N E U N Z E H N

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Nach meinem kurzen Ausflug auf den Dachboden, der es allerdings in sich hatte, bin ich unbemerkt zurück in mein Zimmer gelangt – schlafen konnte ich aber nicht mehr. Als die Sonne sich also am nächsten Morgen über den Horizont schleppt, wälze ich mich noch immer in meinem Bett von einer Seite auf die andere. Irgendwann gebe ich es resigniert auf, noch einmal einschlafen zu wollen und stehe auf.

Nachdem ich mich im Bad etwas frisch gemacht habe, gehe ich in die Küche. Mit schief gelegtem Kopf lausche ich auf irgendwelche Geräusche im Haus, kann aber keine vernehmen. Vermutlich ist St. John bereits in seinem Laden.

St. John... oder sollte ich besser Miles sagen? Wie soll ich ihn nun nennen?

Während ich mir einen Kaffee mache und etwas Essbares aus dem Kühlschrank hole, das mit etwas Fantasie ein Frühstück werden könnte, kommen mir zwei Gedanken.

Der eine: Wir müssen unbedingt einkaufen. Der andere: Ich sollte bei ›St. John‹ bleiben, alles andere würde ihn misstrauisch werden lassen – mittlerweile kenne ich ihn gut genug, um das ziemlich sicher sagen zu können.

Bevor ich einen Bissen der Pampe nehme, die hoffentlich nach fruchtigem Porridge schmecken wird, exe ich meinen warmen Kaffee. Ich habe mal gehört, dass das ungesund sein soll, da dadurch die Stresslevel des Körpers rapide angehoben werden... aber was weiß ich schon. Außerdem ist es mir ohnehin scheißegal, ich habe andere Probleme.

Eines davon ist zum Beispiel der Groll eines gewissen sturen Surferladen-Besitzers, den ich mir gestern zugezogen habe. Vielleicht nicht die weiseste Entscheidung – immerhin könnte er mich hier hochkant rauswerfen, wenn er wollte – aber andererseits war es eher er, der mich beleidigt hat. Dass seine Worte mich nicht wirklich getroffen haben, weiß er vermutlich nicht.

Gut, das ist ein wenig gelogen. Auf den Moment hat es vielleicht kurz gezwickt, aber danach war es mir auch schon wieder komplett gleichgültig, was für einen pseudo-psychoanalytischen Scheiß er sich da aus dem Arsch gezogen hat. St. John hatte keine Ahnung wovon er da überhaupt redet.

Ich schaufele das Porridge in mich hinein, dann ziehe ich mich um und gehe raus. Ich habe kein direktes Ziel oder Vorhaben, doch in meinem Kopf formt sich bereits eine diffuse Idee...

...

Ich lege den Kopf in den Nacken und betrachte den wolkenlos blauen Himmel. Was für ein schöner Tag, denke ich ironisch. Ein schöner Tag, um ein bisschen in Sages Angelegenheiten zu schnüffeln vielleicht.

Salten Flags ist nicht unbedingt das, was man als eine Metropole bezeichnen würde. Das ist auch der Grund dafür, dass ich einen Wimpernschlag später bereits im Zentrum des beschaulichen Küstenstädtchens stehe. Weiß, Weiß, Weiß, wo ich nur hinsehe. Hier und da natürlich noch das unvermeidbare Dunkelblau und Koralle, welches mit dem Weiß zusammen die Farben des Ortes darstellen.

Ich kneife die Augen zusammen gegen das vom Sonnenlicht grelle Weiß der Pflastersteine und Häuserfassaden um mich herum und sehe mir die einzelnen Läden an, welche in einem Kreis um den Platz angeordnet sind, auf dem ich mich gerade befinde. In der Mitte steht ein kleiner, flacher Brunnen, der klares Wasser in einer mittelhohen Fontäne ausspuckt. Gott, wie kitschig.

Ich würde nicht unbedingt sagen, dass hier viel los ist, aber einigermaßen gut besucht ist das Zentrum dennoch. Ich weiß nicht genau, was ich erwartet habe. Dass alle mich anstarren? Das ist definitiv nicht der Fall, im Gegenteil: Mich (oder viel mehr Sage) scheint keiner eines einzigen Blickes zu würdigen. Liegt das vielleicht daran, dass es sich hier vermutlich zum Großteil um Touristen handelt?

Ich schüttle den Kopf. Ist doch egal, vom Rumstehen werde ich auch nicht schlauer. Also setze ich mich endlich in Bewegung und peile einen kleinen Souvenir-Shop an.

Als ich den Laden betrete, bimmelt eine Glocke über meinem Kopf. Obwohl draußen nicht gerade sommerliche Temperaturen herrschen, ist es im Inneren des Ladens merklich kühler. Die Klimaanlage läuft auf Hochtouren.

