Uno

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Wenn Etienne an den Sommer 1989 in Casalborsetti zurückdachte, waren es nicht die langen Sommerabende am Lagerfeuer oder die nie enden wollenden Tage am Strand, die ihm als erstes ins Gedächtnis kamen

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Wenn Etienne an den Sommer 1989 in Casalborsetti zurückdachte, waren es nicht die langen Sommerabende am Lagerfeuer oder die nie enden wollenden Tage am Strand, die ihm als erstes ins Gedächtnis kamen. Es war die Begegnung mit einem Jungen, die ihn auch Jahre später noch zum Lächeln brachte. Etienne würde sogar sagen, dass dieser Junge der Melodie seines Lebens einen anderen Rhythmus gegeben hatte.

Nun saß er, wie so oft, an seinem Flügel, spielte Liebestraum Nr. 3 von Liszt und dachte an den Sommer vor so vielen Jahren und die beiden Herzen - die, so verschieden sie auch gewesen waren - einen Sommer lang im selben Takt geschlagen hatten.

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Es war einer jener heißen Sommertage, die Etienne eigentlich auf der Terrasse hinter der kleinen Villa seiner Eltern verbracht hätte. Dort saß er oft stundenlang im Schatten des großen Oleandernbaumes und transkribierte ein Lied oder las in einem Gedichtband von Umberto Saba.

Aber jetzt stand er mit seinen Eltern auf der Piazzetta des kleinen Ortes in der Toskana, in dem sie nun schon so viele Jahre lebten. Sein Herz war schwer, denn sie warteten auf den Reisebus, der ihn in das Feriencamp in der Nähe von Ravenna bringen sollte.

Seine Eltern hatten jede Lira zweimal umgedreht, um Etienne diese Reise zu ermöglichen. Nur legte Etienne so wenig Wert auf das Reisen, wie auf die Gesellschaft gleichaltriger Teenager. Er lebte in seiner eigenen Welt, die bestimmt wurde von Poesie, Literatur und allem voran der Musik.

Nur zu gerne hätte er den Sommer an der Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Rom verbracht und dort einen Klavierkurs belegt, aber er wusste, dass seine Eltern dafür nie das Geld hätten aufbringen können. Das Geld reichte gerade so für den Lebensstandard, den sie sich angeeignet hatten.

Seine Mutter war mit ihrer Arbeit als Französischlehrerin die Hauptverdienerin in der Familie, denn sein Vater besserte das Einkommen lediglich als Gesangslehrer auf. Seine Arbeit an der örtlichen Philharmonie hatte er verloren, als diese bei einem Brand, drei Jahre zuvor, bis auf die Grundmauern runtergebrannt war.

Träume waren etwas für Leute, die es sich leisten konnten und somit für Etienne so unerreichbar, wie die Vollendung der 19. Fuge von Bach.

Das laute Hupen des blauen Reisebusses riss Etienne aus seinen Gedanken. „Komm her, mein Schatz. Gib deiner Mama noch einen Kuss", sagte seine Mutter und drückte ihn feste an sich, während sein Vater eine Hand auf Etiennes Schulter legte.

„Genieße die Zeit und vergrab dein Gesicht nicht wieder nur in deinen Büchern. Das Leben hat noch mehr zu bieten." „Mach ich nicht, Papa. Danke, dass ihr mir das ermöglicht", erwiderte Etienne und lächelte seinen Eltern nochmal zu, als er zusammen mit zwei Mädchen den Bus bestieg.

Er war ihnen nicht böse. Wie könnte er? Er wusste, dass, wenn seine Eltern eins im Überfluss besaßen, dann war es die Liebe, die sie ihm schenkten.

Dennoch verschwand nun das Lächeln von seinem Gesicht, als er in die fremden Gesichter blickte. Fast alle Reihen waren schon besetzt und so ließ er sich neben einem Mädchen auf den Sitz fallen. Gerne hätte er am Fenster gesessen und die vorbeiziehende Landschaft betrachtet, aber so setzte er, kaum, dass der Bus ins Rollen kam, die Kopfhörer seines Walkmans auf und nahm das Notenheft aus seinem Rucksack.

Knapp zwei Stunden später hielt der Bus an dem kleinen Campingplatz in Casalborsetti und fast hätte Etienne es versäumt auszusteigen, so vertieft war er in das Klavierstück von Chopin gewesen. Doch in letzter Minute sprang er von seinem Platz auf und so musste der schlecht gelaunte Busfahrer sich erneut aus dem Bus quälen, um Etiennes Gepäck und die Gitarre aus der Kofferluke zu holen.

Der Bus fuhr ab und wirbelte eine Staubwolke auf, die Etienne erst die Sicht nahm, doch dann wurde nach und nach der Blick auf das freigegeben, was nun sechs Wochen sein Zuhause sein würde.

Er setzte die Kopfhörer wieder auf den Kopf, drückte die Playtaste seines Walkmans und widerstand jedem Drang, sofort die Flucht zu ergreifen.

Mit seiner schweren Tasche in der einen, der Gitarre in der anderen Hand und seinem Rucksack auf dem Rücken, ging er auf die Rezeption zu. Die Musik auf seinen Ohren war wie der sichere Hafen, das Camp vor ihm wie die raue See.

Die Melodie des SommersWhere stories live. Discover now