Z W A N Z I G

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Noch immer etwas verwirrt betrete ich besagte Bäckerei, wo ich sofort freundlich begrüßt werde. Die rundliche Frau hinter dem Tresen beugt sich mit einem verschwörerischen Funkeln in den Augen zu mir herunter und raunt: »Na, hat Sie wieder Mr Flemmings geschickt?« Bevor ich ihr darauf eine Antwort geben kann, nickt sie nur wissend und schiebt hinterher: »Richten Sie ihm doch bitte liebe Grüße aus.« Langsam bejahe ich und versuche meine Verwirrung zu überspielen, indem ich mir die Auslage ansehe.

Ein sonderlich großes Sortiment hat der kleine Laden nicht, dafür ist dieses aber sichtlich hochwertig. Wenn ich so darüber nachdenke, passt das auch irgendwie zu der kleinen Küstenstadt.

»Ich hätte bitte gern zwei Schaumküsse mit Vanille und zwei mit Kaugummi-Geschmack«, ordere ich. Letzteres löst allein bei dem Gedanken es zu probieren einen heftigen Brechreiz in mir aus. Eifrig kramt die Frau eine pastellblaue Box heraus und legt mithilfe einer goldenen Zange die Schaumküsse hinein. Diese Frau könnte mir ruhig etwas von ihrer scheinbar grenzenlosen Energie abgeben...

»Darf es noch etwas sein?«, will sie jetzt wie aus der Pistole geschossen wissen. Ich überlege und entscheide mich schlussendlich für ein Zimtbrötchen. Kurz spiele ich mit dem Gedanken, auch St. John eines mitzubringen – als Friedensangebot sozusagen. Bevor ich die Idee für bescheuert erklären kann, höre ich mich auch schon zwei Zimtbrötchen bestellen. Falls er kein Zimt mag, geht dieser Plan natürlich nach hinten los. Egal, die Geste wird er wohl zu schätzen wissen.

Als ich den Laden verlasse, steuere ich wieder das Touristengeschäft an. Ich betrete erneut den viel zu stark klimatisierten Raum und fröstele. Entgegen meiner Erwartung bin ich mit Mr Flemmings diesmal nicht mehr die einzige Person im Raum. Eine durchdringende, weibliche Stimme erfüllt den Raum: »Iss das Porridge heute aber wirklich, ja? Ich mache mir nicht aus Spaß an der Freude die Mühe, ein zucker-, laktose-, und fettfreies Rezept für dich zu entwickeln!«

Ich nähere mich dem Verkaufstresen und erkenne einen leidvoll dreinblickenden Flemmings mit einer etwa einen Kopf größeren, stark gebauten Frau, die ungefähr in seinem Alter sein muss. Sie blickt lediglich für einen kurzen Moment desinteressiert zu mir auf, dann fährt sie damit fort, den alten Mann warnend anzustieren. Dieser nickt bloß und murmelt irgendwas Unverständliches in seinen Bart.

Nachdem die Frau durch einen Perlenvorhang aus dem Verkaufsraum verschwunden ist, verdreht er die Augen in meine Richtung und flüstert: »Siehst du? Meine Gattin gönnt mir wirklich gar nichts.« Ich hebe die Schultern und stelle die Tüte mit der Schaumküsse-Box auf dem Tresen ab, welche er hastig von der Oberfläche wischt und in einer Schublade verschwinden lässt. Er beugt sich zu mir und raunt: »Ich danke dir. Nimm dir doch einen von den Schlüsselanhängern dahinten, sind gerade neu reingekommen!«

Ich habe absolut keinerlei Verwendung für irgendeinen schrottigen Touristenscheiß aus diesem Geschäft, will den alten Mann jedoch auch nicht brüskieren. Wer weiß, was für Informationen er mir noch über Sage liefern könnte. Deshalb nicke ich ihm dankend zu und klaube auf dem Weg nach draußen einen der Anhänger vom Ständer. Die Entscheidung fiel extrem leicht, denn bis auf einen sehr schlichten Metallanhänger, welcher den schnörkeligen Schriftzug ›Salten Flags‹ bildet, sehen alle zu kitschig aus, um sie guten Gewissens in der Öffentlichkeit tragen zu können.

