E I N U N D Z W A N Z I G

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Die Zeit bis zu meiner nächsten Schicht in Bertas Supermarkt vergeht wie im Flug. Ich habe das Gefühl, einmal zu blinzeln und mich schon wieder auf dem Weg dorthin zu befinden. Mir soll es nur recht sein, da ich auf die Weise meinen Beitrag zum Haushalt leisten kann und nicht zu viel Zeit habe, Löcher in die Luft zu starren.

Ich habe mich bereits einigermaßen in meinen Job hineingefunden und gehe gedankenverloren darin auf, das Geld in der Kasse zu ordnen – als mich eine mir nur zu bekannte Stimme heftig hochschrecken lässt. 

»Harriet Clues, wie schön. Ich denke, Sie erinnern sich noch an mich?«

Wie versteinert blicke ich auf. Officer Angela Los Carlos.

»Ich erinnere mich. Was kann ich für Sie tun?«, frage ich steif. Sie hält leicht lächelnd eine Dose Energy-Drink und in Zellophan verpackte Wraps in die Höhe. »Erstmal würde ich gern das bezahlen.« Ihr freundlicher Tonfall macht mich argwöhnisch. Vermutlich sieht man mir das auch an, denn sie seufzt leise.

»Hören Sie, Ms Clues: Ich kann mir vorstellen, dass es Visagen gibt, die Sie lieber sehen würden als meine, aber es lässt sich nun mal nicht ändern, dass noch immer einige Unklarheiten im Bezug auf Anabelles Tod bestehen.«

»Es war ein Unfall. Warum können Sie es nicht darauf beruhen lassen und mir erlauben, es zu verarbeiten?«, murmle ich dunkel, während ich ihre beiden Artikel einscanne. Darauf erwidert sie nichts. Nachdem sie ihre Sachen eingepackt hat, schiebt sie mir ihre Visitenkarte über den Tresen und sagt lediglich: »Bitte rufen Sie mich demnächst an. Je schneller wir das hinter uns bringen, desto eher können Sie das alles hinter sich lassen.«

Mit aufeinander gepressten Lippen nicke ich. Aber nicht, weil ich vorhabe, ihrer Bitte nachzukommen, sondern nur, damit sie endlich aus meinen Augen verschwindet. Die Polizistin tut mir den Gefallen und verlässt den Laden.

»Nanu, die habe ich noch nie hier gesehen. Kennst du die etwa, Sage?«, ruft mir Berta von hinten zu. Ich muss es mir unbedingt abgewöhnen, zusammenzuzucken, wenn sie mich so nennt.

»Nein, die war nur in Plauderlaune. War bisschen unangenehm, weil sie echt persönliche Fragen gestellt hat«, lüge ich. Berta nickt verständnisvoll. »Ja, diese Klatschmäuler sind eh immer die schlimmsten, was?« ›So, wie du eines bist?‹, hätte ich ihr um ein Haar zugerufen, kann mich jedoch im letzten Moment am Riemen reißen.

...

Als ich wieder in meinem neuen vorläufigen Zuhause ankomme, erwartet St. John mich bereits in der Küche. »Wir müssen aufpassen, dass das nicht zur Gewohnheit wird«, witzele ich trocken, während ich mir die sandigen Sneakers von den Füßen streife. Fragend hebt er die dunkelblonden Brauen. Ich erkläre: »Naja, dass du jetzt immer in der Küche auf mich wartest, wenn ich heimkomme.«

Er nickt. »Aha, und wer sagt, dass ich auf dich warte? Kann doch sein, dass ich einfach nur in der Küche sitze.«

»Ich merke sowas«, ist der einzige Kommentar, den ich dazu abgebe. St. John lässt es darauf beruhen und wedelt stattdessen mit einem Briefumschlag in der Luft herum. »Den hier sollten wir mal öffnen, oder?«

Ich kneife prüfend die Augen zusammen. »Was ist das?« Als ich näher komme, erkenne ich den geschwungenen Schriftzug wieder. Sage.

»Ich habe fast vergessen, dass der existiert«, gebe ich zu. Mist, das hätte ich vielleicht nicht laut sagen sollen. Er kommentiert das jedoch nicht weiter und holt stattdessen ein unscheinbares Taschenmesser hervor. »Dann wollen wir mal sehen...«

Angespannt geselle ich mich zu ihm an den Tisch und linse über seine Schulter. Dabei steigt mir sein herber, frischer Geruch in die Nase und ich kann nicht umhin zu bemerken, dass er... gut riecht. Konzentrier dich, Harriet!

Es raschelt, als er ein gefaltetes Papier aus dem Umschlag hervorholt. Mit rasendem Puls lasse ich das Teil nicht aus den Augen, während ich an meinem Daumennagel kaue.

»Schlechte Angewohnheit«, kommentiert er, ohne seine Tätigkeit zu unterbrechen. »Dich hat keiner gefragt«, brumme ich, als er das fadenscheinige Papier endlich auseinander faltet. Still lesen wir die paar Zeilen, welche in der Mitte stehen.