Allerlei unnötiger Ramsch füllt die vier Wände des kleinen Geschäfts bis in die schmalsten Ritzen aus, sodass es wirkt, als würde der Laden gleich platzen. Die obligatorischen ›I LOVE SALTEN FLAGS‹-Artikel fehlen hier natürlich auch nicht. Von Tassen bis T-Shirts ist hier wirklich alles dabei.

»Kann ich Ihnen behilflich sein?«

Ich reiße mich vom Anblick eines dunkelblau-korall-weißen Aschenbechers aus Keramik los und wende mich der Stimme zu. Im hinteren Teil des Ladens befindet sich eine kleine Theke, auf welcher eine Tonne Schals und Jutebeutel liegen. Irgendwo in dem Gewimmel befindet sich eine altersschwache Kasse.

Der kleine Mann hinter der Theke muss um die achtzig Jahre alt sein und blickt mich aus zusammengekniffenen Augen an. Er scheint Sage nicht zu kennen, stelle ich enttäuscht fest. Als ich jedoch näher komme, zuckt er merklich zusammen und richtet sich zu seiner ganzen Größe auf.

»Oh, du bist das!«, entfährt es ihm. Adrenalin rauscht durch meine Adern wie eine Droge. Ich erwarte, dass er mich wutentbrannt aus seinem Laden wirft, doch er nimmt nur in aller Seelenruhe eine Brille aus einem Salten-Flags-Etui und setzt sie sich auf die knollige Nase. Der Mann blinzelt.

»Jetzt sehe ich dich wieder richtig. Ich bin ja kurzsichtig und war mir vorhin nicht ganz sicher, ob du es bist, Sage.«

»Doch, äh, die bin ich. Guten Tag.«

Er räuspert sich. »Nun, was führt dich denn heute zu mir? Hoffentlich darf ich deine Dienste wieder in Anspruch nehmen?«

Meine was? Ich spüre, wie sich trotz der arktischen Temperaturen hier drinnen Schweiß an meinem Rücken bildet. Es ist viel schwieriger als ich dachte, etwas herauszufinden, das man eigentlich ja wissen sollte – und das möglichst unauffällig.

»Wann war gleich das letzte Mal, als wir uns gesehen haben? Kommt mir wie eine halbe Ewigkeit vor«, wage ich einen Vorstoß. Er kneift erneut die Augen zusammen. »Willst wohl mein Gedächtnis testen, junger Hüpfer?« Ein unterdrücktes Prusten entschlüpft meinen Lippen. »Klar, alter Mann«, entgegne ich nonchalant, denn ich denke, Sage hätte etwas in der Art geantwortet.

Er schüttelt den Kopf und winkt ab, wobei er etwas von »Jung und unverschämt« brummt. Ich beschließe, dass ich den alten Sack mag und trete zu ihm an den Tresen.

Er ist damit beschäftigt, etwas in einer Schublade unter der Kasse zu suchen. Gespannt warte ich.

»Ha!«, stößt er einen triumphierenden Schrei aus und hält eine zerknitterte Papiertüte in die Höhe. Schneller als ich schauen kann, drückt er mir das Ding auch schon in die Hand. »Pack es weg, pack es weg!«, zischt er jetzt. Misstrauisch tue ich, wie mir geheißen.

»Warum die Eile?«, frage ich gedehnt.

»Dumme Frage, damit meine werte Göttergattin nichts mitkriegt natürlich!«

Ich bin maßlos verwirrt. Was um alles in der Welt...?

»Also, das Gleiche wie sonst auch. Am besten die mit Kaugummi-Geschmack dazu. Das Geld stimmt, brauchst es nicht nachzählen.«

Er scheint mir meine Verwirrung von der Stirn ablesen zu können, denn jetzt verdreht der alte Mann die wässrigen Augen gen Himmel. »Wer ist denn jetzt debil von uns beiden, du oder ich? Die Schaumküsse mit Vanille und zwei mit Kaugummi-Geschmack von der Bäckerei um die Ecke!« Er schüttelt den Kopf. »Diese Mobiltelefone ätzen euch noch das Hirn weg.«

»Nur die Ruhe, ich hab schon oft genug Zeug für dich geholt um zu wissen, was du willst«, kontere ich sehr viel selbstsicherer als ich mich gerade fühle. Er brummt nur irgendwas unverständliches und scheucht mich weg.

Ich verstaue den Umschlag in meiner Jackentasche und trete zügig nach draußen. Sofort umschmeichelt mich die frühherbstliche, im Gegensatz zu der im Laden fast schon lauwarme Luft. Mit gerunzelter Stirn begebe ich mich auf die Suche nach besagter Bäckerei. Währenddessen drängt sich mir eine Frage wieder und wieder auf...

Warum um alles in der Welt hilft die kaltblütige Sage einem alten Mann, an Schaumküsse zu kommen?

...

So... Ideen? 🌝

Queen Of LungsTahanan ng mga kuwento. Tumuklas ngayon