65. Mörderin

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Yuki sass deprimiert auf ihrem Sitzplatz. Es war der letzte Schultag vom Schuljahr und alle redeten davon, wohin sie verreisten. Einzig allein sie würde wieder mit Zero in der Akademie bleiben. Sayori musterte ihre beste Freundin von der Seite. Sie wusste, dass es der Cross um diese Zeit nie besonders gut ging und die Sache beim Ball erschwerte es nur für sie.
"Nun zieh doch nicht so ein Gesicht. In zwei Wochen werden wir uns ja schon wieder sehen", versuchte sie sie aufzumuntern und schenkte ihr ein Lächeln. Die Braunhaarige liess ihren Kopf nur gegen die Tischplatte knallen. Yori seufzte "Jetzt komm schon, so schlimm wird es schon nicht sein. Stell dir vor, du hast keinen Stress in der Schule, kein lernen, keine Nightclass Schüler, keine Dayclass Mädchen, die Nerven und das Beste, du kannst zwei Wochen lang die ganze Nacht durchschlafen."
Yuki rollte ihren Kopf zur Seite und guckte Yori verzweifelt an "Trotzdem bin ich dann zwei Wochen ganz allein! Zero wird sich verkrümeln wie jedes Jahr. Von dem fehlt sowieso immer jegliche Spur! Dasselbe gilt für Lizzy. Jeder sagt mir, dass sie frühzeitig wegen einem Notfall nach Hause musste, aber ich erreiche sie einfach nicht!" "Mach dir doch nicht so viele Gedanken darüber, die beiden tauchen schon wieder auf. Du weisst doch, Lizzys Familie ist sehr streng und legt grossen Wert auf ihr Erscheinen, da kann es ja mal vorkommen, dass sie sich lange nicht meldet und Zero kommt und geht, wie er will, an das solltest du dich ja schon gewöhnt sein. Geniess einfach mal die ruhige Zeit und erhol dich. Die letzten paar Monate waren anstrengend genug", Sayori gab ihr bestes, aber so ganz überzeugen konnte sie ihre beste Freundin nicht.
"Naja, ich versuchs, aber du musst mir die nächsten zwei Wochen schreiben, sonst sterbe ich hier an Langeweile", deprimiert fiel ihr Kopf auf den Tisch. Yori lächelte ihr aufmunternd zu "Natürlich werde ich das machen. Ich muss jetzt aber los packen. Mein Zug fährt in drei Stunden und vieles liegt verstreut im Zimmer herum." Yori packte ihre Sachen und liess Yuki zurück, welche ihren Kopf zum Fenster gedreht hatte.
Einige Vögel flogen vorbei und das Klassenzimmer wurde von Minute zu Minute immer leerer und leerer, bis sie die Einzige war, die zurückblieb. Ihre Gedanken kreisten um jenen Abend, an dem sie keinerlei Erinnerungen mehr hatte. Alle haben ihr erzählt, sie sei gestürzt und könne sich deswegen nicht mehr erinnern, doch sie hatte dieses Gefühl, dass da mehr war. Sie spürte eine passivaggressive Neigung gegen die Feier, alle ihre Emotionen waren aufgewühlt, als können die sich wenigstens erinnern, aber im Gehirn war alles ausgelöscht.
Was genau der Notfall bei Lizzy war, konnte ihr auch niemand beantworten. Jeder sagte ihr, dass sei normal bei Adligen, doch irgendwie konnte sie das nicht glauben. Mühselig erhob sie sich und lief die längst leeren Schulgänge entlang. Ihr Weg führte sie direkt zum Brunnen, wo sie den Kopf drunter hielt. Es war eiskalt, was ja auch nicht verwunderlich war, immerhin war sie umgeben von einem schneebedeckten Schulgelände. Der Winter war endlich eingebrochen, obwohl es dafür schon reichlich spät war. Immerhin hatten sie bereits März. In ein paar Wochen würden bereits die Kirschblüten wieder erblühen und ein neues Schuljahr begann an der Cross-Akademie.
