16. Kapitel

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Valerie hatte niemandem je davon erzählt.

Davon, wie ihre Beine schlackerten sobald sie vor Menschen stand, wie ihr Atemzug ihr im Hals stecken blieb und ihr Blut zu Eis gefror.

Sie hatte niemandem je davon erzählt wie sie unfähig war, Worte zu formen, wie all die Blicke ihren Kopf vernebelten und ihr Herz anfing zu rasen.

Sie hatte niemandem je davon erzählt dass sie Bühnenangst hatte.

Und das hier vor ihr war keine Bühne, aber es fühlte sich danach an; ein großer Scheinwerfer war auf sie gerichtet und Kichern verbreitete sich in den Reihen, Stille herrschte und alle warteten auf ihren Zug, aber sie—

„Valerie?"
Es war nur ein leises Murmeln und ein Gesicht tauchte vor ihrer Sicht auf, gerunzelte Stirn und besorgte grüne Augen.

„Es tut mir leid", wisperte sie und dann drehte sie sich um und rannte.

Sie rannte bis all die Stimmen verstummt waren, bis die Stille in ihren Ohren dröhnte und ihre Füße taub waren. Und dann rannte sie noch weiter, bis das Schweigen sie zu ersticken drohte und ihre Beine unter ihrem Gewicht nachgaben.

„Valerie!"

Nein. Bitte nicht. Sie wollte seine Stimme jetzt nicht hören.

„Valerie, warte."

Sie drehte sich um und wich seinem Blick bewusst aus. Das Letzte was sie wollte war dass er sie so sah. Wenn sie jetzt noch anfangen würde zu weinen, dann wäre sie komplett aufgeschmissen. Also biss sie ihre Zähne zusammen und drehte ihren Kopf weg. Doch nicht wenig später spürte sie wie er sanft nach ihrem Kinn griff und es zu ihm drehte.

Und da waren sie wieder. Seine verdammten grünen Augen. Sie hasste es, es zuzugeben, aber sobald sie wieder in seine Augen blickte, könnte er alles machen, und sie würde nicht einen Muskel regen.

Sie war hilflos. So hilflos wie ein Baby im Arm seiner Mutter, so hilflos wie ein verlorenes Kind. Sie konnte nichts dagegen tun und es machte ihr Angst. Sobald sie ihm nah war, verlor sie jegliche Kontrolle.

Sie hatte sich in ihn verliebt. Hoffnungslos und unwiderruflich, ohne Absicht.

Und sobald sie die Unausweichlichkeit dieses Fakts realisierte, konnte sie nicht anders als ihre Augen zu schließen, denn nur eine Sekunde länger unter seinem Blick hätte sie vielleicht umgebracht.

Verdammt.
Fuck fuck fuck.

„Val."

FUCK.

Seine Hand auf ihrer Schulter brannte sich in ihre Haut wie Feuer und doch wollte sie nicht, dass er sie jemals losließ.

„Es tut mir leid, Val", sagte Kaden doch sie nahm es kaum wahr, hörte nichts außer den Klang seiner Stimme; die Art wie seine Worte auf ihrer Haut zerschmolzen und sie komplett füllten mit einem widerhallenden Echo.

Val Val Val Val Val Val—

Und dann, als ihre Lungen zu zerplatzen drohten, hörte es plötzlich auf.

"Valerie?"

Sie hob ihren Kopf.

"Es tut mir leid", wiederholte Kaden und sein Blick wurde weicher, seine dunkelgrünen Augen noch dunkelgrüner, falls das überhaupt möglich war. Sein Finger streifte ihren Nacken als er seine Hand wieder auf ihre Schulter legte und es kostete sie all ihre Willenskraft, sich auf seine Worte zu konzentrieren.

"Ich hatte nicht das Recht, dich einfach so zu überwältigen. Und ich hab auf keinen Fall beabsichtigt dich bloßzustellen. Es war dumm von mir und ich weiß nicht wie ich es wieder gut machen soll. Hey, Valerie, hörst du mir zu?"

