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Emily saß in Neds Wohnzimmer und konnte nicht aufhören, sich die schrecklichsten Dinge auszumalen, die mit Levin passieren könnten. Doch nicht nur um Levins Wohlergehen sorgte sie sich, sondern ihr wurde auch bewusst, dass wenn er scheiterte, der ganze Plan nicht mehr funktionieren würde und sie zum einen ihren Vater nicht würde befreien können und Deon mit Ageirs Macht die Welten mit Krieg überziehen würde. Kein Druck.

Ori hatte Emily schließlich einen Kräutertee gebracht und sie hatte sich in einen der Sessel gelümmelt. Der warme Tee hatte sie trotz ihrer wirbelnden Gedanken schläfrig gemacht, sodass sie irgendwann einnickte.

Er ließ die Tür hinter sich zufallen und begann seinen Weg in Richtung Akademie. Sich möglichst im Schatten und in Seitenstraßen haltend, beobachtete er ständig seine Umgebung und hielt nach Wachen und Spionen Ausschau. Gerade als er von einer der Seitenstraßen wieder auf die Hauptstraße treten wollte, spürte er, wie ihn etwas Kaltes in den Rücken pikte. Reglos blieb er stehen. Er musste den Reflex unterdrücken, sich umzudrehen oder wegzuducken, denn eine Stimme hinter ihm zischte:

"Na, wen haben wir denn da? Wenn das nicht unser Lieblingsverräter ist. Das, was sich so unangenehm spitz und kalt zwischen deinen Schultern anfühlt, ist, wie du sicher bereits erraten hast, mein Degen. Es fällt mir schwer, mich selbst davon abzuhalten, dir einfach von hinten dein liebeskrankes Herzchen zu durchbohren, also gib mir besser keinen Grund, es doch zu tun. Oder soll deine kleine Freundin sich die Augen ausweinen?" Ares. Natürlich.

Sich ergebend hob er also die Hände, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war und sich nicht wehren würde.

"So ist es fein. Unsere Freunde werden dich nun fesseln und du wirst keinerlei Anstalten machen, ihnen ihre Aufgabe zu erschweren. Du wirst mitkommen und der Meister wird entscheiden, was mit dir zu tun ist. Los", schnappte Ares.

Er spürte, wie er von mehreren Händen gepackt und mit Seilen gefesselt wurde. Ein Stich, um einiges fester als notwendig, bedeutete ihm, loszugehen und so trottete er vor Ares her, den Kopf gesenkt. Ließ sich abführen bis zur Akademie, die Treppe hinauf in Deons Büro.

"Levin! Was für eine schöne Überraschung. Aber wo hast du meine Enkelin gelassen? Na komm schon, Junge, sprich mit mir", sagte Deon zu ihm in einem Tonfall, der sowohl väterlich und behütend als auch drohend war. Es war der Ton, in dem er immer mit ihm sprach. Immer gesprochen hatte. Ein „Tu, was ich sage und alles wird gut", aber gleichzeitig ein „Versuch lieber nicht, dich mir zu widersetzen, denn das wird ziemlich schmerzhaft für dich".

Und bis vor kurzer Zeit hatte er diesem Ton gehorcht und immer war alles gut für ihn ausgegangen. Wie gern würde er einfach nachgeben und das tun, was Deon ihm befahl. Dem Professor zu folgen, war immer einfach gewesen, nicht so wie jetzt, wo alles kompliziert und schwierig war. Wo jede Entscheidung Konsequenzen nach sich zog. Wann war sein Leben so anstrengend geworden? Natürlich in dem Moment, in dem er begann, sich Deon zu widersetzen. Weswegen? Ihretwegen. Aber war sie all das wirklich wert?

"Ich- Ich will wieder in deine Dienste treten, Deon. Ich habe eingesehen, dass es falsch war, dich zu hintergehen."

Obwohl er nicht laut sprach, hallten seine Worte in dem großen Büro wider.

"Dir muss doch klar sein, dass du zu meinen engsten Vertrauten gehört hast", erwiderte der Professor, und in seiner Stimme konnte er hören, dass der Alte die Wahrheit sagte. Sein Verrat schien Deon wirklich schwer getroffen zu haben.

"Ich habe alles für dich getan, hätte alles für dich gegeben. Du bist wie ein Sohn für mich", fuhr der Professor in ein einem eindringlichen, fast flehenden Tonfall fort, der sich jedoch rasch in kalten Zorn verwandelte.

"Du solltest aber auch wissen, dass ich es nicht dulde, wenn man sich meinem Willen widersetzt. Und Verrat ist immer umso schlimmer, je näher der Verräter dem Verratenen stand. Ich kann dir nicht einfach so verzeihen. Das würde meine Autorität fürchterlich untergraben." Deons war Stimme ganz ruhig.

Trotzdem jagte sie ihm ein Schauer über den Rücken. Er wusste, was nun kommen würde und versuchte, sich bereit zu machen. Doch er wusste auch, dass es zwecklos war, den fürchterlichen durchdringenden Schmerz, der seine Muskeln zu versengen schien, sogar noch verstärkte. Obwohl seine Knie unter ihm nachgaben, schrie er nicht auf. Sein Meister hatte ihm schließlich beigebracht, keine Schmerzen zu zeigen.

Ein Hauch von Genugtuung, gepaart mit Anerkennung und Stolz huschte über Deons Gesicht. Er sah dem alten Mann fest in die Augen.

"Meister, bestraf mich ruhig. Ich habe es verdient, aber wir wissen beide, dass ich unersetzlich für dich bin. Vor allem nun, da du im Besitz Ageirs bist. Du brauchst jemanden, der dir zuverlässig dient. Und du weißt, dass weder Ares noch Kail dazu in der Lage sind. Ares ist nicht klug genug und Kail sitzt lieber in der Bibliothek, als sich draußen die Finger zu beschmutzen." Er wusste, dass es gefährlich war, diese Argumentationslinie zu verfolgen, doch Deon rühmte sich stets damit, ihm nicht nur körperliche, sondern auch charakterliche Stärke verliehen zu haben. Das Einzige, was er fast so sehr schätzte wie jemanden, der ihm Komplimente machte, war jemand, der sich selbst gut verkaufen konnte. Um sicherzugehen, setzte er hinzu: "Natürlich weißt du diese Dinge bereits. Ich bin mir sicher, dass du selbst am besten weißt, was deinen Zwecken dient."

"Du hast Recht, Levin", sagte der Alte mit seiner samtweichen Stimme. Doch gerade, als er dachte, er hätte Erfolg gehabt, fuhr der Professor fort: "Du hast es verdient, bestraft zu werden."

Auch diesmal schrie er nicht, obwohl er fast ohnmächtig wurde vor Schmerz. Völlig benommen wurde er grob von Ares gepackt und in den Kerker geschleift.

Als er wieder ganz bei Sinnen war, umgab ihn grauer, nasser Stein. Er war sich bewusst gewesen, dass er wahrscheinlich in einer Zelle landen würde. Nur dass es so unangenehm sein würde, hatte er nicht erwartet. Er hatte noch nie Angst vor engen Räumen gehabt, aber dieses Verlies - das war etwas völlig anderes. Hunderte von Metern unter der Stadt konnte er förmlich fühlen, wie unzählige Tonnen von Gestein auf ihm lasteten. Die Luft war feucht und modrig und roch nach Verwesung.

Natürlich war er schon hier gewesen, unzählige Male schon, doch nie auf dieser Seite der Zellentür. Die Zellen waren klein, fast winzig. Möbel gab es natürlich keine. Die Langzeitgefangenen wie Emilys Vater bekamen eine Pritsche, auf der sie schlafen konnten, damit sie sich auf dem feuchtkalten Boden keine Lungenentzündung holten. Doch er hatte nur den nackten, klammen Boden, um sich hinzusetzen. Ein Loch befand sich darin, vom Durchmesser gerade einmal so groß wie eine Orange. Es diente zur Verrichtung der Notdurft und führte ins Abwassersystem. Das bläulich-weiße Licht des Reinigungskristalls schien vage herauf.

Wenn er es nicht besser wüsste, könnte er versuchen, irgendwie durch dieses Loch zu entkommen. Es größer zu machen, aufzuhebeln - irgendetwas. Doch da er bei der Konstruktion und Sicherung der Verliese mitgeholfen hatte, wusste er, dass sie völlig ausbruchsicher waren. Aber wollte er überhaupt ausbrechen? Natürlich nicht. Es lief gut. Bald würde er Deon so weit haben. Bald würde sein Meister ihm verzeihen. Er wiederholte diese Gedanken immer wieder, erst innerlich, dann leise vor sich her murmelnd.

Heart of Ageia 1 - FluchtWhere stories live. Discover now