1. Kapitel

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Die Sonne brannte auf Maribels Haut, Gelächter und Stimmengewirr drangen vom Pool zu ihr her. Sie nippte noch einmal an ihrem Weißwein, bevor sie das Glas mit einem Klirren wieder auf den kleinen Tisch stellte. Las Vegas war im Juni doch heißer, als sie es erwartet hatte. Ohne einen Sonnenschirm oder Sonnencreme lief man ständig Gefahr, seine Haut zu verbrennen.

Doch Maribel genoss die Tage am Pool. Faul sei das falsche Wort, würde sie sagen, pas du tout.
Selbstverständlich nutzte sie ihr Geld und ihren Job aus, um sich so viel Luxus wie möglich zu gönnen. Ein paar Wochen Urlaub im Bellagio Hotel - wer würde da schon Nein sagen?

Den ganzen Tag in der Sonne liegen, die Zigarette in der einen und das Weinglas in der anderen Hand, und abends ein paar Runden im Casino, das klang nach einem angenehmen Zeitvertreib.
Und wenn sie lange genug die Augen offenhielt, dann fand sie sogar einen potenziellen Investor. Dass er ihnen sein gesamtes Vermögen vermachen würde, wusste der unschuldige Mann natürlich nicht, und er würde es auch nie erfahren, vorausgesetzt, Amelia machte ihren Job gut, wovon man in 100 Prozent der Fälle ausgehen konnte.

Doch beachtete man die Anzahl an wichtiger Faktoren für die passende Wahl des Opfers, so realisierte man, dass deutlich mehr hinter der Suche steckte.
Alter, Krankheiten, Vermögen, Herkunft, Job, Status, Beziehungen, Persönlichkeit und Intentionen mussten bedacht werden, um eine perfekte Auswahl zu treffen.
Zum Glück war Maribel nicht selbst dafür zuständig, all diese Infos zusammen zu suchen. Sobald sie jemanden im Auge und kurz abgecheckt hatte, leitete sie ihren Vorschlag an Valerie weiter. Und wenn diese nicht jedes einzelne Detail über den Glücklichen herausfand, dann existierten die Informationen nicht, weder im Internet, noch in den Köpfen jeglicher Personen, eingeschlossen dem Opfer selbst.

Maribels entscheidender Part bestand aus Menschenkenntnis, Kommunikation und Organisation.

1. Niemand wusste wie, doch Maribel sah Menschen mehr an, als jeder andere. Vielleicht lag es an ihrer Liebe zum Detail. Sie zog oft die richtigen Schlüsse und las Informationen an den selbstverständlichsten Dingen ab. Für einen ersten Eindruck und die Suche nach Kandidaten war diese Fähigkeiten extrem hilfreich. So konnte sie Potenzielle anhand kleiner Details von der Liste streichen. Man könnte Maribel auch als menschlichen Algorithmus bezeichnen. Suchen, finden, filtern. Ergebnis ermittelt.

2. Doch einige wichtige Fakten konnte man nicht nur durch das alleinige Beobachten von Personen erkennen. Für einen nächsten Schritt war es wichtig, zu kommunizieren. Durch ein belangloses und scheinbar irrelevantes Gespräch gelangte Maribel an weitere wichtige Informationen. Wichtig war es hierbei, nicht zu viel Aufsehen zu erregen. Authentisch erscheinen, interessiert und doch nicht zu aufdringlich, nur Smalltalk. Angeblich keine tiefere Intention, nur eine kurze Plauderei.

3. Nach diesem Punkt leitete Maribel die gewonnenen Infos so schnell wie möglich an Valerie weiter. Zwischen den beiden fand ein ständiger Austausch statt. Nachdem Valerie alle nötigen Angaben beschafft und den Kandidaten als würdig betitelt hatte, wurde die Wahl von den anderen noch einmal bestätigt. Laria wurde dann zu dem Aufenthaltsort des Erwählten gebracht. May leistete dort erhebliche Hilfe als Pilotin, sowie auch als Ansprechpartner und Kommunikatorin. Wie immer spielte sie ihre Rolle hervorragend. Schließlich mussten die drei nur noch auf die Insel zurückfliegen, nachdem Laria den Typen von ihrer Liebe zu ihm überzeugt hatte.

Maribel warf den restlichen Stummel ihrer Zigarette in den Aschenbecher und re-arrangierte die Kissen auf ihrem lit de repos, einer Art riesigen Sofas.
Als sie sich wieder zurücklehnte und ihren Blick über die Hotelbesucher schweifen ließ, hielt sie abrupt bei einer Frau inne. Die dunkelbraunen Haare fielen in gleichmäßigen Wellen über ihre Schultern und an ihren Ohren glänzten große, silberne Ohrringe.

„Gute Arbeit, Madame Edmond."

Die Stimme hallte in ihrem Kopf.

