13. Kapitel

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Laria strich über die schwarze Tinte auf ihrem Knöchel. Natürlich konnten sie May nicht aufgeben. Nicht nur weil sie eine Freundin war, sondern auch weil sie eine Kollegin war.

Ohne May hätten sie niemandem mehr. Keine Pilotin.

Und sie konnten unmöglich riskieren, eine neue Pilotin zu besorgen. Das Risiko war zu hoch.

Was das also im Umkehrschluss hieß, realisierte Laria seufzend, war dass sie sich um so mehr beeilen sollten. Und vorsichtig verhalten.

Und dass sie vielleicht weniger depressive Menschen hätte auswählen sollen.

Blasses Licht schien auf Mays Gesicht. Ihre Augen waren geschlossen, ein Monitor piepte gleichmäßig. Sie hier so liegen zu sehen, war merkwürdig. Reglos.

Das Adrenalin, dass sie sonst unaufhörlich durchdrang, umgab, war verschwunden. Übrig blieb nur die dröhnende Leere, die Absenz von ihr.

Auch wenn May hier war, sie war nicht wirklich da. Ihr Körper lag hier vor ihr, doch May als Persönlichkeit war verschwunden. Abgetaucht.

Das hier war der Punkt, vor dem sich Laria immer gefürchtet hatte. Hier mussten sie sich entscheiden zwischen Business und Freundschaft. Und die Entscheidung hatte ihr immer so leicht geschienen, aber jetzt, als sie Mays blasse Hand mit ihrer eigenen umklammerte, jetzt fragte sie sich, ob sie schwach geworden war.

Verletzlich. Die Fassade die sie sich über all die Jahre aufgebaut hatte, war nicht mehr so standfest wie sie gedacht hatte. Menschlichkeit drang wieder herein.

Manchmal hatte sie sich selbst eingeflößt, wenn du überleben willst, dann musst du alles ablegen. Alles menschliche. All dieser Gefühlscheiß und soziale Bindungen. Wenn du wirklich etwas erreichen willst, dann musst du zum Monster werden.

Natürlich hatte es nicht geklappt. Am Ende fiel wieder alles zusammen, die Menschlichkeit drang wieder durch.

Vielleicht lag es an ihr. Vielleicht sollte es so sein. Vielleicht konnte es nicht anders sein.
Vielleicht war der Mensch einfach stärker als das Monster.

Vielleicht war Liebe einfach stärker als Hass.

Aber egal wer von den beiden machtvoller war, sie hatten etwas viel größeres, etwas, dass nicht nur aus einem, sondern aus beiden Gefühlen bestand: Rache.

Und solange das ihre Antrieb war, würden sie nicht aufgeben.
Niemals.

Gedämpfte Stimmen hinter der Tür rissen sie aus ihren Gedanken. Sie musste so schnell es ging von hier verschwinden. Als sich die Tür öffnete, presste sich Laria gegen die Wand und huschte dann schnell aus der Raum, als die Krankenschwestern Mays Blutwerte checkten.

Eigentlich wollte sie nur herausfinden wo ihr Vater wohnte. Lächerlich, ja, aber sie redete sich immer wieder ein dass es hier um Rache ging. Trotzdem konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, dass es hier um mehr ging. Dass unter ihrer Fassade noch immer ein Fünkchen Hoffnung, ein Fünkchen Liebe für ihren Vater lag. In einer gewissen Weise war das vermutlich natürlich. Ihre Mom war genug für sie, immer schon. Trotzdem klaffte da dieses Loch. Diese unausfüllbare Leere.

Das Fehlen einer Vaterfigur.

Eigentlich wollte sie nur herausfinden wo ihr Vater wohnte. Stattdessen traf sie auf Enzo.
Enzo hatte braune Haare und funkelnde blaue-graue Augen.
Enzo hatte ein perfekt geschnittenes Gesicht und ein breites Grinsen.
Enzo hatte breite Schultern und starke Arme.
Enzo hielt sie als sie zusammenbrach.

Enzo war ihr Zuhause.

Enzo war alles. Enzo war ihre Hoffnung und ihre Liebe.

