigt lächelte. Innerlich schlug sie sich die Hand gegen die Stirn, aber äußerlich setzte sie ebenfalls ein Lächeln auf und räusperte sich ein weiteres Mal. „Ich...", Lova zögerte, ehe sie weitersprach. „Ich glaube nicht, dass ich ohne Hilfe... Also, ich meine, ohne Unterstützung, nun... zurücklaufen kann", erklärte sie befangen, immerhin bat sie gerade einen Mann um Hilfe, der bis vor Kurzem noch den Stachel eines Nadders im Bauch stecken gehabt hatte und als wäre das nicht genug, war er eben... nun ja, Viggo Grimborn. Und sie wusste nicht wirklich, wie sie zu ihm stand. Vertraute sie ihm? Mochte sie ihn vielleicht sogar? Oder hasste sie ihn für die vergangenen Jahre?

Er schien ihren inneren Kampf nicht zu bemerken oder auch lediglich nicht kommentieren zu wollen, denn er trat einen Schritt näher und schlang vorsichtig den Arm um ihren Oberkörper, um sie so zu stützen. „Du erlaubst doch, meine Liebe?", fragte Viggo und sie spürte die Vibration seiner Worte in seinem Brustkorb an ihrem Rücken. „Selbstverständlich", gab Lova zurück, obwohl die plötzliche Nähe sie überforderte. An ihrer Haut konnte sie seinen Herzschlag spüren, der im Gegensatz zu ihrem in einem stetigen Rhythmus verlief. Ihr eigener dagegen beschleunigte sich, ohne dass sie es verhindern konnte. Als wäre all das nicht genug, drang die Wärme seines Körpers selbst durch ihren Mantel und Lova musste um ihre Fassung kämpfen. Selten in ihrem Leben war ihr ein Mensch so nah gekommen, aus praktischen Gründen nicht und noch weniger aus romantischen.

Sie wagte einen Blick hoch zu ihm, nur aus den Augenwinkeln. Natürlich bemerkte er es dennoch, sie sah, wie er schmunzelte. „Du bist nicht sonderlich unauffällig, meine Liebe", sagte er leise, aber Lova hörte seine Worte nah an ihrem Ohr. „Verzeihung", antwortete sie verlegen, während sie gemeinsam zurück zum Lager gingen. Wegen ihres verstauchten Fußes musste er sie nicht nur stützen, sie waren auch nicht sonderlich schnell. „Es gibt keinen Grund, sich zu entschuldigen", entgegnete Viggo, seine braunen Augen sahen unbeirrbar in die ihren. „Ohne dich wäre ich jetzt vermutlich tot, das hier ist das Mindeste, was ich für dich tun kann."

Lovas Anspannung wich, zumindest ein wenig. Die Wärme seines Körpers an ihrem war nicht mehr so ungewohnt und sie fand langsam einen geeigneten Laufrhythmus, um ihr hilfloses Humpeln zu überspielen. Ein kleines Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. „Was natürlich überaus schade wäre", gab sie zurück und legte eine kleine, scherzhafte Spur Sarkasmus in ihre Stimme. Er antwortete mit einem Lachen. „Schmeichelhaft", sagte Viggo dann. „Vielleicht sollte ich dich doch hier zurücklassen." Jetzt musste sie ebenfalls lachen und verpasste ihm einen tadelnden Schlag gegen die Brust. „Das wagst du nicht", sagte Lova und strich sich eine auf Abwege geratene Strähne aus der Stirn. „Da hast du wohl Recht", gab er zurück. „Es wäre auch ein Verlust, eine junge Frau wie dich im Wald allein zu lassen."

Lova lachte wieder. „Ich habe es dir schon oft gesagt und ich tue es gern ein weiteres Mal, deine Schmeicheleien bringen dich bei mir nicht weiter", antwortete sie und überspielte ihre Verlegenheit damit perfekt. „Ich weiß, was du gesagt hast", gab Viggo zurück. „Aber ich werde dennoch nicht aufhören, das verzeihst du mir sicher." Lova schüttelte schmunzelnd den Kopf. „Ganz der höfliche Gentleman", sagte sie belustigt. „Selbstverständlich", entgegnete er. „Ich habe ohnehin die Erfahrung gemacht, dass man so häufig zu besseren Ergebnissen kommt als mit Körperkraft und Gewalt." - „Wobei ein wenig Körperkraft nie schaden kann", fügte Lova hinzu. Viggo lachte kopfschüttelnd und ging mit ihr die letzten Schritte, bis sie wieder bei den Drachenkäfigen angelangten.

„Für heute trennen sich wohl unsere Wege, meine Liebe", sagte er und ließ sie vorsichtig los. Da, wo sein Körper an ihrem geruht hatte, wurde ihr die Kälte der Nacht nur umso deutlicher bewusst, doch sie sagte nichts darüber, sondern nickte nur. „So ist es wohl... Ich nehme an, du hast dich bei der Weide niedergelassen?", fragte er und deutete mit dem Kinn auf den Baum, unter welchem Runna vermutlich noch immer schlief. „Ja", bestätigte Lova und legte fragend den Kopf schief. „Woher wusstest du das?"

„Du konntest nicht bei den übrigen Drachenjägern sein und auch nicht in der Nähe meines Zeltes, dort hättest du mich und den Nadder nicht gehört. Zwischen den Käfigen würdest du dich auch nicht niederlassen, also bleibt nur ein geschützter Standpunkt hier in der Nähe", erklärte er ausschweifend, ohne nur eine Sekunde darüber nachzudenken. „Wie immer liegst du ganz und gar richtig", sagte Lova grinsend. „Sehen wir uns morgen?"

„Das werden wir", bestätigte er und drehte sich herum, um davonzugehen. „Gute Nacht", rief Lova ihm noch nach, während seine Silhouette mit den Schatten der Nacht verschwamm. „Dir ebenfalls, Louvisa", hörte sie Viggo noch antworten, ehe sie sich selbst abwandte und kopfschüttelnd zu Runna zurückkehrte.

Wie schaffte sie es nur, immer wieder in solche Situationen zu geraten?

ClematisWo Geschichten leben. Entdecke jetzt