S E C H S U N D Z W A N Z I G

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»Anabelle war nicht einmal eine der Ersten, die zu trinken angefangen haben. Aber sie hat auf jeden Fall am tiefsten in die Flasche geschaut. Mir kam es so vor, als hätte sie sehr schnell und sehr viel getrunken.«

»Ist es möglich, dass irgendetwas diese Reaktion in ihr getriggert hat?«, will Los Carlos wissen. Ich hebe ratlos die Schultern. »Gut möglich, aber ich weiß es nicht sicher. Anabelle war bisweilen ohnehin etwas... schwierig zu verstehen. Mitunter benahm sie sich auch kindisch und nicht ganz nachvollziehbar. Deswegen: keine Ahnung.«

Die Polizistin nickt nachdenklich und notiert sich etwas. Der Drang, mich nur ein wenig vorzulehnen und ihre Notizen zu entziffern ist nicht gerade klein. Doch ich will mich gewiss nicht unbeliebt machen bei dieser Spürhündin in Gestalt einer Frau.

Ich erzähle weiter: »Jedenfalls erinnere ich mich daran, dass relativ bald der Punkt kam, an dem sie... naja. Sie wurde sehr dramatisch.«

»Dramatisch?«

»Ja, ich weiß noch genau, wie sie irgendwelche Gedichte zitiert und sich dabei richtig in die Brust geworfen hat.«

»Wie bei einer Theateraufführung?« Ich blinzele. »Ja, so in etwa.« Erneut notiert sie sich etwas. »Weiter«, fordert sie mich ruhig auf.

»Ich atme, Harriet! Das Wasser ist meine Luft, so wahr ich hier stehe!«

Ich schlucke, als diese Erinnerung in mir heraufbeschworen wird. Fast ist es so, als könnte ich ihre Stimme direkt in meinem Ohr hören.

»Alter, die is' ja total dicht.«

Sogar Mallorys gelangweilten Tonfall höre ich beinahe. Als ich einen tiefen Atemzug nehme, ist mir, als hätte ich auch den unvermeidbar dazugehörigen Menthol-Zigaretten-Geruch in der Nase.

»Wir sollten sie da rausholen. In diesem Zustand rumplantschen, das kann doch nicht gut enden.«

Troy. Er war so besorgt. Wenn er nur damals gewusst hätte, was mit Anabelle passieren würde...

»Heul doch nicht rum und geh einfach zu ihr ins Wasser! Kannst eh keinem mehr weismachen, dass du ihr nicht an die Wäsche willst, Casanova.«

Kaden, unsympathisch wie eh und je. Großkotziges Arschloch. Warum war es mir immer so egal, ihn um mich herum zu haben?

»Gott, du bist so verdammt unsensibel!«

Vera, seine Ex. Wirklich, was sie je an ihm gefunden hat, wird mir für immer ein Rätsel bleiben.

»Ms Clues?«

Ich schrecke aus meinen Erinnerungen hoch und hebe kurz entschuldigend die Hände. »Tut mir leid, ich war kurz weg.«

»Mit den Gedanken bei damals?« Ich nicke ergeben. Sie seufzt lautlos. »Wie gesagt, ich weiß, dass es nicht einfach ist. Bald haben wir es auch geschafft. Sie sind etwas blass um die Nase, vielleicht wollen Sie ein Glas Wasser trinken?«

Ich winke schwach ab. »Mir geht's gut. Bringen wir es hinter uns.«

Für einen Augenblick sieht sie mich an, als wollte sie mir widersprechen. Doch dann scheint sie es sich anders zu überlegen und bedeutet mir lediglich, fortzufahren.

Ich zögere. Dann sage ich: »Ich musste gerade an uns denken.«

»Ihre Freunde?«

»Ja. Mir kommt es vor, als wäre all das in einem anderen Leben passiert... in manchen Momenten zumindest. Oft erwache ich aus Alpträumen die schlimmer sind als alles, was man sich vorstellen kann.«

»Das glaube ich«, murmelt Los Carlos betreten. Ich weiß zwar, dass es gerade eher einen positiven Effekt hat, dass ich ihr – für meine Verhältnisse zumindest – mein Herz ausschütte, aber dennoch fühlt es sich nicht richtig an, sie so viel von mir sehen zu lassen. Aber darüber kann ich mir auch noch später Gedanken machen.

