D R E I ß I G

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Du bist Sage. Diese drei Worte schallen mit einer solchen Kraft über den Felsvorsprung zum Meer hinunter, dass ich sie in den Knochen fühlen kann.

»W-was?«, stammele ich leise. Nachdem er mir nicht antwortet, erhole ich mich wieder von meinen Schreck und werde lauter: »Bist du jetzt komplett bescheuert?! Hat dich Officer Los Carlos gehirngewaschen?!« Ich starre ihn an.

»Es ist die Wahrheit«, sagt er leise und betroffen. Vehement schüttle ich den Kopf. »St. John, bist du wirklich so verblendet? Siehst du nicht, dass die sich da in was verrannt hat? Weil sie ihren Scheißfall nicht lösen kann, zieht sie sich die absurdesten Theorien aus dem Arsch! Da kommt ihr das Mysterium um die Viecher verschreckende, Kinder traumatisierende Sage doch gerade recht!«

»Lass es mich erklären!«, bittet er verzweifelt.

Mir ist klar, dass er vermutlich nur Zeit schinden will, damit die Polizistin mich verhaften kann. Trotzdem stelle ich zu meiner eigenen Überraschung fest, dass ich neugierig bin auf das, was er sagen will. Gleichzeitig verspüre ich trotzdem nicht das Verlangen danach, mich verhaften zu lassen.

Ich seufze genervt. »Also schön. Aber nur unter einer Bedingung!«

»Ja?«, will er misstrauisch wissen.

»Wir gehen an einen anderen, sicheren Ort, wo du mich Los Carlos nicht sofort zum Fraß vorwerfen kannst und du lässt mich dich von Kopf bis Fuß abtasten.«

»Unter anderen Umständen sicherlich aufregend.«

Ich runzle die Stirn. »Denkst du wirklich, das war jetzt ein passender Kommentar?«

»Sorry«, grummelt er.

Ich verliere keine Zeit und taste ihn nach irgendwelchen versteckten Tracking-Geräten oder sonstigem Scheiß ab. Sein Handy befördere ich zutage und werfe es achtlos auf den Boden zu unseren Füßen. St. John zuckt merklich zusammen.

»Okay, los geht's«, ordne ich an. Als er ansetzt etwas zu sagen, halte ich mir warnend den Zeigefinger vor den Mund. Er nickt resigniert und wir setzen uns still, aber zügig in Bewegung. Ich achte sorgfältig darauf, dass er keine plötzlichen Bewegungen macht. Doch St. John läuft nur mit etwas Abstand neben mir. Ich rechne jeden Moment damit, dass er mich zu Boden reißt oder sonst wie überwältigt.

Als das eine ganze Weile später noch immer nicht geschehen ist und wir unser – oder besser gesagt mein – Ziel erreicht haben, entspanne ich mich fast... aber nur fast. Niemals würde ich erneut meine Deckung fallen lassen. Man hat ja gemerkt, was mir das gebracht hat...

Ich kneife die Augen zusammen. Über St. Johns Verrat kann ich mir noch später den Kopf zerbrechen. Jetzt muss ich funktionieren.

Ich halte für einen konzentrierten Augenblick inne, lausche nach Schritten und blicke einmal um uns herum – nichts als dichtes Grün. Nadelbäume gepaart mit dichten Beerenbüschen. Sie sehen aus, als könnten sie giftig sein. Kurz schießt das Bild eines auf dem Rücken liegenden, vergifteten Vogels durch meinen Kopf, doch dann schüttle ich mich einmal energisch, um meine Konzentration zu wahren.

Ich erwische St. John dabei, wie er mich beobachtet. Der Ausdruck in seinen sturmgrauen Augen geht mir durch Mark und Bein. Aggressiv stoße ich ihn an der Schulter und knurre: »Was glotzt du so?« Für den Moment vergesse ich, dass ich eigentlich nicht mehr Lärm machen wollte, als unbedingt nötig. Warum trifft mich sein Ausdruck so sehr?

»Harriet«, setzt er leise an. Mein Name klingt aus seinem Mund noch immer so... sanft. Obwohl ich alles andere als sanft bin. Abwartend sehe ich ihn an, den Kloß in meinem Hals ignorierend.

»Da gibt es etwas, das... etwas, das du nicht weißt.«

»Offensichtlich«, entgegne ich trocken. Die Art wie er mich ansieht, wird noch unerträglicher. Ich schlucke und ignoriere die Tränen, die mir in den Augen brennen.

»Harriet, du bist krank.« Sein Tonfall ist bei diesen Worten fast schon liebevoll. Aber nicht ganz.

Mitleid. Das ist die Nuance, nach der ich gesucht habe.

Ich lache spöttisch auf. »Erst erzählst du mir, dass ich Sage bin und dann sagst du, ich bin krank? Und all das, nachdem du mich mit meiner Lieblingspolizistin durch den scheiß Wald gejagt hast? Ich weiß nicht, wer von uns hier krank ist.«

»Du bist krank. Und du bist auch Sage.«

»Dass ich nicht lache! Ich habe doch genau mitbekommen, was sie dir angetan hat und wie sehr du sie verabscheut hast. Wenn ich wirklich Sage wäre, könntest du mir doch nicht mal in die Augen schauen!«

St. John fährt sich mit der Hand über das Gesicht. Er wirkt verzweifelt.

»Du bist zwar Sage... aber du bist viel mehr Harriet. Sage ist lediglich ein giftiger Dorn in deiner Persönlichkeit, aber–«

Als wir es neben uns im Gebüsch klicken hören, erstarren wir. Es raschelt leise, das Grün des feinen Blätterwerks teilt sich und heraus tritt Officer Los Carlos. Ihre kohlschwarzen Augen sind unbeirrt auf mich gerichtet – ebenso wie der Lauf einer Waffe.

»Das reicht, Sie liebeskranker Vollidiot. Verziehen Sie sich, bevor Ihnen noch was passiert«, spricht sie mit gefährlich ruhiger Stimme zu St. John ohne ihn dabei anzusehen.

»Aber–«

»Tun Sie mir den Gefallen.« An ihrem Tonfall ist unmissverständlich hörbar, dass es sich nicht um eine Bitte handelt. St. Johns Kiefer zuckt, als er die Zähne zusammenbeißt. Doch schließlich senkt er den Blick und nickt.

Sobald er verschwunden ist, spricht Los Carlos: »Harriet Clues, ich muss Sie dazu auffordern, mit mir zu kommen.«

»Aber warum? Ich habe doch nie etwas gemacht!«

»Kommen Sie mit und wir besprechen alles weitere.«

»Nein!«, schreie ich wütend.

»Kommen Sie mit! Das ist keine Bitte.«

»Was, wenn nicht? Knallen Sie mich dann ab?«, höhne ich.

»Ja«, antwortet sie sofort. »Aber ich würde das lieber nicht tun müssen, Harriet.« Auf einmal wirkt sie unglaublich müde. »Bitte... kommen Sie einfach mit. Ich verspreche Ihnen, dass Sie dann Antworten auf ihre Fragen erhalten.« Ich tue so, als würde ich zögern.

Doch dann schlage ich blitzschnell einen Haken und renne in die entgegengesetzte Richtung. »Hey!«, vernehme ich den Ruf der Polizistin hinter mir. Ich rennen noch schneller, lasse zu, dass die Büsche meine Arme und den Hals zerkratzen, renne immer weiter und weiter...

Bis ich einen harten Schlag auf dem Hinterkopf spüre und auf einmal alles schwarz wird. 

Queen Of LungsWhere stories live. Discover now