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Gegen zehn Uhr riss das Türklingeln Emily aus ihren Albträumen. Sie konnte hören, wie Chris zur Tür schlurfte und nach ein paar gemurmelten Worten den Türöffner bediente. Nach einigen Momenten hörte sie Levins Stimme und setzte sich kerzengerade im Bett auf. Zu schnell. Sie keuchte und hielt sich die Seite. Zusätzlich zu dieser Erinnerung an ihre Verletzung zog sich ihr Magen zusammen und ihr Herz setzte einige Schläge aus. Was macht er hier? Sie hatte eigentlich gehofft, Levin nun losgeworden zu sein, doch das Klopfen an der Zimmertür, gefolgt von einem viel zu fröhlichen "Guten Mooorgeeeen!", belehrte sie eines Besseren. Die Tür öffnete sich. Emily konnte gerade noch die Bewegung ihres Arms stoppen, der im Begriff war, einen ihrer Stiefel in das erscheinende Gesicht zu werfen, als Chris den Kopf durch den Türspalt steckte.

"Dieser - Lenin? - Ist hier. Soll ich ihn reinlassen?" Forschend sah er sie an. Am liebsten hätte Emily verneint, doch die Erinnerung daran, mit was für einer Leichtigkeit er den Muskelberg am Strand niedergeschlagen hatte, ließ sie plötzlich um Chris' Unversehrtheit fürchten, und so nickte sie knapp und schwang ihre Beine aus dem Bett - erneut zu schnell, sie sog zischend Luft durch ihre aufeinandergebissenen Zähne ein -, um ihre Hose anzuziehen.

Als Levin lächelnd in das Zimmer trat, funkelte Emily ihn an.

"Wieso bist du hier?" Sie versuchte alles Misstrauen und ihre ganze Wut auf ihn und auf ihre Abhängigkeit von ihm in ihre Stimme zu legen. Offenbar erfolglos.

Levin zerzauste seine Haare und lachte scheinbar verlegen.

"Ich wollte dich zum Frühstücken abholen", sagte er, als hätten sie das fest verabredet.

"Ich kann auch hier frühstücken", schnappte sie und verschränkte die Arme vor der Brust.

"Aber hier kannst du nicht mit deiner Freundin Norah frühstücken." Seine Stimme war immer noch fröhlich, sodass der Inhalt dessen, was er gesagt hatte, ein paar Sekunden brauchte, um zu ihr durchzudringen.

"Du hast Norah entführt?" Sie war so entsetzt, dass sie nur flüstern konnte. Levin riss die Augen auf und hob abwehrend die Hände.

"Woah! Wer spricht denn hier von Entführung? Ich habe sie eingeladen. Sie wartet in einem Bistro in der Stadt auf dich. Ich wollte nur sichergehen, dass du nicht zu lange am selben Ort bleibst. Zumal ohne jemanden, der dich beschützen kann." Ein selbstsicheres Lächeln umspielte seine Lippen. Ich könnte kotzen. Doch Emily atmete auf. Norah ist nicht entführt. Alles ist in Ordnung. Oder ist es das? Woher kennt er Norah? Sie wunderte sich nur kurz darüber, schließlich schien Levin ein überaus gründlicher Stalker zu sein. Sie schüttelte unwillkürlich den Kopf, um ihren Verstand zu klären, doch ihre Erschöpfung war zu groß, um einen klaren Gedanken zu fassen. Ihr Leben war vollkommen aus den Fugen geraten und sie konnte im Moment einfach nicht die Kraft aufbringen, sich gegen die Ereignisse zu wehren, die ihr entgegenkamen.

Emily stöhnte entnervt auf. "Du bist so ein großkotziger Penner! Aber in Ordnung, ich komme mit. Du würdest mir ja doch keine andere Wahl lassen."

Der betont unschuldige Ausdruck auf seinem Gesicht bestätigte, was sie gesagt hatte.
"Ich gehe ins Bad. Dann können wir los." Ohne ihn anzusehen, schleppte sie sich ins Badezimmer. Mit ihrer dürftigen Morgentoilette fertig, trat sie heraus. Chris' Mundspülung hinterließ einen seltsamen Nachgeschmack auf ihrer Zunge. Vielleicht schmeckt mir aber auch einfach meine Situation nicht.

Im Flur wartete Chris auf sie, er beugte sich ein Stück zu ihr herunter, um leise und eindringlich mit ihr zu sprechen: "Emily, was ist los? In was für eine Sache bist du da reingeraten? Hat es etwas mit Drogen zu tun? Ich will dir helfen, es gibt Anlaufstellen." Die Sorge in seinem Gesicht war aufrichtig und es tat Emily auf eine ungewohnte Weise weh, ihn so bekümmert zu sehen.

Heart of Ageia 1 - FluchtWhere stories live. Discover now