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Tropf. Tropf. Tropf ...

Die kleine Zelle, in die nur das Geräusch des von der Decke tropfenden Wassers drang.

Die kahle Wand, die das Einzige war, was man hier anschauen konnte und die Risse in ihr, die im flackernden Licht der Fackeln tanzten, ewig tanzten.

Tropf. Tropf. Tropf ...

Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Wochen. Alles bedeutungslos, alles dasselbe. Wie lange diese Qual schon dauerte, war nicht mehr zu erfassen. Jegliches Gefühl für Raum und Zeit war längst verloren und das Weiterleben ein einziges ewiges Tropfen. Tropfen. Tropfen ...

Doch dann Schritte.

Tapp. Tapp. Tapp ...

Seit langer Zeit waren da keine Schritte mehr gewesen. Immer nur Tropfen. Tropfen. Tropfen. Aber jetzt Schritte und Rascheln. Wie Stoff, der über Steinboden schleift. Jemand kam. Warum?

Eine grauenvoll vertraute Stimme begann zu sprechen:

„Ich habe sie endlich gefunden. Du wolltest sie verstecken, doch nun kriege ich das Mädchen!" Schrilles Lachen, dessen Echo nach all der Leere etwas Neues zurücklässt:

Verzweiflung. Angst. Ohnmacht. Einen pochenden Schmerz.

Poch. Poch. Poch.

POCH! POCH! POCH!

Schweißgebadet fuhr Emily aus dem Schlaf und brauchte ein paar Sekunden, um zu verstehen, dass es nur wieder einer ihrer Träume gewesen war. Hastig blickte sie sich in ihrem Zimmer um, um sich zu vergewissern, wo sie war und die Panik zu stoppen, die ihr den Hals zuschnüren wollte: Ihre weißen Möbel auf dem roten Teppich, die in dem kleinen Raum viel zu groß wirkten. Die Kleidung vom Vortag, die zerknüllt auf dem Boden lag. Die weißen Wände. Mit zitternden Fingern griff sie nach ihrem Handy: Neun Uhr morgens. Ihr Herz schlug wie wild. Ihr Atem ging stoßweise. Ihre langen blonden Haare klebten verfilzt in ihrem Gesicht und an ihrem Rücken.

POCH! POCH! POCH!

Das Klopfen war real.

„Mach doch endlich auf!", zeterte ihre Mutter Vivian und hämmerte an die verschlossene Zimmertür. Stimmt. Wir haben uns gestern gestritten und dann habe ich abgeschlossen, fiel es ihr wieder ein. Denn eigentlich schloss sie sich nicht zum Schlafen ein.

„Jaha! Ich mach schon", grummelte Emily und schleppte sich aus ihrem Bett in Richtung Tür, um den Schlüssel umzudrehen.

„Nur weil Sommerferien sind, kannst du doch nicht den ganzen Tag verschlafen! Ich brauche deine Hilfe, um die letzten Kisten auszupacken." Nörgelnd verschwand ihre Mutter, noch bevor Emily die Tür überhaupt geöffnet hatte. Augenrollend schnappte sie sich Unterwäsche, schwarze Shorts, ein ebenso schwarzes Trägertop und ihr schwarz-weiß kariertes Lieblingsflanellhemd aus dem Kleiderschrank und trippelte durch den schmalen Flur ins gegenüberliegende Badezimmer. Aus dem Wohnzimmer hörte sie ihre Mutter in Umzugskartons kramen.

Das warme Wasser der Dusche löste ihre verspannten Muskeln und der vertraute Kokosduft ihres Lieblingsshampoos beruhigte sie zusätzlich. Sie versuchte angestrengt, sich an den Traum zu erinnern, der sie so unruhig hatte schlafen und schließlich so unsanft hatte aufwachen lassen. Vergeblich. Wie immer konnte sie es nicht.

Sie schob ihre Unterlippe vor, so wie sie es immer tat, wenn sie nachdachte, aber sie kam zu dem Schluss, dass es sowieso unwichtig war.

Es war ja nur ein Traum, versuchte sie sich selbst in Gedanken zu überzeugen.

Fertig geduscht band sie sich ein großes, flauschiges Handtuch um, wickelte ein zweites zu einem Turban auf ihrem Kopf und betrachtete sich im Spiegel. Die unruhige Nacht hatte ihre Spuren hinterlassen. Durch ihre helle Haut schimmerten bläuliche Ränder unter ihren hellgrauen Augen und ihre Lippen waren blass und konturlos. Sie zuckte die Achseln und streckte sich selbst die Zunge raus. Emily war nicht sonderlich eitel, obwohl sie oft von Fremden angeflirtet wurde. Sie hasste das.

Heart of Ageia 1 - FluchtTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon