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Die Party fand im Freien statt. Die Sonne stand nun schon sehr tief und warf ihre letzten Strahlen auf das Gelände vor ihnen. Der große Hof war dekoriert mit Girlanden und Laternen, es gab ein paar Stehtische und ein großes Buffet und außerdem ein riesiges Podest aus Holz, das wohl als Tanzfläche dienen sollte.

"Die ersten Gäste werden bei Sonnenuntergang kommen. Ziemlich klischeehaft, ich weiß. Aber so ist das hier üblich. Schließlich kommen auch Gäste, die kein Sonnenlicht vertragen", erklärte Levin beiläufig. Emily starrte ihn an.

"Was meinst du damit? Gibt es hier etwa - Vampire oder so was?" Eigentlich sollte sie nicht so geschockt sein. Wenn es Gestaltwandler und Feen gab, warum keine Vampire? Zuerst dachte sie an im Sonnenlicht glitzernde Volvo fahrende Schnösel und musste ein Lachen unterdrücken, doch dann fiel ihr ein, wie sie früher Buffy geschaut hatte und bekam das Bild von dutzenden von blutleeren Leichen und hässlichen Gestalten, die inmitten der Toten feierten, nicht mehr aus ihrem Kopf.

Doch Levin lachte nur. Heißt das, es gibt keine Vampire? Bevor sie ihn fragen konnte, wurde er von Mo zu sich gerufen. Emily wollte sich zu Merissa drehen und sie fragen, doch sie war ans andere Ende des Geländes gegangen und half Lilli dabei, ein paar letzte Laternen aufzuhängen.

Unwillkürlich sah sie sich um und versuchte durch die Schatten des angrenzenden Waldes herumlungernde Gestalten zu sehen. Als sie damit unverhofft Erfolg hatte, verschluckte sie sich und kriegte einen Hustenanfall. Da lungern wirklich Gestalten in den Schatten. Sie drehte sich um und lief zu Levin und Mo.

"Da sind Dinge im Wald", flüsterte sie und knetete dabei nervös ihre Hände.

Mo und Levin blinzelten sie an und begannen beide zu lachen.

"Natürlich. Aber es sind keine Dinge. Das sind unsere Gäste, die darauf warten, dass die Sonne untergeht", lachte Mo. Als er merkte, wie nervös Emily wirklich war, fuhr er in beruhigendem Tonfall fort: „Es ist so Brauch hier. Feste beginnen bei Sonnenuntergang. Ich kenne alle, die kommen werden. Ich habe sie selbst eingeladen. Niemand davon ist gefährlich. Jedenfalls nicht wirklich." Diese Worte wirkten zumindest ein wenig beruhigend auf Emily, auch wenn die Relativierungen, die Mo angefügt hatte, sie weiterhin zweifeln ließen.

"Es geht los!", rief Lilli, die mittlerweile wieder zu ihnen herübergekommen war und deutete auf die Sonne, die gerade hinter den Baumwipfeln versank.

Mit einem Mal ertönte Musik und der ganze Platz füllte sich mit Gestalten. Die meisten waren Menschen, oder zumindest menschenähnlich, aber Emily konnte auch einige entdecken, die mehr Ähnlichkeit mit Pflanzen oder Tieren hatten. Sie sah Wesen mit Flügeln und Fühlern, mit pelzigen Ohren und krallenbewehrten Pranken und alle schienen sich extra für das Fest herausgeputzt zu haben. Viele trugen wallende Gewänder in allen möglichen Farben und Längen, viktorianische Ballkleider und Anzüge aus feinster Seide.

Emily war überwältigt und so bemerkte sie gar nicht, dass sie auf einmal allein war. Mo hatte Levin irgendwo hingezogen und Merissa und Lilli konnte sie auch nirgends entdecken. Mit einem Schulterzucken begann sie durch die Menge zu wandern. Sie hatte kein Problem damit, allein unter Fremden zu sein. Auch wenn viele der Anwesenden wirklich sehr fremd waren.

Trotzdem ertappte sie sich dabei nach einem vertrauten Gesicht zu suchen und fand nach einer Weile die Person, die sie von allen immer noch am ehesten sehen wollte: Merissa. Sie stand am Buffet und unterhielt sich mit einem - Emily konnte nicht genau sagen, was er wirklich war - großen definitiv männlichen Jemand in einem schwarzen altmodischen Anzug und mit einem Zylinder auf dem Kopf, unter dem langes schwarzes Haar herausfiel.

Ihre neue Freundin bemerkte Emily und winkte sie strahlend zu sich. Emily ging auf die beiden zu und es war, als würde mit einem Mal alles in Zeitlupe passieren. Merissas Gesprächspartner drehte den Kopf zu ihr herum und sofort trafen sich ihre Augen. Emily hatte kaum die Möglichkeit, sein außergewöhnlich schönes Gesicht zu mustern, denn ihr Blick schien an seinen silbergrauen, fast farblosen Iriden zu haften. Die Augen des Fremden weiteten sich ein wenig, als wäre er überrascht und er legte den Kopf leicht schräg, während seine Lippen sich zu einem verwunderten Lächeln verzogen. Emily spürte, wie ihr Herz auf einmal schneller schlug, es fühlte sich an, als wollte es den Käfig, den ihre Rippen darum bildeten, sprengen. Ihr Mund wurde trocken und ihre Hände begannen zu schwitzen. Plötzlich war sie schrecklich nervös und fühlte, wie ihre Knie butterweich wurden. Beinahe wäre sie gestolpert, weil sie immer noch nur in diese Augen schauen konnte. Doch ausnahmsweise funktionierten ihre Reflexe und sie hielt sich auf den Füßen. Das Gefühl, den Halt zu verlieren und zu fallen, wollte jedoch nicht abebben. Am Buffettisch angelangt, blieb sie schließlich stehen und zwang sich, ruhig zu atmen, obwohl ihr Puls raste.

Heart of Ageia 1 - FluchtWhere stories live. Discover now