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Wieder an der Oberfläche schauten sie beide noch einmal zur Stadt zurück. Wie alle größeren Städte konnte man auch Ageiria in der Dunkelheit von Weitem sehen, weil ihre Lichter den Himmel erleuchteten. Eine fremde Stadt in einer fremden Welt und doch der Ort, an dem ihre eigenen Wurzeln lagen. Verwundert schüttelte Emily leicht den Kopf. Hätte ich diesen Ort, diese Welt jemals gesehen, wenn wir nicht umgezogen wären? Oder wenn mein Vater niemals entführt worden wäre?

Plötzlich schwebte etwas Kleines, Leuchtendes an ihr vorbei und Emily dachte zunächst, es wäre ein Glühwürmchen, bis sie genauer hinsah und ihr vor Staunen der Mund aufklappte. Wie ein winzig kleines Kind mit Flügeln sah es aus und es leuchtete grünlich-gelb.

"Das ist ein Glühkerlchen. Eine der Sidhe-Gattungen, von denen viele hiergeblieben sind. Ihr Leben ist an den Wald gebunden, in dem sie geboren werden. Nur im Winter verlassen sie ihn. Wenn einige von ihnen dann woanders Nachwuchs kriegen, bleiben sie mit ihren Kindern dort. Sonst kehren sie immer zurück. Es sind harmlose, aber listige kleine Dinger."

Während Levin sprach beobachtete Emily, wie das Glühkerlchen um seinen Kopf schwirrte und mit seinem Glühen Levins Haar einen goldenen Schein verlieh. Fasziniert sah sie dem kleinen Geschöpf dabei zu, wie es an Levins Ohr zupfte, bis er es vorsichtig mit seinen Fingern aus der Luft pflückte und auf seine ausgestreckte Handfläche setzte. Scheinbar empört schüttelte das Wesen seine Fäustchen, bis Levin etwas aus seiner Tasche holte und ihm vor die Füße legte.

Es war eine rote Johannisbeere, so groß wie der Kopf des Wesens. Gerade als es kläglich dabei scheiterte, die Beere hochzuheben, wurde die Luft von einem leisen Brummen erfüllt und Emily sah sich um. Viele Dutzend Glühkerlchen schwebten auf einmal um sie herum und erhellten den Platz, an dem sie standen, so, dass es fast taghell war. Eines löste sich aus dem Schwarm und flog zu Levins Handfläche, um dem anderen zu helfen, die Beere wegzutragen.

Gemeinsam schafften sie es und flogen zum Rest der Gruppe. Einen Augenblick lang geschah nichts, dann begannen die Glühkerlchen langsam, schließlich immer schneller werdend, um sie herumzuschwirren. Der Wind wehte Emilys langes Haar im Kreis und, als die Glühkerlchen ihre Drehbewegung immer weiter hoch verlagerten, stiegen ihre Haare mit nach oben. Verwundert sah sie ihnen nach, bis sie auf einmal auseinanderstoben und Emilys Haar mit einem Mal wieder auf ihre Schultern fiel. Erst als sie sich zu Levin umdrehte, der sie mit einem erstaunten Lächeln ansah, bemerkte Emily, dass sie breit grinste.

"Das war" - Emily suchte nach einem passenden Wort, fand aber kein besseres als -"Wahnsinn!" Sie konnte nicht aufhören zu grinsen, bis ihr einfiel, dass sie ja eigentlich auf der Flucht waren.

"Hätte ich gewusst, dass du so leicht zu begeistern bist, hätte ich dir die Glühkerlchen viel früher gezeigt. Warte nur, bis du die anderen Waldbewohner zu Gesicht bekommst. Viel hast du vom Grünwald ja nicht gesehen beim letzten Mal."

Mit einer gehobenen Augenbraue lächelte er sie an, als würde er sie herausfordern. Wenn es bedeutete, noch mehr so wundervolle Dinge zu erleben - "Zeig mir alles!", hauchte sie und merkte sofort, wie sich ihr Gesicht erwärmte, als sie sich selbst hörte.

Levin prustete vor Lachen, sagte aber -zu seinem eigenen Glück- nichts und nickte stattdessen auffordernd in die Richtung, in die sie gehen mussten. Emily stöhnte auf bei dem Gedanken, dass sie noch über eine Stunde Fußweg vor sich hatten. Und sie hatte auch ein wenig Angst, wenn sie an ihre letzte Reise durch diesen Wald zurückdachte.

Na gut, nicht nur ein bisschen Angst. Aber ein Blick in Levins lachendes Gesicht löste ihre Bedenken in Nichts auf. Was an ihm war es genau, das ihr so viel Zuversicht gab? Seine fast permanente Fröhlichkeit? Nein, die nervt immer noch tierisch. War es, weil sie ihn schon mehrfach hatte erfolgreich kämpfen sehen? Nun, sie war immer noch sehr beeindruckt von seiner unglaublichen Schnelligkeit und auch der Kraft, mit der er zuschlug. Doch trotz seiner Kampfkünste ist unser letzter Besuch im Wald damit geendet, dass Levins Nase gebrochen und ich fast umgebracht wurde. Die Erinnerung daran, wie Jael sie festgehalten hatte, das Messer an ihrer Kehle, daran, was alles hätte passieren können, ließ sie immer noch schaudern. Doch trotzdem fühlte sie sich sicher in Levins Gegenwart.

Heart of Ageia 1 - FluchtWhere stories live. Discover now