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Sie erwachte erst am Abend wieder und schlurfte ins Badezimmer, wo sie nach der Toilette auch einen der in einem hölzernen Becher neben dem Waschbecken stehenden Zahnstrauchzweige verwendete und sich schließlich das Gesicht mit kaltem Wasser abwusch. Sie fühlte sich wieder ein bisschen mehr wie sie selbst, auch wenn sie eine heiße Dusche nicht abgelehnt hätte. Schulterzuckend wandte sie sich um und tappte zum Wohnzimmer, wo sie Levin und Ned am Esstisch sitzen sah. Sie hatten sie noch nicht bemerkt, also trat sie einen Schritt zurück in den Flur und lehnte sich an die Wand.

Sie hatte nicht wirklich vor zu lauschen, doch fühlte sich auch nicht danach, Levin jetzt gegenüberzutreten. Erst wollte Emily etwas Luft schnappen und die Winkel ihres Körpers nach ein wenig Mut und Selbstbeherrschung absuchen, die sie zusammensammeln könnte.

"Nein, du verstehst das nicht. Sie wird mir nicht verzeihen. Wieso denn auch? Das, was ich getan habe, ist unverzeihlich. Ich habe ihre Familie – ach was, ihr Leben zerstört. Und das ihrer Mutter." Emily war erschrocken. Natürlich war das, was Levin da sagte, genau das, was sie ihm im Stillen auch vorgeworfen hatte, doch es ihn aussprechen zu hören, mit dieser Verzweiflung in der Stimme, war etwas Anderes. Sie hätte nicht erwartet, dass er exakt wusste, weshalb sie ihn weggestoßen hatte. Emily konnte Neds Antwort nicht verstehen, doch es war ziemlich klar, dass es Levin nicht glücklicher machte.

"Ihre Mutter hat versucht, sich das Leben zu nehmen, Ned! Und ich bin daran schuld. Und Emily? Sie ist so verletzt. Als ich sie das erste Mal sah, wusste ich schon, dass sie immer noch schwer darunter leidet, dass ich Lian damals entführt habe." Er seufzte schwer. „Etwas ist falsch an mir. Es muss etwas Abnormales an mir sein. Ich war noch ein Kind! Und ich habe einem anderen Kind den Vater weggenommen! Welches Kind tut so etwas?" War das ein Schluchzen? Nein, das kann nicht sein.

Ich habe schon so viele schreckliche Dinge getan und ich bin nicht einmal erwachsen! Aber das Schlimmste ist doch, dass ich sie alle nie bereut habe, bis jetzt. Bis ich Emily kennengelernt habe. Aber sie hasst mich. Sie hasst mich, weil sie klug ist." Emilys Herz schien still zu stehen. Sie war tief berührt, so wie immer, wenn Levin etwas über sich selbst erzählte. Außerdem hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie dieses Gespräch belauscht hatte. Es war schließlich eine äußerst private Unterhaltung von Levin und Ned, auch wenn es um sie ging.

Hin- und hergerissen stand sie im Flur und bemerkte erst, dass Ned aufgestanden war, um in die Küche zu gehen, als er vor ihr stand und sie mit hochgezogenen Augenbrauen ansah. Emily verzog das Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen und legte mit einem flehenden Blick einen Zeigefinger an die Lippen. Ned ruckte auffordernd mit dem Kopf in Richtung Wohnzimmer und drehte sich dann unvermittelt um, um in die Küche zu gehen.

Emily hatte ihn verstanden. Du weißt Bescheid, geh hin und tu etwas. Sie holte tief Luft und betrat das Wohnzimmer. Levin saß da, das Gesicht in den Händen verborgen, ansonsten unbewegt. Wie verloren er aussieht.

Gerade wollte Emily sich räuspern, als Levin die Finger spreizte und sie erblickte. Langsam nahm er die Hände vom Gesicht und sah sie mit einem sehr seltsamen Gesichtsausdruck, teils Schreck, teils Schmerz, teils Hoffnung und teils Reue, an. Da Emily nicht wusste, was sie tun sollte, erwiderte sie den Blick. Es war, als würde eine stumme Unterhaltung zwischen ihnen stattfinden. In Emilys Innern tobte ein Krieg.

Eine Stimme schrie:

"Schlag auf ihn ein! Er ist der Urheber deiner Leiden! Er ist schuld daran, dass deine Mutter im Krankenhaus liegt, weil sie sich umbringen wollte!"

Eine weitere Stimme wetterte dagegen: "Er ist nicht schuld daran! Er hat nur getan, was Deon ihm aufgetragen hat!" Worauf die erste Stimme erwiderte "Er hätte es dir zu Beginn sagen können, anstatt dir etwas vorzumachen! Er versucht dich nur rumzukriegen, so wie Lilli auch!"

Heart of Ageia 1 - FluchtWhere stories live. Discover now