F Ü N F

326 54 84
                                    

Ich öffne die Augen und sehe flimmerndes Dunkelblau. Etwas kitzelt an meinen Beinen. Ich blicke nach unten und sehe, wie dicke Seepflanzen meine Waden umspielen. Mit einem seeligen Lächeln schaue ich wieder nach oben... und erstarre.

Anabelle.

Ich blicke direkt in ihr Gesicht. Das Lächeln verlässt langsam meine Miene, denn sie lächelt nicht, nein. Sie sieht sehr wütend aus. Doch es ist nicht die Art von Wut, die man verspürt, wenn man enttäuscht wurde. Anabelle sieht aus, als würde sie mich bis auf den letzten Fingerknöchel in meinem Körper hassen. Der Blick in ihren Augen verursacht Todesangst in mir.

Sie schwebt direkt vor mir im Wasser, unsere Nasen berühren sich fast. Als ihre Lippen sich öffnen, kommt kein Ton heraus, sondern Luftblasen, eine Menge Luftblasen, die im von oben in das Gewässer fallende Licht glitzern. Dabei bleibt ihr Blick unbeirrt an mir haften.

Irgendwann kommen auch aus ihrer Nase Blasen. Dann aus ihren Ohren. Schließlich auch aus den Augen, die jetzt nur noch aus schwarzen Höhlen bestehen.

»Du weißt, wer mich getötet hat. Du weißt es ganz genau.«

Ich blinzele nur kurz, doch als ich die Augen wieder aufschlage, ist sie mit einem Mal verschwunden. Ängstlich rudere ich mit dem Armen umher und schaue mich um. Sie ist weg.

Das sanfte Streicheln der Seepflanzen unter mir wird energischer, bis es sich schließlich zu einem Peitschen entwickelt. Erschrocken sehe ich nach unten... und schreie laut auf, als ich Anabelles Rumpf zwischen dem dunklen Knäuel aus sich windendem Grün entdecke. Ihr Gesicht, welches ich stets als so durchschnittlich empfunden habe, ist nunmehr eine schreckliche Fratze mit grotesk verzerrten Zügen. Ihre dunkelroten, rissigen Lippen teilen sich und entblößen ein Gebiss voller Nadelspitzer, fauliger Zähne. Ein Fauchen dringt zu mir nach oben, welches sich schnell in ein ohrenbetäubendes Kreischen verwandelt.

Mit wild pumpendem Herzen versuche ich, an die Oberfläche zu schwimmen, doch ihre von grauer, glitschiger Haut umspannten knochigen Hände mit den schwarzen Krallen umschließen meine Knöchel wie Schraubstöcke.

»Du weißt, wer mich getötet hat!«, schreit sie jetzt wieder, wobei sich eine Zunge zwischen den spitzen Zähnen hervorwindet, wie eine Schlange. »Nein!«, schreie ich, doch der Klang geht in dem Wasser um mich herum unter, welches sich jetzt einen Weg in meine Lungen bahnt. Ich will tief Luft holen und schreien, doch es geht nicht. Plötzlich realisiere ich, dass ich dabei bin, zu ersticken. Ich werde sterben. Ich werde sterben, sterben, sterben...

Ein energisches Klopfen holt mich wieder an die Oberfläche, oder besser gesagt: zurück in die Realität. Mir ist kalt und ich schlinge zitternd die dünne, von meinem Schweiß klamme Decke um mich. Blinzelnd versuche ich, wach zu werden und dabei mein wie irre rasendes Herz auszublenden.

Es klopft erneut, diesmal noch aggressiver als zuvor. Nervös erhebe ich mich vom Bett und tapse so leise wie möglich zur Tür. Dort werfe ich einen Blick durch den Türspion... und sacke erleichtert zusammen. Dieser Typ schon wieder. Ich weiß auch nicht, wen ich vor der Schwelle erwartet habe – Anabelle?

Leicht genervt löse ich die Kette aus der Halterung und öffne die Tür. St. John sieht, wenn überhaupt möglich, noch verhärmter aus, als bei unserer letzten Begegnung. Erneut frage ich mich, ob er nicht doch ein Drogenproblem hat... aber dann verwerfe ich den Gedanken wieder. Eigentlich interessiert es mich nicht wirklich.

Er verschränkt die muskulösen Arme und sieht mich abwartend an. »Was?«, maule ich. Er räuspert sich und erwidert: »Du hast etwas, das mir gehört.« Verständnislos starre ich diesen Schrank von einem Mann an und versuche, mich nicht von seinen kalten grauen Augen irritieren zu lassen. Dann fällt es mir wieder ein.