Ich frage mich, was Sage von den ganzen Artikeln aus diesem Laden hält. Irgendwas sagt mir aber, dass sie sie verachtet. Andererseits bin ich mir nach meinem heutigen Besuch dort gar nicht mehr so sicher. Die Tatsache, dass es wirklich Menschen in dieser Stadt zu geben scheint, die sie mögen, verwirrt mich bis aufs Äußerste.

Was soll ich denn nun glauben? Dass Sage eine kaltherzige Schlampe ist, wie anfangs angenommen? Oder dass sie doch nicht so krank und böse ist, wie St. John es mir weismachen will? Kann es vielleicht sogar sein, dass in beidem ein Kern Wahrheit steckt? Immerhin sind nicht alle Sachverhalte und Situationen immer in Schwarz und Weiß unterteilbar – so oft gibt es da noch eine Menge Grauabstufungen...

Eine gute Sache hat dieser Mist dann doch: Ich muss nicht mehr so viel an Anabelle denken. In den letzten Tagen habe ich gemerkt, wie gut es meiner seelischen Gesundheit tat, mal nicht ständig von irgendwelchen kranken Albträumen geweckt zu werden. Ich hoffe, dass die übereifrige Polizistin aus Pynings das Interesse an mir verliert und den Fall endlich ruhen lässt. Irgendwas sagt mir jedoch, dass ich nicht damit rechnen sollte.

...

Nach einem ausgedehnten Stadtspaziergang verbringe ich noch ein paar Stunden am Strand. Auch wenn ich nicht direkt mit jedem interagiert habe, der mir über den Weg gelaufen ist, sind meine sozialen Batterien definitiv aufgebraucht.

Als es zu dämmern beginnt, sammle ich die Verpackungen der Snacks ein, welche ich mir bei einem kleinen Supermarkt (nicht der von Berta) geholt habe und mache mich auf den Weg zurück zu meinem neuen vorläufigen Zuhause. Da ich ziemlich am anderen Ende der Stadt bin, dauert es etwa eine halbe Stunde, bis ich schließlich St. Johns Haus in der Ferne ausmachen kann und weitere zehn Minuten bis ich dann endlich dort bin.

Ich bin in Gedanken noch bei meiner Begegnung mit Mr Flemmings, als ich den Eingangsbereich betrete und merke deshalb relativ spät, dass St. John in der Küche am Tisch sitzt und Löcher in die Luft starrt. Ich stutze.

»Alles in Ordnung?« Beim Klang meiner Stimme fährt er zu mir herum und sieht mich kurz an. Dann dreht er sich wieder seufzend weg und hängt weiter seinen Gedanken nach. Ich streife meine Schuhe ab und geselle mich zu ihm an den Tisch, wo ich mit einem dumpfen Geräusch die Zimtbrötchen-Tüte auf den Tisch fallen lasse. Er blickt träge auf. Seine Laune scheint wirklich im Arsch zu sein.

»Was ist das?«

»Schau rein und finde es selber raus.«

Er tut wie ihm geheißen. Nachdem er kurz in die Tüte gestiert hat, blickt er mich fragend an. Ich verdrehe die Augen. »Die sind für uns.« Er nickt mit gerunzelter Stirn. »So, so. Dann danke.«

»Bitte. Kaffee?«

»Ja.«

Nachdem ich uns beiden eine Tasse gemacht habe, setze ich mich zu St. John an den Tisch und erzähle ihm, was ich heute erlebt habe.

Als ich fertig bin, sieht er noch immer mit auf seinen Händen gestütztem Kinn in die Ferne. Ich bin kurz versucht, vor seiner Nase mit der Hand zu wedeln und ›Erde an St. John‹ zu säuseln, allerdings bezweifle ich stark, dass er das sonderlich witzig finden würde. So warte ich also ungeduldig ab, bis er endlich blinzelt und seinen Blick auf mich richtet.

»Eine Sache musst du über Sage wissen: Sie ist ein Chamäleon, eine wahre Meisterin der Anpassung. Es wundert mich nicht, dass es in dieser Stadt Menschen gibt, die sie schätzen und vielleicht sogar lieben. Sie weiß immer ganz genau, bei wem sie welche Knöpfe drücken muss, um zu bekommen, was sie will. Vergiss das bloß nicht.«

Ich nicke nachdenklich. St. Johns Worte ergeben natürlich Sinn. Doch wieso werde ich das Gefühl nicht los, dass ich auf ein nahezu vollständiges Puzzle blicke, in welchem ein einziges winziges Teil fehlt?

Queen Of LungsWhere stories live. Discover now