»Oh«, entschlüpft es mir dann. St. John räuspert sich. »Ja.›Oh‹ trifft es ganz gut.«

Ich glaube an Karma. Allerdings ist es mir manchmal einfach zu langsam... wie zum Beispiel bei dir. Ich habe keine Ahnung, welchen Schwanz im Universum du lutschen musstest, um so oft ungeschoren davonzukommen, aber das ist nun vorbei. Ich werde dich kriegen. Dann wirst du spüren.

Bei den Worten läuft es mir kalt den Rücken herunter. Doch als ich in St. Johns Gesicht blicke, sehe ich dort nur grimmige Genugtuung. Ich weiß nicht, ob ich es ihm verübeln kann. Selbst ich bin irgendwie angewidert von Sage, obwohl sie mir nie etwas getan hat. Hinzu kommt, dass ich mir noch immer nicht ganz sicher bin, was ich nun von ihr halten soll...

»Wer könnte ihr diesen Brief in den Kasten eingeworfen haben?«, überlege ich laut. Er schnaubt. »Die Frage ist wohl eher: Wer nicht?« Ich verdrehe die Augen. »Gut, meine letzten paar Erlebnisse haben ja gezeigt, dass es durchaus Menschen gibt, die Sage mögen.« St. John zuckt nur die Schultern, als fände er es nicht einmal der Rede wert, über ebendiese Menschen zu diskutieren.

»Ich frage mich, wohin sie gegangen sein könnte«, murmle ich. Er schnaubt bitter. »Wem sagst du das.« Ich betrachte ihn nachdenklich. Mir ist klar, dass ich das Wichtigste vermutlich nicht einmal weiß: den wahren Grund, aus dem St. John Sage so unbedingt finden will. Ich bin mir sicher, dass er Informationen zurückgehalten hat. Mittlerweile kann ich ihn gut genug einschätzen, um das festzumachen. Außerdem hätte ich es genau so getan, wenn ich er wäre.

Ich lege den Kopf schief. »Denkst du, Sage weiß, dass ich hier bin? In Salten Flags, meine ich?« Er schnaubt.

»Natürlich weiß sie es. Nicht nur das – dass du bei mir wohnst, weiß sie ganz sicher auch.« Überrascht hebe ich die Brauen. »Meinst du?« Er nickt. »Natürlich. Darauf würde ich mein Haus verwetten.« Mir fällt auf, dass er nicht seinen Surferladen genannt hat. Ich habe den Verdacht, dass ihm der wichtiger ist, als das Haus.

Dann stelle ich die entscheidende Frage: »Wann wird sie hierherkommen?«

Eine Weile reagiert er nicht auf meine Worte. Dann fixiert er mich ernst. »Dann, wenn wir es am wenigsten erwarten.«

...

In der darauffolgenden Nacht kann ich nicht schlafen.

Ich wälze mich nicht einmal im Bett umher, denn meine vielen Gedanken lähmen meinen Körper gänzlich. Hinter meiner Stirn herrscht großer Aufruhr. Nicht nur St. Johns Worte geistern mir im Kopf umher. Auch die Ambivalenz von Sages Image und die Begegnung mit Los Carlos machen mir schwer zu schaffen. Hinzu kommt, dass Letztere Erinnerungen an jene Nacht heraufbeschwören.

»Es... ich habe keinerlei Erinnerungen an diese Nacht. Deshalb...«

»Deshalb weißt du es nicht. Deine Annahme, dass es ein Unfall war, beruht schlicht auf das Vertrauen zu deinen Freunden – welches anscheinend doch nicht so fest ist.« Er lässt etwas lockerer, sodass ich mich von der Wand lösen kann. »Was ist mit den anderen Aussagen? Wie–«

»Jetzt halt mal die Luft an!«, unterbreche ich ihn, nun doch wütend geworden. »Du hast doch keine Ahnung, was überhaupt passiert ist in dieser Nacht! Kaum belauschst du eine Unterhaltung zwischen mir und einer Polizistin, denkst du schon, du kannst es dir erlauben, dich hier einfach einzumischen, was?!«

Ich keuche erschrocken, als St. John mich plötzlich wieder gegen die Wand drückt und seinen Mund ganz nah an mein Ohr bringt.

»Ich habe das Recht es zu wissen, wenn sich eine Kriminelle unter meinem Dach befindet.«

Ich zucke zusammen, als der Film dieser Auseinandersetzung mit St. John wieder in meinem Hirn abläuft. Ich ziehe mir die Decke energisch über die Schultern, da ein Frösteln lauffeuerartig über meine Haut rauscht.

Ich habe gedacht, dass ich mir in Salten Flags eine Atempause von den Geschehnissen in meiner Heimat genehmigen könnte... einfach vorerst alles hinter mir lassen.

Scheint, als hätte ich mich da stark getäuscht.

Queen Of LungsWhere stories live. Discover now