8. Kapitel

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„Mom!"
Ein verschwommenes Gesicht erschien auf dem Computerbildschirm, eine winkende Hand in einem kleinen, verzerrten Fenster.
„Hallo mein Schatz."
Laria betrachtete amüsiert die vergeblichen Versuche ihrer Mutter, ihr Handy so aufzustellen, dass es nicht wegrutschte.

„Wie geht es dir?"
„Gut." Sie setzte ihr breitestes Lächeln auf und nickte ein paar Mal.
„Gut?" Ihre Mutter runzelte die Stirn. „Du siehst etwas müde aus."
„Ach", Laria winkte lächelnd ab, „nur ein bisschen Stress auf der Arbeit."
Besorgt tippte Genia auf die Kamera und sagte: „So ein Bürojob muss anstrengend sein. Den ganzen Tag vorm Bildschirm sitzen. Denk dran, dass du dir auch mal eine Pause gönnen musst." Ihre Augen weiteten sich. „Oh Gott, Laria, hoffentlich ist das hier nicht zu anstrengend für dich!"
„Nein, nein." Sie winkte ab. „Das hier ist meine Pause."

Ihre Mutter dachte, sie wäre die Assistentin von irgendeinem reichen Schnösel in New York. Schön wär's. Entspannt wär's. Und langweilig.

„Wie geht es denn Matthew?"
Oh goodness, Matthew.
„Ach Mom..." Laria schluckte einmal und hoffte, dass ihre Tränendrüsen anfangen würden zu arbeiten. „Es gab einen schrecklichen Unfall..."
Es funktionierte, nicht viel später rann eine Träne ihre Wange hinunter.
„Matthew ist in einem Autounfall umgekommen..."
Sie schluchzte nun heftiger und wischte sich die Tränen vom Gesicht.
Nachdem Amelia die Bremsen manipuliert hat.

„Oh nein, das ist ja schrecklich!"
Laria nickte und schniefte. „Es ist okay, ich rede mit meiner Therapeutin darüber."
„Ich bin froh dass du wenigstens meinen Rat angenommen und dir Hilfe gesucht hast", lobte ihre Mutter.
„Ja, das war die richtige Entscheidung", nickte Laria.
Therapeutin. Na klar.

„Hör mal, gestern habe ich einen Anruf bekommen", sagte ihre Mutter plötzlich und wurde ernst. „Die haben gefragt ob bei mir irgendeine Anna Hauser wohnt. Du hast doch mal irgendwas von einer Freundin die so heißt gesagt, oder?"
Laria schluckte.
Anna Hauser.
Das war eine ihre Identitäten gewesen.
„Eine entfernte Bekannte, die Cousine einer Freundin von einer ehemaligen Kollegin", log sie. „Wieso, was wollten sie?"
Ihre Mutter zuckte mit den Schultern. „Die haben irgendwas von verdächtigen Informationen, Chatverläufen, Telefonaten und so geredet. Vermutlich hatte diese Anna irgendwelchen Dreck am Stecken. Aber dann müssen wir uns ja keine Sorgen machen."
Erstarrt blickte Laria auf den Bildschirm und auf ihre freundlich lächelnde Mutter.
„Klar, ähm hör mal, Mom, ich muss jetzt auch schon wieder Schluss machen, die Arbeit ruft."
„Überarbeite dich nicht, Schatz", seufzte ihre Mutter und winkte zum Abschluss einmal.
Mit einem gezwungenen Lächeln legte Laria auf und ließ ihren Kopf auf die Tischplatte sinken.

Verdächtige Chatverläufe, Telefonate,...
Sie hätten vorsichtiger sein müssen.
Im Nachhinein war es so naiv gewesen. Natürlich konnte man ihre Konversationen verfolgen. Was hatte sie erwartet?

„Es gibt Änderungen", verkündete Laria nachdem sie alle zu einer Versammlung im Konferenzraum berufen hatte. Leicht gelangweilt, vielleicht genervt saßen ihre Kollegen um den glänzenden Tisch. May tippte mit einem wütenden Gesichtsausdruck auf ihrem Handy herum, Maribel nippte an ihrem Weißwein, Alejandra schnitt sorgfältig ihren Käse in kleine Stücke und spießte ihn dann mit einem Zahnstocher auf und Amelia beobachtete sie mit gerunzelter Stirn während sie mit ihrem Messer spielte.

