11. Kapitel

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Warum schlief Kaden in ihrer Wohnung?

Valerie umrundete das Sofa leise und vorsichtig, betrachte das schlafende Objekt kritisch und beugte sich dann über die Sofalehne, um sein Gesicht näher zu inspizieren.

Vielleicht schlief er nicht wirklich. Vielleicht war er eigentlich ein Massenmörder und wartete auf die richtige Gelegenheit, um sie umzubringen.

Vielleicht hatte sie ihn ausversehen vergiftet und nun lag er tot in ihrer Wohnung.

Vielleicht war das nicht Kaden sondern sein geheimer Zwillingsbruder, der sie für den Club unauffällig beobachten sollte.

Oder vielleicht schlief er auch einfach nur.

Valerie schlich möglichst leise zur Küchentheke, um sich Kaffee zu machen.
Die Mission scheiterte allerdings. Im Gehen stieß sie sich den kleinen Zeh am Wohnzimmertisch, und während sie auf einem Bein hüpfte und einen Teekessel nachahmte, stolperte sie über Coffee, der daraufhin wütend zischte und auf die Theke sprang. Dabei stieß er allerdings eine Tasse um, die mit einem lauten Schellen auf dem Boden zersprang.

Valerie erstarrte und kroch dann ganz langsam von den Scherben vor ihr weg.

Das Bündel auf dem Sofa regte sich und ein paar Sekunden später blickten ihr zwei grüne Augen entgegen.

"Guten Morgen", flötete sie und versuchte, ihr Missgeschick zu vertuschen.

War unmöglich.

"Was zum-"
Kaden blickte von ihr zu den Scherben, zu Coffee und wieder zu ihr.

"Kleines Missgeschick."
Valerie versuchte sich an einem Lächeln.

So schnell es ging fegte sie die Scherben zusammen und schob sie in den Müll.

Dann drehte sie sich wieder um und räusperte sich. "Uhm, was- was machst du hier?"

Für einen Moment wirkte Kaden verwirrt, bis er dann sagte: "Du bist gestern umgekippt. Vielleicht hast du ein bisschen zu viel Wein getrunken. Naja, jedenfalls wollte ich dich hier nicht allein lassen oder einfach so verschwinden, deswegen hab ich mich entschlossen, einfach auf dem Sofa zu schlafen. Ich hoffe das war okay."

Valerie blinzelte.
Zu viel Wein?
Oh Goodness, sie- sie hatte schon Ewigkeiten keinen Alkohol mehr getrunken.

Nach einigen Sekunden fiel ihr auf, dass Kaden noch immer vor ihr stand.

"Uhm, nein, ja, ich meine, klar, vielen Dank."

Unentschlossen drehte sie sich um. "Ich mache dann mal Kaffee."

Ein stechender Schmerz fuhr durch ihren Fuß, als sie einen Schritt nach vorne machte. Es dauerte einen Moment, bis sie die Scherbe in ihrer Haut erkannte.

"Verdammt", fluchte sie und griff nach ihrem Fuß, bis eine Hand ihr zuvorkam.

"Lass mich mal", murmelte Kaden. Er trug sie zum Sofa und legte sie vorsichtig darauf ab.

"Es ist nur ein kleiner Schnitt, kein Grund
zur-"
Sie wurde unterbrochen als er in einer schmerzhaften Geste die Scherbe aus ihrem Fuß zog, während sie ins Kissen schrie.

Dann war der Moment vorbei und ihr Bein sank wieder ins Sofa, als Kaden den Übeltäter betrachtete und schließlich auf den Wohnzimmertisch legte.

Als er sich wieder zu ihr drehte, konnte sie sehen, dass er grinste.

"Findest du meine Schmerzen etwa witzig?", fragte Valerie grimmig.

"Nein, gar nicht, ich-"

"Machst du dich etwa über mich lustig?!", rief sie und griff nach seinem Shirt.

"Uhm- niemals würde ich-" Er räusperte sich.

Valerie ließ schnell wieder los und blinzelte ein paar Mal über den wiedergewonnenen Abstand zwischen ihnen. "Sorry, ich-"

Warum war er plötzlich wieder so nah?
Hatte er- hatte er sich gerade nach vorne gelehnt?

Sie blickte erstarrt in die Wälder Schwedens, unfähig, auch nur einen Muskel zu bewegen.

Dann realisierte sie, dass seine Hand auf ihrer Wange lag.