Yuki erinnerte sich noch genau an den ersten Tag und schon damals war ihr Lizzy aufgefallen. Sie hatte diesen Blick, diesen einsamen lieblosen Blick. Es war genau der gleiche Blick, den Kaname die letzten paar Wochen hatte. Yuki verspürte zwar immer noch eine Wut gegen den Reinblüter, da er ihr nicht erzählen wollte, was damals passiert war, aber trotzdem vermisste sie ihn. Sie konnte diese Gefühle nicht beschreiben, aber sie spürte, dass da eine Verbindung war zwischen ihr und Kaname. In ihrem Inneren wusste sie, dass Kaname irgendetwas mit ihrer Vergangenheit auf sich hatte, und er versuchte es aufs gröbste vor ihr zu verstecken.
Sie würde nur zu gerne wissen wieso. Etwas Schlimmes musste in jener Nacht von vor 11 Jahren passiert sein, dass ein Reinblüter sehnlichst versuchte, es zu verstecken. Sehnsüchtig wollte sie Kaname ausfragen, ihn um Rat bitten, aber sie hatte vor Monaten ein Machtwort gesprochen und dem wollte sie nicht nachgeben, nicht solange er mit der Wahrheit rausrückte.
Schweren Schrittes schlurfte sie zurück in ihr Zimmer. Ihre nassen Haare tropfte ihre Uniform voll, durch den Wind fing sie schlussendlich an zu frieren. Als sie ihr Zimmer erreichte, kamen ihr viele lachende Schülerinnen entgegen, die sich auf die Ferien freuten. Auch Mrs. Sasaki war abmarschbereit und wartete nur, dass alle Mädchen endlich gegangen waren.
In ihrem Zimmer herrschte das wahre Chaos. Überall lagen Klamotten von Yori herum, diese rannte wie wild im Zimmer herum, weil sie nach ihren Schuhen suchte. Yuki konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Normalerweise war ihre Freundin immer top organisiert, ausser wenn es ums Koffer packen geht, da konnte es schon mal in ein Chaos ausarten.
Die Braunhaarige holte sich einige bequeme Kleidung von sich selbst und huschte rüber ins Haus des Rektors. Es war das einzige Gebäude mit einer Badewanne ausgenommen dem Mondwohnheim. Der Rektor war nicht da, Zero war verschwunden, weswegen es angenehm ruhig im Haus war. Yuki liess sich ein Bad ein und setzte sich bereits hinein. Sie brauchte jetzt einfach mal kurz Ruhe. Sie hatte zu viele Gedanken, die keinen Sinn ergaben.
Als das warme Badewasser kalt wurde, stieg Yuki aus der Wanne und zog sich an. Sie liess sich kurz im Wohnzimmer auf dem Sofa nieder und schloss ihre Augen. Einige Minuten vergingen, da hörte sie die Stimme des Rektors. Sofort öffnete sie das Fenster und huschte hinaus. Sie hatte gerade keine Nerven, sich mit ihrem Ziehvater auseinanderzusetzen. Vor allem das er in letzter Zeit sehr besorgt um seine Tochter war.
Auf dem Weg zum Wohnheim begegneten ihr zwei Gestalten, die sie am liebsten vermieden hätte. Hana und Ai. So gut es ging versuchte sie die beiden zu ignorieren, doch diese bauten sich vor der Schülerin auf. "Also Yuki gehst einfach in den Keller des alten Mondwohnheims und erzählst uns dann einfach nicht was drin ist? Jetzt erzähl schon. Was ist an diesem Abend passiert? Vor allem wo ist Lizzy?", quetschte Ai sie aus.
Yuki sah sie nur mit ratlosen Blicken an.
"Wovon redet ihr beide?"
