22

28 9 6
                                    

Seltsame Träume plagten sie die ganze Nacht hindurch. Keine zusammenhängenden Geschichten, sondern abgehackte Szenen. Levin, wie er sie von sich stieß, als sie ihn küssen wollte. Lilli, wie sie Emily ein Messer in den Rücken rammte, ihre Mutter regungslos in einem großen, dunklen See treibend, schwarze Finger aus Rauch, die sich um Emilys Hals legten und nach dem Anhänger tasteten und eine dunkle Stimme, die flüsterte: "Wir werden dich finden. Du kannst nicht ewig weglaufen", dann war sie wieder in der Zelle und zählte die Tropfen, die von der feuchten Decke fielen.

Mit einem erstickten Schrei wachte Emily auf. Ihr Herz raste und ihr Atem ging stoßweise. Sie sah zum Fenster. Es war dunkel draußen, sie konnte also nicht allzu lange geschlafen haben. Wie immer war sie nach diesem wiederkehrenden Traum - an den sie sich nicht erinnern konnte, sie wusste nur, dass sie ihn oft hatte - zu aufgewühlt, um weiter zu schlafen.

Auch einfach im Bett liegen war unmöglich, also stand sie auf und ging so leise, wie sie konnte aus ihrem Zimmer hinaus auf den Flur. Wenn sie schon nicht schlafen konnte, wollte sie ein wenig das Haus erkunden. Das mochte nicht unbedingt höflich sein, doch es war das Einzige, was ihr zu tun einfiel, um auf andere Gedanken zu kommen.

Unweigerlich ging sie an Levins Zimmer vorbei. Die Tür war offen und das Bett war leer. Ist er etwa den ganzen Tag und die ganze Nacht weg? Der Gedanke missfiel Emily. Er kann mich doch nicht hierherbringen und dann einfach verschwinden. Aber vielleicht lag er ja nur nicht in seinem Bett. Vielleicht hatte ihr Verhalten im Rausch ihn so verletzt, dass er bei Lilli Trost suchte - Hör auf! Erstens sollst du nicht so denken und zweitens ginge es dich auch gar nichts an!Schalt sie sich selbst und zwang sich, weiterzugehen.

Sie fand viele Türen, manche waren verschlossen, aber die meisten waren offen. Es gab mehrere Schlafzimmer, eine Bibliothek, so etwas wie einen Hobbyraum, in dem eine Staffelei stand, ein Klavier, eine Gitarre und mehrere andere Instrumente.

Aber was sie am meisten interessierte, war der Aufgang zum Dach, den sie auf dem Rückweg zu ihrem Zimmer fand. Es war eine Dachbodentreppe, die man an einer Kordel herunterziehen konnte. Dem lauten Knarren der Treppe entnahm Emily, dass die Treppe nicht oft benutzt wurde und sie hatte schon Angst, dass sie jemanden aufweckte, doch das Haus blieb still.

Sie stieg die Treppe hinauf und befand sich auf einem staubigen Dachboden voller Kisten und alter Möbel. Am anderen Ende des Dachbodens befand sich eine Glastür, durch die der Mond silbern hereinschien. Sie ging darauf zu und öffnete sie, um nach der abgestandenen Dachbodenluft etwas frischen Atem zu schöpfen. Ein Schritt hindurch beförderte sie auf eine große Dachterrasse. Eine hölzerne Bank war das Einzige, was auf der Terrasse stand. Sie ließ sich darauf sinken und schaute sich um. Die Aussicht, die man von hier über die Landschaft hatte, war atemberaubend. Ageia breitete sich unter ihrem Blick aus, wie ein Landschaftsgemälde, das in sanften Nachttönen gehalten war. Der Mond stand als übergroße silberne Scheibe am Himmel und warf sein kühles Licht auf alles, was er traf, der Rest wurde in Dunkelheit gehüllt. Bäume wiegten sich in einer sanften Brise, das Rauschen ihrer Blätter drang an Emilys Ohr und beruhigte sie auf eine Weise, wie es sonst nur das Meer vermochte. Sie ließ den Blick weiterschweifen. Die lange Glaskuppel über der Stadt funkelte wie ein riesiger Kristall unter dem Sternenhimmel, lila-blaues Licht drang hindurch und verlieh dem Anblick etwas Träumerisches, Sphärisches. Flüsse schlängelten sich als silberne Bänder durch große Wiesenlandschaften, deren lebendiges Grün vom Mondlicht ausgebleicht zu einem wogenden Ozean wurde. Hier und da hob sich das Dunkel eines Baumes oder einer kleinen Gruppe von Sträuchern ab, wie schwarze Flecken auf einem ansonsten makellosen Teppich. Am Horizont, fast mit dem Firmament verschmelzend, zeichnete sich der gigantische Grünwald ab, in dem Merissa lebte. Selbst aus dieser Entfernung konnte Emily die majestätische Aura des Waldes spüren, ein Ort voller Geheimnisse und alter Magie. Sie schloss die Augen und atmete tief ein, den Duft der Nacht und der Natur in sich aufnehmend.

Dieser Mond, ist es derselbe Mond wie zu Hause? Er sieht genau so aus, aber ist das überhaupt möglich? Und die Sterne?

Emily wusste nicht mehr, wie lange sie schon so dasaß, als sie merkte, wie müde sie geworden war. Also machte sie sich auf den Rückweg und legte sich wieder schlafen.

Die nächsten drei Tage verliefen nach einem ähnlichen Muster. Emily stand vormittags auf, zog Kleidung an, die Lilli ihr besorgt hatte, frühstückte, half Mo draußen, Lilli kochte Abendessen, sie aßen, Emily ging baden und -auf nächtliche Wanderungen gefasst in ihrer eigenen Kleidung- ins Bett, wo sie von kryptischen Träumen geplagt mitten in der Nacht aufwachte, auf die Dachterrasse ging, ein wenig dort saß und sich dann wieder hinlegte, um am darauffolgenden Tag wieder vormittags aufzuwachen. Von Levin war nichts zu sehen.

Auch der vierte Tag verlief nach diesem Muster und Emily erwachte wieder mitten in der Nacht. Der Weg zur Dachbodentreppe war ihr mittlerweile so vertraut, dass sie kaum nachdenken musste, um sie zu finden. Sie schlich also erneut durch die Flure und stieg die Treppe hoch, die beim Ausfahren nun nicht mehr quietschte. An der Glastür zur Dachterrasse blieb sie unvermittelt stehen. Auf der Bank saß jemand.

Heart of Ageia 1 - FluchtWhere stories live. Discover now