»Möchten Sie mir die Beziehung jeder Person aus der Gruppe zu Anabelle näher erläutern?«

»Ich kann es versuchen. Also... es gab auch Leute in der Gruppe, die eher weniger mit ihr zu tun hatten. Im Einzelnen meine ich. Ich habe das Gefühl, dass unsere Gruppe als Ganzes gut funktionierte, aber wir eigentlich rein individuell nicht viel gemeinsam hatten... wissen Sie, was ich meine?«

»Ich denke schon. Probieren Sie es trotzdem mal.« Ich zucke die Schultern. »Gut. Mit wem soll ich anfangen?«

»Das bleibt vollkommen Ihnen überlassen.«

»Wie ich zu Anabelle stand, habe ich ja schon mal erklärt, denke ich.«

»Das kann gut sein, aber es schadet nicht, wenn Sie es jetzt erneut tun.«

Ich kann mich gerade noch davon abhalten, die Augen zu verdrehen. Langsam verliere ich den Glauben daran, dass Los Carlos diesen Zirkus hier so schnell wie möglich über die Bühne bringen will.

»Ich habe Anabelle weder besonders gemocht, noch verabscheut. Ich fand Sie meistens ganz okay, bisweilen war sie etwas anstrengend – aber, ganz ehrlich? Das ist irgendwie jeder von uns aus dem Freundeskreis.«

»Würden Sie das auch über sich sagen?«

Ich kann mich diesmal nicht zusammenreißen und bedenke die Polizistin mit einem ›Wollen Sie mich verarschen?‹-Blick, den sie ganz genau einzuordnen vermag. Sie verzieht leicht bedauernd den Mund. »Gut, die Frage war fies, das gebe ich zu.« Und wieder tritt der gute Cop ans Tageslicht. Fragt sich nur, wann sie wieder den schlechten auspackt. Dies ist lediglich eine Angelegenheit von Zeit, meiner Meinung nach.

»Ja, ich würde das auch über mich sagen«, antworte ich ihr nun doch. Sie hebt kurz die Brauen, als wolle sie »Interessant« nonverbal ausdrücken. Dumme Kuh.

»Wie standen denn die anderen zu ihr?«, fragt sie. »Ich denke nicht, dass Anabelle zu irgendjemandem mehr als eine oberflächliche Beziehung hatte. Aber, wer weiß? Vielleicht ist mir ja etwas entgangen.« Los Carlos legt mit zusammengekniffenen Augen den Kopf schief und mustert mich. Dann sagt sie: »So wie ich Sie einschätzen würde, entgeht Ihnen nichts so leicht.« Ich zucke die Schultern. »Wenn Sie meinen.«

Sie geht nicht weiter auf meine vorherigen Worte ein und fährt stattdessen mit ihrer Agenda fort. »Halten Sie es für möglich, dass jemand aus der Gruppe Anabelle aus irgendeinem Grund Abneigung entgegenbrachte?« Ich runzle die Stirn. »Das kann ich mir echt nicht vorstellen. Ich meine, dass wir alle mal angenervt voneinander waren ist kein Geheimnis, aber ich bin mir sicher, dass in keinem Fall bei jemanden genug Wut aufgestaut war, um Anabelle umbringen zu wollen. Aber... war es nicht ohnehin so, dass es als Unfall galt?«

Bisher hat die Polizistin dies immer ausdrücklich unterstrichen. Doch nun schweigt sie. Angespannt warte ich, bis sie zu sprechen beginnt. »Das habe ich bis jetzt stark angenommen... aber wie ich schon zu Anfang meines Besuches hier erwähnt habe, ist mit den Ermittlungen in Pynings ziemlich schlampig umgegangen. Ich bin dafür zuständig, im Nachgang sicherzustellen, dass alles seine Richtigkeit hat. Von daher kann es sein, dass ich noch das Ein oder Andere herausfinden könnte, was eher auf das Gegenteil deutet. Doch wissen kann ich das nicht.«

»Verstehe«, murmle ich mit einem unguten Gefühl im Bauch. Zudem merke ich auch, dass ich langsam nervöser werde, da wir uns in meiner Erzählung der Stelle nähern, die besonders kritisch ist: nämlich meinem Filmriss, welchen ich bisher erfolgreich vor der Polizei verheimlichen konnte. Ich hoffe, das bleibt so. 

Queen Of LungsWhere stories live. Discover now