A C H T U N D Z W A N Z I G

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Die kommenden Tage sind geprägt von Stress, Unruhe und Frust.

Officer Los Carlos' stechender Blick aus diesen bodenlos dunklen Augen geht mir nicht aus dem Kopf und ich warte voller Anspannung darauf, dass ein Brief vom Police Department kommt oder es erneut an der Tür klingelt und sie davor steht. Ich schnaube, als ich mich spontan an den Moment zurückerinnere, als ich mein Handy zerstört habe. Hat sich ja gezeigt, wie sinnvoll das war – gefunden haben mich diese Geier von der Polizei trotzdem ohne Probleme. Das einzig Gute daran ist wohl, dass ich nicht mehr von meinen Freunden und meiner Familie erreichbar bin – die haben nämlich allesamt keinen blassen Schimmer, wo ich mich gerade befinde.

St. John arbeitet ungewöhnlich oft von zu Hause aus. Ich habe den – zugegebenermaßen verrückten – Verdacht, dass er dies tut, weil er merkt, dass ich angespannt und nervös bin. Als moralischer Beistand sozusagen. Aber irgendwie ergibt das auch keinen Sinn, der Typ kann mich nicht mal leiden. Warum sollte er mir dann moralischen Beistand leisten wollen?

Ich liege zu einer Kugel zusammengerollt auf meinem Bett und starre an die Wand. Ich will die alte Harriet zurück. Die, die noch lachen konnte und nicht bis in die letzte Faser ihres Körpers von Zynismus getränkt ist. Ich will die Harriet, die sorglos mit ihren Freunden an den See fahren konnte – ohne das tote Gesicht ihrer Freundin vor Augen zu haben.

Leider geht das nicht mehr. Denn es ist nun mal passiert und nicht mehr rückgängig zu machen: Anabelle ist tot... und mich hat sie auf gewisse Art mitgenommen.

Es ist verrückt. So unglaublich verrückt. Anabelle gehörte nicht einmal zu meinen engeren Freunden, sie war lediglich im gleichen Freundeskreis wie ich. Ganz ehrlich, meistens nervte sie mich sogar irgendwie.

Und trotzdem...

Und trotzdem liege ich nun da und kriege sie seit Wochen nicht mehr aus dem Kopf.

Seufzend richte ich mich auf und begebe mich in den Schneidersitz, den Rücken vor Kraftlosigkeit gekrümmt. Ich bin das alles so verdammt leid. Mir kommt es so vor, als hätte dieser Vorfall... als hätte er mich komplett aus meinem gewohnten Leben gerissen und einfach irgendwohin geschmissen. Langsam fange ich an zu zweifeln, ob es nicht doch eine schlechte Idee ist, weiterhin in Salten Flags zu bleiben. Irgendwas ist ganz offensichtlich faul an der Sache mit Sage und diese Psychopathin scheint noch immer frei da draußen rumzurennen...

Es klopft an meiner Tür. Unwillkürlich beschleunigt sich mein Herzschlag. »Ja?«, brumme ich abwehrend. Mein Puls straft mich Lügen. »Kann ich kurz reinkommen?«, ertönt St. Johns Stimme gedämpft von draußen. »Meinetwegen«, antworte ich. Er tritt ein und schließt die Tür leise wieder hinter sich. Ich stutze. Er wirkt regelrecht... verstört? Nein, vielleicht eher betroffen. Irgendwas scheint auf jeden Fall vorgefallen zu sein.

Der große Mann mit den sandfarbenen Haaren setzt sich vorsichtig auf meinen mit rosa Stoff überzogenen Holzstuhl am Schreibtisch, als könnte dieser bei einer falschen Bewegung zusammenbrechen.

»Was ist?«, will ich wissen. Er meidet meinen Blick und legt lautlos seufzend die Hände zusammen. Schließlich sagt er: »Ich will das mit Sage ruhen lassen.«

Ich richte mich schlagartig auf. »Bitte was?!«, bricht es aus mir heraus. Ich werde wütend. »Wofür war dann die ganze Scheiße bisher eigentlich?« Er schüttelt den Kopf. »Es führt zu nichts. Sie will offensichtlich nicht gefunden werden und... ach, keine Ahnung.« Er fährt sich nervös durch die Haare. Seine Hände zittern. »Ich will mittlerweile nur noch, dass ich sie nie wieder sehen muss.«

»Aber... ich dachte, du hast noch ein Hühnchen mit ihr zu rupfen, oder sowas in der Art?«

Er schluckt. »Mittlerweile überwiegt der Wunsch, nie wieder etwas mit ihr zu tun zu haben.«

Mit leicht geöffnetem Mund starre ich ihn an. Was ist bloß los mit ihm?