»Dieses Paket?«

»Ja. Ich will es haben.«

»›Bitte‹ ist nicht so deins, kann das sein?«, spotte ich. Er seufzt ungeduldig. »Ich habe keine Zeit für solche Spielchen, Sage. Gib mir einfach das verdammte Paket.«

Abwehrend hebe ich eine Hand. »Ich habe zwar keine Ahnung, warum du mich die ganze Zeit Sage nennst, aber mal ehrlich: Wieso hast du es so eilig?«, will ich müde wissen. Er runzelt die Stirn und ich merke, dass er jetzt anfängt, wirklich verärgert auszusehen.

»Lass den Mist und gib mir das verschissene Paket! Meinst du nicht, du hast schon genug angestellt?«

Ich setze dazu an, ihm erneut zu widersprechen, doch dann schließe ich den Mund wieder. Ich habe keine Zeit für solche Kinkerlitzchen. Wenn ich ihm dieses bescheuerte Päckchen jetzt einfach gebe, spare ich Zeit.

Also schlüpfe ich in einen dunkelroten Cardigan und die billigen Frottee-Schlappen vom Bed and Breakfast, welche neben dem Bett standen, dann schnappe ich mir den Autoschlüssel und die Zimmerkarte. Während ich die Tür hinter mir schließe, wippt St. John ungeduldig auf den Fußballen und lässt mich keine Sekunde lang aus den Augen. Hat er etwa Angst, dass ich einfach abhaue? Was ist in diesem Paket drinnen, das so verflucht wichtig zu sein scheint?

Den Weg zum Parkplatz legen wir schweigend zurück. Wir gehen nicht neben- sondern hintereinander her. Die ganze Zeit über habe ich das Gefühl, seinen Atem in meinem Nacken zu spüren.

Unten angekommen schließe ich meinen Wagen auf und drücke ihm das vermaledeite Ding in die Hand. »So, zufrieden?«

Nachdenklich wiegt er das Paket in den Händen, dann sieht er mich an. Seine grauen Augen gleichen im fahlen Licht der Morgendämmerung eher einem nassen Stein, denn einer Gewitterwolke. Doch vielleicht wirken sie auch nur so dunkel, weil er besonders schlecht drauf ist. Wer weiß das schon.

»Ich sollte zufrieden sein... «, setzt er gedehnt an, »... bin es aber nicht.«

»Meinetwegen. Du hast das Päckchen, mein Job ist getan. Auf Nimmerwiedersehen.«

Ich schließe mein Auto ab und will mich schon zum Gehen wenden, doch da sagt er: »Warte mal.« Ungeduldig drehe ich mich um. »Mach's kurz, ich will weiterschlafen.« Seine schiefergrauen Augen bohren sich immer noch abschätzend in meine. Ich halte seinem Blick entschlossen stand. Fuck, dieser Typ ist intensiv.

»Du bist wirklich nicht Sage«, kommt es ihm irgendwann tonlos über die Lippen. ›Ach, was du nicht sagst!‹, liegt mir schon auf der Zunge, doch irgendwie wollen die Worte nicht raus. St. Johns Starren sorgen dafür, dass ich plötzlich unsichtbare Hände um meine Lungen spüre, die fest zudrücken. Ich keuche lautlos.

Meine körperliche Reaktion auf seine Energie scheint ihm entweder zu entgehen, oder er ignoriert sie absichtlich. Irritiert runzelt er die Stirn und wendet mit geweiteten Augen den Blick von mir ab. »Ich verstehe das nicht«, murmelt er mehr zu sich selbst als zu mir.

»Tja, dann sind wir gleich zwei.«

»Bist du eigentlich immer so sarkastisch?«, will er wissen, den Blick noch immer auf irgendwas hinter mir gerichtet. »Definitiv«, antworte ich. Er nickt knapp. »Du bist wirklich nicht Sage«, wiederholt er seine Worte von vorhin. Aus irgendeinem Grund scheint ihn diese Erkenntnis zu erleichtern.

Im Grunde genommen könnte es mir egal sein. Doch am Ende siegt meine Neugier und ich kann nicht anders, als nachzuhaken. »Wer ist Sage denn jetzt eigentlich? Irgendeine Schrulle, die mir ähnlich sieht und hier ihr Unwesen treibt?«

St. John seufzt schwer. Als er wieder den Blickkontakt zu mir herstellt, kann ich ein schweres Schlucken gerade noch unterdrücken. »Der zweite Teil deiner Aussage trifft zu. Was den ersten angeht, liegst du daneben.«

Verwirrt blinzele ich. »Wie genau habe ich das jetzt zu verstehen?« Er räuspert sich. »Sage treibt in Salten Flags ihr Unwesen, aber sie sieht dir nicht nur ähnlich... ihr gleicht euch bis aufs Haar.«

Queen Of LungsWhere stories live. Discover now