"Valerie-"
Seine Worte wurden unterbrochen von einem kurzen Aufschrei und Zusammenzucken, als er unbeabsichtigt ihren Fuß streifte.

Sie fuhren auseinander.
"Sorry..."

Valerie schüttelte den Kopf und stand ruckartig auf. "Nein, meine Schuld."

"Ich...ich denke ich sollte dann auch mal gehen", sagt Kaden langsam und Valerie nickte schnell.

"Jap, genau. Auch mal Fehlen- Gehen. Uhm, die Tür ist da."

Sie zeigte auf die zwei Meter entfernte, auffällig auf sie herabschauende Tür.

"Ah ja, richtig. Genau die hab ich gesucht", lachte Kaden nervös, doch es klang mehr wie ein verzweifeltes nach Luft schnappen.

"Dann danke für den Wein und...uhm ja danke. Wir sehen uns." Er nickte schnell, stolperte über Coffee, tätschelte ihn in einem lahmen Versuch, es geplant aussehen zu lassen, und war dann in Nullkommanichts durch die Tür verschwunden.

Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, ließ Valerie ihren Kopf auf das Kissen sinken und schrie so laut sie konnte.

Hatte- hatte sie gerade fast Kaden geküsst?

Sie brauchte ganz dringend einen Kaffee.

Während Valerie an ihrer Küchentheke an der braunen Masse nippte, die ihre Kaffeemaschine mal wieder produziert hatte, versuchte sie den Gedanken an einen himmlisch duftenden Espresso in Kadens Café zu verdrängen. Nicht heute. Nicht jetzt.

Als ihr Handy klingelte, nahm sie den Anruf so schnell es ging an, dankbar für die Ablenkung.

"May ist im Krankenhaus."

"May ist- was?!"
Fast verschüttete Valerie ihren Kaffee.

"Sie ist mit ihrem Flugzeug abgestürzt. Wir konnten bisher noch nicht mehr herausfinden. Sie schien high gewesen zu sein, aber das ist ja nichts Neues."

Unruhig lief Valerie von der einen Ecke des Raumes zur anderen. "Moment, sie ist im Krankenhaus?"

Krankenhaus, das bedeutete öffentliche Aufmerksamkeit, Einsehen von Daten, kontinuierliches Beobachten. Bisher hatten sie alles gegeben, um das zu vermeiden. Und mit alles, meinte sie alles.

Valerie war sich soweit eigentlich sicher gewesen, dass Laria sogar spontan eine medizinische Ausbildung gemacht hätte, um jemanden unauffällig auf Nauru zu versorgen.

Einen Moment herrschte Schweigen, dann sagte Laria leise: "Wir haben sie unter den Trümmern des Fliegers gefunden. Ich weiß nicht, ob sie es schafft."

Valerie blieb vor dem Tisch stehen und ließ sich langsam auf einen Stuhl sinken, ihre Hände zitternd. "Ist sie...wach?"

"Sie haben sie in ein Koma gelegt. Bisher sieht es noch okay aus, ihr Herzschlag ist gleichmäßig, aber sie ist sehr schwach. Außerdem..." Sie machte eine kurze Pause. "Außerdem hat sie ihr Bein verloren."

Es dauerte eine Weile, bis Valerie die Tatsache realisierte.

"Die Ärzte planen, sie bald zu operieren", fuhr Laria fort. "Ich weiß nicht, wie lange wir noch unauffällig bleiben können."

Und jetzt, nach all den Monaten, Jahren der Zusammenarbeit, jetzt wurden sie das erste Mal auf die Probe gestellt.
May retten und dafür den Club riskieren?
Oder den Club retten und dafür May alleine lassen?

"Wir müssen jetzt erst recht vorsichtig sein", betonte Laria. "Ich tue alles, um uns so lange es geht aufrecht zu erhalten. Alejandra ist schon an neuen Dokumenten dran. Das einzige, was ich von dir erwarte, ist dass du unauffällig bleibst. Wie immer keine Kommentare zum Club an niemanden. Und keine Kommunikation über nachweisbare Medien mehr. Dieser Anruf ist schon riskant genug. Ich erwarte von dir, dass du das Handy so schnell es geht entsorgst. Ich werde andere Möglichkeiten finden, um dich zu erreichen. Und bis dahin kannst du noch Urlaub in Schweden genießen."

SIGNEDWhere stories live. Discover now