Natürlich hörte sie ihm zu. Sie konnte gar nicht anders, als sich auf die gleichmäßigen Bewegungen seiner Lippen zu konzentrieren. Aber sie sagte nichts. Eine Wand von Tränen hatte sich hinter ihren Augen gebildet und sie konnte nicht riskieren, sie loszulassen.

"Bitte sag mir was ich tun muss, um das zwischen uns wieder zurecht zu biegen." Er redete immer noch. Seine Augenbrauen formten eine besorgte Linie, leichte Falten bildeten sich um seine Augen. "Ich will nicht dass es dir schlecht geht, Val. Bitte rede mit mir. Ich weiß dass ich das alles nicht mehr rückgängig machen kann, aber was kann ich tun um dir jetzt zu helfen?"

Gehen.
Bleiben.

"Musst du nicht ungefähr 100 Studenten belehren?"

Das war das Einzige was Valerie herausbrachte, bevor sie noch etwas anders Dummes sagte.
Sie konnte nicht mehr klar denken.
Eigentlich schon seit Wochen nicht mehr.

"Valerie", verdeutlichte Kaden und wenn er nicht bald seine Hand von ihrer Schulter nahm würde sie noch auf dumme Gedanken kommen. "Ich bin jetzt hier. Alles andere ist egal. Ich kann das später regeln."

"Warum?", brachte Valerie heraus, doch es hörte sich mehr an wie ein Wispern.

"Warum?!" Kaden lachte, aber es klang humorlos, nervös fast. Er warf seine Arme in die Luft und die Leere auf Valeries Schulter fühlte sich plötzlich falsch an. "Ich weiß nicht ob du es mitbekommen hast", fing er an und sein Gesichtsausdruck war plötzlich eindringlich, beinahe herausfordernd. "Aber du bist mir wichtig. Und ich habe keine Ahnung was da abgeht in deinem kleinen schönen Gehirn und es macht mich verrückt. Und du—" Er stockte. Schluckte. Fuhr sich durch die Haare und drehte sich einmal um. "Du gehst mir nicht mehr aus dem Kopf, okay? Und ich weiß es ist gerade nicht die beste Situation und ich sollte eigentlich die Rolle deines Professors annehmen, aber das ist mir gerade nicht möglich. Weil ich seit dem Wochenende nicht mehr klar denken kann und normalerweise bin ich immer organisiert und gefasst, aber in letzter Zeit kann ich mich auf nichts mehr konzentrieren. Und du hast nicht auf meine Nachrichten geantwortet und als ich dich dann im Saal gesehen hab da hab ich einf—"

"Welche Nachrichten?", fragte Valerie erstarrt und die Erkenntnis kroch in ihre Adern.

"Die Nachrichten", seufzte Kaden, "die ungefähr 50 Nachrichten die ich dir in den letzten Tagen geschrieben hab. Du hast nie geantwortet."

Oh.
Oh.

Natürlich hatte sie nicht geantwortet. Ihr Handy lag in ihrer Mülltonne, genau wie Laria es geraten hatte.
"Ich— es tut mir leid", wisperte Valerie.

So viel lag ihr auf der Zunge.

Ich habe nur über dich nachgedacht.
Ich wünschte ich hätte deine Nachrichten gelesen.
Ich hatte keine Wahl.
Ich wünschte es wäre anders gelaufen.
Deine Augen machen mich nervös.
Ich habe Angst die Kontrolle zu verlieren.
Manchmal siehst du aus wie Lasse.
Ich mag dich und ich weiß nicht warum.

Doch sie sprach keines davon aus.
Weil sein Gesicht wieder viel zu nah war und die Tränenwand zurückkam und weil sie ein Idiot war.
Deswegen drehte sie sich um und rannte.
Weil sie Angst hatte. Angst, dass es wieder genau so enden würde.

Und weil sich in diesem Moment ein anderer, viel angsteinflößenderer Gedanke kristallisierte.

Ich wünschte er hätte mich geküsst.

SIGNEDWhere stories live. Discover now