»Ich kauf dir das nicht ab!«, speie ich. Sein Kopf ruckt nach oben und endlich sieht er mir doch in die Augen. In seinen grauen scheint ein heftiger Sturm zu wüten. »Dafür kann ich nichts!«, ruft er.

Wie von der Tarantel gestochen erhebe ich mich aus meiner sitzenden Position und baue mich vor ihm auf. »Erzähl mir einfach keinen Scheiß und alles ist gut!«, zische ich. Nun springt auch er auf und bringt sein Gesicht drohend nah an meines. »Ich sage dir die Wahrheit!«, raunt er, langsam sprechend und jedes einzelne Wort betonend.

Die Luft zwischen uns flirrt förmlich vor Spannung. St. John bläht die Nasenflügel. Ein irrer Ausdruck ist in seine stahlgrauen Augen getreten, die geradezu glühen. Seine Pupillen sind geweitet und ich rechne jeden Moment damit, von seinem Blick verschlungen zu werden und auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Meine Brust hebt und senkt sich so schnell und heftig, dass sie dabei immer wieder seine berührt. Unser heißer Atem vermengt sich. Ich fühle mich, als würde mein ganzer Körper in Flammen stehen.

Plötzlich geht ein Ruck durch St. Johns Körper und seine Lippen treffen meine. Es ist kein schöner Kuss, kein zärtlicher. Der Aufprall unserer Münder fühlt sich schmerzhaft und grob an. Was nicht bedeutet, dass es mir nicht gefällt.

Die Finger seiner Hand umschließen mein Kinn fest, als er mit seinen Lippen meine bearbeitet.

Eigentlich müsste ich ihn wegstoßen, das weiß ich. Es wäre vernünftig. Mit Miles St. John etwas anzufangen wäre eine unfassbar dumme Idee. Die dümmste überhaupt. Ich kann doch nicht ein Dach über dem Kopf und – zugegebenermaßen – eine aufkeimende Freundschaft wegwerfen, nur weil ich ihn geil finde.

Und doch stoße ich ihn nicht weg. Im Gegenteil.

Ich keuche und erwache aus meiner Starre. Als hinge mein Leben davon ab, presse ich mich an den großen Mann und umschließe seinen breiten Brustkorb fest mit meinen Armen.

Doch gerade als es anfängt, richtig interessant zu werden, ist er derjenige, der uns auseinander bringt. Er reißt sich mit einem so starken Ruck von mir los, dass ich ins Straucheln komme und rückwärts auf meinem Bett lande. Schwer keuchend starre ich zu St. John hoch, der mich mit einer solchen Zerrissenheit betrachtet, dass mir das Atmen noch schwerer fällt. Unser schneller Atem ist das einzige Geräusch in dem Raum.

»Was... soll das?«, presse ich schließlich hervor. Er wendet sich von mir ab und murmelt: »Das ist nicht richtig. Ich sollte... nicht...«

Stille breitet sich zwischen uns aus wie schwere, dunkle Tinte im Wasser. Einen kurzen Moment scheint er noch darauf zu warten, ob ich etwas sage. Doch als von mir nichts kommt, dreht er sich endgültig um und verlässt mein Zimmer.

All meine Wut, mein Ärger, meine Energie verlassen mich, als hätte man sie mir auf einen Schlag heraus gesogen. Schwach lasse ich mich auf den Stuhl fallen, auf dem bis vor Kurzem noch St. John gesessen ist. Die Sitzfläche ist sogar noch leicht warm.

Ich lache lautlos und völlig ohne Humor auf.

Ich bin nach Salten Flags gekommen, um Pynings hinter mir zu lassen. Um das alles zu vergessen, was mit Anabelle passiert ist. Ich wollte einen Reset, keinen kompletten Neustart. Neue Umgebung, neue Menschen, neues Ich.

Stattdessen habe ich hier nur den nächsten Mist vorgefunden: eine verfluchte Doppelgängerin, die psychisch kranker nicht sein könnte. Vielleicht sollte ich einfach nochmal weiterziehen und mir eine andere Ortschaft suchen. Die paar Stunden Entfernung von meinem alten Zuhause scheinen ja nicht gereicht zu haben, denke ich zynisch.

Es ist auf jeden Fall klar, dass ich hier nicht länger bleiben kann. Ich muss weiter. Stellt sich nur die Frage, wohin. 

Queen Of LungsWhere stories live. Discover now