Enzo war der einzige, bei dem ihre Fassade bröckelte.

Enzo war der einzige der sie etwas fühlen ließ.

Und so sehr sie diese Taubheit auch ausnutzte und sich selbst in Gefühlslosigkeit ertrank, wenn sie bei ihm war, fühlte sie sich geborgen.

Nachdem sie spät nachts durch die Straßen gezogen war, all den Dreck und den Schweiß auf sich genommen hatte, nachdem sie weinend zusammengebrochen war in einer dunklen Straßenecke, sich auf den dunklen, schmutzigen Asphalt erbrochen hatte, nachdem sie zitternd in der Kälte gesessen hatte obwohl es schwitzend heiß war, nach all dem schlossen sich zwei Arme um ihren Körper und hielten sie so nah es ging, so warm es ging.

In all diesem verdammten Scheiß war Enzo das einzige, was sie am Leben hielt.

In einer besonders schlimmen Nacht, als sie vor seiner Haustür blutend zusammenbrach, ihr Gesicht überströmt von Tränen, Dreck und Blut, kaum noch fähig, sich auf ihren eigenen Beinen zu halten, in dieser Nacht öffnete er die Tür ohne Zögern, trug sie schweigend in sein Bad, wusch sie sorgfältig in der Badewanne und ließ sie in seinem weichen Bett schlafen, auch wenn er dafür die Nacht auf dem Sofa verbringen musste.

Sie war diese Form von Sorgfältigkeit nicht gewohnt, sie wusste nicht wie sie mit dieser Zuneigung umgehen sollte.

Sie liebte ihn, mehr als sie jemanden je geliebt hatte, mehr als sie jemanden jemals lieben würde.

Aber natürlich war es nicht so einfach.

Als sie am nächsten Morgen aufwachte, war er verschwunden, wie immer. Manchmal löste er sich einfach in Luft auf und kam wieder zurück mit einem blauen Auge, blutenden Lippen und dem Geruch nach Elend.

Sie wusste, wie sehr er sie anfassen wollte, wie sehr er ihre Berührung ersehnte, doch jedes Mal wenn seine Finger ihre blanke Haut streiften zuckte sie zusammen unter dem Gewicht von all den schmutzigen Fingern die ihre Haut zuvor berührt hatten.

Nach einer Nacht voll von Schmerz konnte er ihr nicht noch einmal dasselbe antun.

Sie wusste wie sehr es ihm wehtat dass er nie unter den Stoff ihres Sweaters kommen würde, dass diese physische Barrikade sie für immer umgeben würde.

Und dann verschwand er wieder, Telefongespräche und plötzliche Aufbrüche.

Sie wusste nicht wohin, aber sie wusste es hatte etwas zu tun mit seinem Vater und, irgendwie, mit ihrem Vater.

Einmal überraschte ihr Vater sie, stand plötzlich vor der Tür und starrte auf Laria und Enzo herab.

Da war er, der Grund warum sie ihre Kindheit isoliert verbracht hatte, der Grund warum sie noch immer jeden Tag litt unter den Folgen seiner Absenz.

Da war er und es war so unreal, sein Blick, seine Faust, der Schlag in ihr Gesicht. Das Blut, sein Grinsen und seine Worte, drei betonte Silben: „Halt dich fern."

Und sie sah den Schmerz in Enzos Augen, nicht nur physisch, der Schmerz, dass er da stand und nichts tun konnte, seine Hände zusammengebunden, seine Lippen geschwollen, sein Gesicht blutig.

Das Produkt von ihrem Vater, das Ergebnis seiner Schläge, seiner Hand.

Sie sah in nie wieder.

Ihre Mom erfuhr nie etwas von Enzo.

Es war besser so, sagte sie sich, doch sie dachte jeden Tag an ihn.

Was hatte sie falsch gemacht?
Was hatte sie zum Scheitern gebracht?

Und auch unausgesprochen blieb es immer wahr, der Fakt der noch immer zwischen ihnen schwebte:

Sie war 15, er war 26.

Es hätte nie funktioniert.

SIGNEDWhere stories live. Discover now