"Es ist also echt wahr. Du hast keine Erinnerungen mehr an den Abend", murmelte Hana. "Wisst ihr etwa, was passiert ist?", harkte Yuki nach. Sie wollte alles wissen, auch wenn es ihr widerstrebte, ausgerechnet die beiden fragen zu müssen. "Wir hatten eine Mutprobe mit dir am Laufen. Du solltest an diesem Abend in den Keller des Wohnheims und was mitbringen, als Beweis, dass du dort warst. Es geht nämlich das Gerücht herum, dass es dort spuken sollte. Du warst bestimmt so eine halbe Stunde drin, dann kam Lizzy vorbei und war völlig aufgewühlt. Mega aggressiv hat sie gefragt, wo du bist und ist dann ebenfalls ins Wohnheim hineingegangen. Was die Schlampe dann gemacht hat, wissen wir nicht. Kurz darauf wurden wir in unsere Zimmer geschickt und niemand hat mehr von Lizzy gehört noch gesehen. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt", beendete Ai die Geschehnisse.
Mit grossen Augen sah die Cross die beiden Schülerinnen an. Irgendetwas ist in diesem Keller geschehen und wahrscheinlich war sie Schuld am Verschwinden von Lizzy. Wortlos lief die Braunhaarige an den beiden vorbei in ihr Zimmer. Yori war bereits gegangen und hinterliess noch einen Zettel mit aufmunternden Worten drauf, jedoch half dies nicht besonders.
Yuki war am Boden zerstört.
Sie war möglicherweise Schuld, dass an diesem Abend alles schief lief.
Krampfhaft versuchte sie sich an das Erlebte zu erinnern, jedoch blieb alles schwarz und heftige Kopfschmerzen traten ein. Sie beschloss auf Spurensuche zu gehen. Sobald alle vom Gelände waren, würde sie aufdecken, was passierte.
Sie wartete und wartete und wartete, bis es spät in der Nacht war und sie sicher sein konnte, dass sogar die alte Schreckschraube Sasaki verschwunden war. Erster Anhaltspunkt war Lizzys Zimmer, diese war jedoch verschlossen, aus gutem Grund. Yuki hatte aber das Glück, dass sie wusste, wo Mrs. Sasaki die Zweitschlüssel von jedem Zimmer aufbewahrte. Die Lehrer, der Rektor und die Vertrauensschüler waren die einzigen, die davon wussten. Alle anderen dachten, dass ihr Schlüssel ein Unikat sei.
Im Büro in einer kleinen Besenkammer befand sich eine Kiste mit allen Schlüsseln. Fein säuberlich nach Nummern geordnet. Sie schnappte sich Lizzys Nummer und huschte so schnell es ging zu Ihrem Zimmer. Leise öffnete sie die Tür. Immerhin war sie nicht ganz die Einzige, die zurückgeblieben ist. Als sie drinnen war, fiel ihr zunächst nichts besonderes auf. Ein ganz normales Zimmer. Sie fing an alles zu durchwühlen. Hinter und unter jedem Möbelstück wurde nachgeguckt, aber da war nichts Auffälliges. Sie fing an, die Schubladen zu durchforsten und da wurde sie fündig.
Es war eine kleine Schatulle. Als sie diese öffnete, erkannte sie Bluttabletten. "Für was braucht Lizzy Bluttabletten?", murmelte sie zu sich selbst, da kam ihr plötzlich das Gespräch zwischen der Umino und dem Rektor in den Sinn. "Sie ist ein Vampir?! Das habe ich völlig vergessen", schockiert setzte sie sich kurz. Jegliche Theorie ging ihr durch den Kopf. Irgendwas war da noch, was einen Bezug auf Lizzys Vampir Dasein hatte, aber sie konnte sich beim Besten Willen nicht mehr erinnern. Sie klatschte sich kurz selber eine. Sie verlor die Konzentration. Sie hatte keine Beweise für nichts. Kurz und knapp entschied sie sich dem alten Mondwohnheim einen Besuch abzustatten.