Laria seufzte. Die Aufmerksamkeitsspanne der Frauen schien sich auf ein kleinstes reduziert zu haben. Zeit für Whiskey.
„Also", begann Laria während sie Maribels Weinglas wegschob und ihr stattdessen ein Glas mit Whiskey hinschob. „Wir stoßen an auf  eine neue Ära."
Sie war am Ende der Runde angelangt und hob ihr Glas.
„Neue Ära?", fragte May stirnrunzelnd.
„Ich vermisse Valerie", sagte Alejandra. „Alles Pflanzen sterben ab ohne sie."
„May kümmert sich um Valerie", beruhigte Laria und sendete einen Blick zu May. Sie nickte.
„Auf eine neue Ära in der wir noch mehr undercover verfahren als je zuvor!", in einem Zug kippte sie den Inhalt des Glases ihren Rachen herunter und stand sofort wieder auf, um um den Tisch zu gehen, während sie die Änderungen erklärte. „Wir werden neue Handys bekommen. May kümmert sich darum. Alle alten werden sofort entsorgt. Es gibt neue Nummern und ab jetzt wird nur noch verschlüsselt kommuniziert. Versucht, die Kommunikation über eure Handys möglichst gering zu halten. Und passt auf. Wenn euch etwas Verdächtiges auffällt, sagt sofort Bescheid. Alle Handys jetzt zu mir auf den Tisch."
Murrend zogen die anderen ihre Handys aus den Taschen und legten sie vor Laria ab.
„Was ist los, werden wir abgehört?", fragte Maribel.
„Es gibt keinen Grund zur Sorge", wich Laria der Frage aus und schob alle Handys in eine Tasche.

Die anderen Frauen verließen hintereinander den Konferenzraum und Laria lehnte sich erschöpft an die Tischkante. Sie gab es nur ungern zu, aber diese Sache beschäftigte sie mehr, als sie sollte. Die Gefahren ihrer Arbeit waren ihnen oft gar nicht bewusst. Ein kleiner Fehler und alles war vorbei, sie konnten den Rest ihrer Lebenszeit hinter Gittern verbringen.

So durfte sie nicht denken. Letztendlich lohnte sich das alles. Für das Geld. Die Rache. Die Freiheit.

Für die Unabhängigkeit.

Als Laria ihre Mutter das erste Mal weinend im Wohnzimmer fand, war sie zwölf. Sie kam früher von der Schule als erwartet und fiel in eine Art Schockstarre, als sie den den Kopf ihrer Mutter auf der Tischplatte, die Schultern bebend sah. Für sie war ihre Mom immer das Bild von Stärke gewesen. In schwierigen Zeiten war sie immer diejenige gewesen, die ihre kleine Familie aufrecht erhalten hatte. Das Gefühl der prangenden Leere, der Abwesenheit ihres Vaters hatte sie immer auszufüllen gewusst, ihre kleinen Abenteuer waren noch immer die besten Erinnerungen, die Laria an ihre Kindheit hatte.
Sie in diesem Zustand vorzufinden war nicht nur ein Schock, sondern eine Erkenntnis.

"Er nimmt uns alles weg", flüsterte Genia unter Tränen. "Das Haus, es- wir müssen hier raus, Schatz. Ich weiß nicht, wie wir uns eine neue Wohnung finanzieren sollen."

An dem Tag beschloss Laria, das alle Männer Arschlöcher waren. Den Karton mit den Fotos und den wenigen Erinnerungen, die sie an ihren Vater hatte, verbrannte sie noch am selben Abend, die Asche warf sie in ihren Gartenteich.

Sie musste erwachsen sein. Erwachsen und unabhängig. Das sagte sie sich immer und immer wieder, während sie sich vom Schwimmteam abmeldete, die Schule wechselte und sie in eine kleine Dreckswohnung zogen.Während sie ihren eigenen gebrochenen Arm versorgte, weil sie es sich nicht leisten konnten, ins Krankenhaus zu fahren. Während sie mit nur zwölf Jahren jeden Tag eine kleine Pille mit einem Glas Wasser runterwürgte, während sie spät abends durch die Straßen zog, umgeben von Zigarettenrauch, Alkohol und Drogen, ihren Körper verkaufte an alte, perverse Männer, nur um genug Geld zu haben, um ihre Schulbücher zu bezahlen.

Aber sie war unabhängig. Das war es, was zählte.

SIGNEDWhere stories live. Discover now