„Ich wusste doch, dass Ihr Bauchgefühl uns zur Lösung leiten würde."

Das breite Lächeln und die strahlend blauen Augen brannten sich in Maribels Gehirn. Ein Lachen ertönte, erst leise, dann immer lauter, bis es in ihren Ohren klingelte. Das inzwischen hysterische Schreien begleitete die Abfolge an Bilder, die nun an Maribels Augen vorbei zischten. Auf jeder dieser Aufnahmen erkannte man das selbe Gesicht. Lächelnd, ernst, freundlich, streng. Doch immer die gleichen, strahlend blauen Augen.

„Gute Arbeit, Madame Edmond."

Die Lippen der Frau bewegten sich langsam, wie in Zeitlupe, verschwammen vor Maribels Gesicht.

„Gute Arbeit, Madame Edmond,
Madame Edmond,
Madame,
Madame-"

„Ma'am?"

Aus ihrer Schockstarre gerissen wendete Maribel sich um. Vor ihr stand ein junger Mann, vielleicht Anfang dreißig, und runzelte die Stirn.

"Ma'am, ist alles okay?", erkundigte er sich.

Noch immer etwas verwirrt nickte Maribel, kniff dann kurz die Augen zusammen und schüttelte ihren Kopf. Dann setzte sie ein Lächeln auf und blickte den Mann wieder an.

"Nein, alles ist in Ordnung, ich habe nur meinen Ohrring hier irgendwo verloren. Aber danke der Nachfrage, Sir."

Wie zum Beweis ließ sie ihren Blick über das Gelände schweifen und deutete auf ihr linkes Ohr. Während er mit noch immer zusammengekniffenen Augen erst ihr Ohr betrachtete und dann ebenfalls den Boden mit seinen Augen abscannte, ließ Maribel den Ohrring in ihrer Faust schnell in ihre Tasche gleiten.

"Wie sieht er denn aus?", hakte der Typ nach.

Maribel zeigte auf ihr anderes Ohr, an dem noch immer eine große, goldene Creole glänzte. Eine undurchdachte Reaktion, bemerkte sie gleich danach. Ein Ring wäre glaubwürdiger gewesen. C'est dommage.

Mr. Unbekannt hatte seine Suche nun aufgegeben und war dabei, sich zu verabschieden.
"Es tut mir leid Ma'am, ich wünsche Ihnen noch viel Glück bei Ihrer Suche."

Maribel zwang sich ein Lächeln auf die Lippen und nickte dankbar. Ihr Blick huschte über seine Hand.
"Vielen Dank für Ihre Mühe trotzdem. Dürfte ich Sie heute Abend auf einen Drink einladen?"

Er zuckte mit den Schultern. "Den Abend verbringe ich eigentlich im Casino. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, können Sie mich jedoch gerne begleiten." Der Mann streckte lächelnd seine Hand aus.

"Corey Bugiardo", stellte er sich vor.

Innerlich schüttelte sich Maribel. Doch sie behielt ihr Lächeln und schüttelte stattdessen Coreys Hand.

"Fleur de Beaumont. Wir sehen uns heute Abend."

Er nickte ihr zu und kaum hatte er sich zum Gehen gewandt, verdrehte Maribel ihre Augen. Wie sie diese Spezies hasste. Nicht einmal das Geld war es wert, sich mit solchen inkompetenten Diktatoren mit Minderwertigkeitskomplexen aka Männern zu umgeben.

Maribel redete sich zu, dass der missglückte, reiche Nichtsnutz nach seiner absolut naiven Entscheidung, ihr zu vertrauen, sowieso schon bald unter der Erde verrotten würde, so wie es sich für alle arroganten Steckdosenbefruchter eigentlich gehörte.

Seufzend befestigte sie die Creole wieder an ihrem Ohr und erinnerte sich, dass sie nichts mehr mit der männlichen Karen zu tun haben würde, nachdem sie ihm einmal auf den Zahn gefühlt hatte. Und dass ihr Denken keinesfalls von Vorurteilen geprägt, sondern schlicht und einfach vorausblickend und weise war.

Anhand seines fehlenden Eherings und der Annahme ihrer Einladung war Corey jedenfalls nicht vergeben, seine schicke Armbanduhr jetzt jedoch schon. Maribel betrachtete das Schmuckstück in ihrer Hand. Wie einfach es doch war, den Fokus zu verschieben. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass sie seine Hand etwas länger geschüttelt hatte, doch im Vergleich zu den Summen, die er ihnen bald vermachen würde, war das hier nur ein kleines Schnäppchen.

Sie ließ die goldene Uhr in ihre Tasche gleiten und blickte noch einmal zur anderen Seite des Pools.
Die Frau war verschwunden.
Tant pis.
Sie musste aufhören, sie in jedem Gesicht zu sehen.

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