Mit ihren Handylicht bewaffnet in der einen Hand und in der anderen Hand die Artemis festumschlossen schlich sie sich zum alten Gebäude. Es war ziemlich gruselig, da es mitten im Wald stand. Die Eingangstür war geöffnet. Yuki überkam ein bekanntes Gefühl. Ihre Körper wusste, dass er schonmal hier war. Mit sicheren Schritten lief sie direkt zum Keller. Eine lange Treppe führte nach unten, aber als sie unten ankam wurde sie enttäuscht.
Es befand sich rein Garnichts im Raum, nicht mal ein Staubkorn.
Es sah aus wie sauber geleckt. Irgendwas sagte Yuki, dass man versucht hat, etwas zu vertuschen. Irgendwas musste ihr unten gewesen sein, sie war sich zu 100% sicher. Sie schlich wieder nach oben und durchsuchte die anderen Zimmer im Erdgeschoss, aber auch da, alles sah aus wie frisch geputzt. Niedergeschlagen setzte sie sich auf die Treppe. Sie hatte Hoffnungen hier auf irgendwas zu stossen, doch es war ein totaler Reinfall. Ihre letzte Idee wäre bei Lizzy nachzufragen, aber diese konnte sie nicht erreichen. Sie starrte auf ihr Handy und wählte ihre Nummer. Sie wollte nicht aufgeben. Es ging nur die Mailbox ran. Abermals schrieb sie ihr eine Nachricht und fragte nach, wo sie denn sei und ob alles in Ordnung bei ihr war, aber diese wurden nie gelesen.
Niedergeschlagen begab sich Yuki wieder in Richtung Haupteingang, da überkam sie eine Art Neugier. Wenn sie schon Mal hier war, konnte sie ja auch den Rest erkundigen. Immerhin musste hier ja irgendwas vorgefallen sein. Sie begab sich von Zimmer zu Zimmer, jedoch gab ihr keines irgendwie Aufschluss, was passierte. Nur bei einem war ein sehr sehr grosser Fleck auf dem Boden. Es sah aus wie vertrocknetes Blut.
<<Hier ist also mehr zuhergegangen, als dass die anderen mir erzählen wollen>>
Yuki begann misstrauisch zu werden gegenüber den Leuten, die sie gern hatte. Jeder wusste anscheinend, was passiert war ausser sie. Schwindel überkam sie und ihr wurde leicht Übel. In diesem Moment wurde ihr langsam bewusst, warum alle ihr etwas verheimlichen. Etwas unglaublich Schreckliches musste passiert sein und sie war der Grund, dass es passierte.
<<Vielleicht wird Lizzy meinetwegen vermisst>>
Yuki konnte sich einfach nicht ausmalen, was sie gemacht haben könnte. Sie starrte wieder auf den Blutfleck. Eine Minute verging, dann zwei, dann drei. Ihr ging ein Licht auf. Ihre Knie wurden ganz wackelig und Tränen liefen ihren Wangen hinunter. Ihre Beine gaben nach und sie sass auf dem Boden.
"Ich hab Lizzy umgebracht", flüsterte sie in die Dunkelheit hinein, "Darum erzählt mir auch niemand etwas. Ich hab sie umgebracht. Ich hab sie getötet. Ich... Ich... Ich bin eine Mörderin."
Yuki malte sich alle möglichen Szenarien aus, wie sie Lizzy hätte umbringen können. Je mehr Bilder ihr in den Kopf kamen, desto weniger spürte sie sich und ihre Aussenwelt. Sie konnte nicht atmen, sich nicht bewegen, alles um sie herum verschwand immer mehr. Die Stimmen in ihrem Kopf wurden immer lauter und lauter. Irgendwann war dann nur noch das Nichts. Alles dunkel und ruhig und Yuki konnte sich ein wenig Ruhe gönnen.

Verlorene SeeleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt