S I E B E N

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Meine Wut ist noch immer nicht abgeklungen, als ich mit meinen wenigen Habseligkeiten bei meinem Wagen stehe. Glücklicherweise habe ich noch nicht begonnen auszupacken, sonst hätte sich dieser Auszug als sehr viel nervenaufreibender dargestellt.

Ich puste mir eine dunkle Haarsträhne aus dem Gesicht, welche sich aus meinem Dutt gestohlen hat. Scheint, als müsste ich die kommenden Nächte wieder im Hotel Auto verbringen. Und all das nur, weil Anabelle es sich nicht verkneifen konnte zu ertrinken. Sie hatte eine ganze Menge Alkohol intus, warum um alles in der Welt ging sie schwimmen?! Allerdings gebe ich zu, dass wir anderen sie genauso gut hätten aufhalten können...

Das Problem ist, dass sich noch immer ein schwarzes Loch auftut, an der Stelle, wo eigentlich die restlichen Erinnerungen an besagte Nacht liegen müssten.

Den Gesprächen nach zu urteilen, die ich zwischen meinen Eltern und der Polizei belauscht habe, hat jedes einzelne Mitglied unserer Freundesgruppe ein Alibi für die Nacht – alle scheinen sich zudem sicher zu sein, mich nach Hause gehen gesehen zu haben, als Anabelle noch am Leben war. Und dann ist da noch dieser Tankstellenbesitzer, der Stein und Bein darauf schwört, mich zur entscheidenden Zeit ebenfalls gesehen zu haben – aber warum erinnere ich mich dann nicht?! Es kann doch nicht sein, dass da rein gar nichts in meinem Kopf ist.

Es ist immer die Unwissenheit, die uns Menschen am meisten Angst einjagt. Lieber gehen wir mit schlechten Neuigkeiten um, als mit gar keinen. Noch nie konnte ich mich so gut mit diesem Fakt identifizieren, wie jetzt.

Ich habe keine Möglichkeit, diese Erinnerung ans Tageslicht zu holen, weshalb ich keinen Grund darin sehe, mich weiter mit diesem Unfall zu beschäftigen. Lieber schiebe ich alles von mir, bis ich mich psychisch stabil genug fühle, mich der Situation zu stellen – zumindest rede ich mir das ein. Ich sage mir selbst Dinge, die vernünftig klingen, damit ich nicht durchdrehe. Wie witzlos.

In meinem Kopf herrscht Chaos, sobald ich mir erlaube, länger als fünf Sekunden an Anabelle zu denken. Doch wieder und wieder tappe ich in diese Falle, die mir mein eigener Geist stellt. Ich kann es einfach nicht lassen. Es ist wie bei einer verkrusteten Wunde, an der man die ganze Zeit herumpulen muss, bis sie erneut aufreißt und blutet.

Schritte, die ich bisher lediglich an meiner äußersten Peripherie wahrgenommen habe, stoppen abrupt. Automatisch schaue ich auf... und begegne St. Johns irritiertem Stirnrunzeln. Augenrollend wende ich mich ab und öffne meinen Wagen, um endlich meine Sachen hineinzubefördern. Meine Bewegungen sind dabei etwas energischer als nötig.

Besagte Schritte von eben setzen sich wieder fort – leider jedoch in meine Richtung. Missmutig unterbreche ich meine Tätigkeit und blitze St. John über das Dach meines Autos hinweg an, was ihn jedoch kein bisschen langsamer werden lässt. Sein Gang hat etwas lässiges, doch gleichzeitig raubtierhaftes.

Auf der anderen Seite meines Wagens bleibt er stehen und bettet lässig seine verschränkten Arme auf das Dach. Eine seiner waagrechten, dunkelblonden Brauen hebt sich ironisch, als ich die Autotür zuknalle, nachdem ich alles nach drinnen befördert habe.

»Schlechter Tag?«, will er wissen.

»Warum redest du mit mir?«, stelle ich eine genervte Gegenfrage. Er zuckt die Schultern. »Hab nichts besseres zu tun.«

»Schön, dann such dir was«, kontere ich monoton. Als ich Anstalten mache, mich hinters Steuer zu setzen, wird er jedoch schlagartig ernst. »Moment, warte!« Betont desinteressiert halte ich inne und blinzele ihn abwartend an. Er fährt sich mit einer Hand über sein Kinn und sagt dann: »Ich brauche deine Hilfe.«

»Cool, aber Pech gehabt. Ich reise wieder ab«, entgegne ich ungerührt, obwohl da ein Teil in mir ist, der furchtbar neugierig auf das ist, was er von mir wollen könnte. Irgendwas ist da an ihm...

Seine grauen Augen weiten sich kaum merklich. »Das ist... ungünstig.«

»Bedank dich bei deinem Trottel von Freund«, brumme ich und deute über meine Schulter zum Bed and Breakfast. St. John runzelt die Stirn. »Simon? Was hat er gemacht?«

»Er hat zwar nichts gemacht, aber verhindert hat er ebenfalls nichts.«

»Das verstehe ich nicht, du musst das schon bisschen erklären, Sa-... Ich meinte...« Er kneift die Augen zusammen. »Wie heißt du überhaupt?«

»Fällt dir ja früh auf, dass du das nicht weißt. Und ich erkläre dir gar nichts. Lange Geschichte.«

»Zu meiner Verteidigung: Ich dachte die ganze Zeit, du wärst... sie.« Der angewiderte Ausdruck, der für den Bruchteil einer Sekunde seine Miene verdunkelt, entgeht mir nicht.

»Harriet«, sage ich schließlich tonlos.

»Hm«, macht er daraufhin. Ich schnaube. »Was ›Hm‹?« Er verzieht unschlüssig den Mund. »Keine Ahnung. Ist ungewohnt, schätze ich. Muss mich noch dran gewöhnen, diesen neuen Namen mit einem alten Gesicht zu verbinden. Harriet...« Er spricht meinen Namen aus, als würde er ihn wie eine überreife Sommerkirsche kosten. Gegen die Gänsehaut, die sich daraufhin meines ganzen Körpers bemächtigt, bin ich machtlos.

Ich räuspere mich, um das komische Gefühl zu vertreiben. »Schön, da wir das geklärt hätten – tschüss. Man sieht sich... oder auch nicht.« Mit den Worten will ich mich nun endgültig auf den Weg machen, doch St. Johns »Warte!« hält mich doch zurück. Warum scheiße ich nicht einfach drauf und fahre trotzdem los? Gute Frage.

»Was denn?«, schnauze ich dann ungeduldig. Er atmet kurz tief durch, sodass sich seine breite Brust hebt und senkt. »Bitte, hör dir erstmal an, was ich zu sagen habe. Dann kannst du immer noch auf Nimmerwiedersehen verschwinden.«

»Du hast mir was zu sagen? Seit wann denn das?«, stelle ich mich dumm. Er presst die Zähne zusammen und ich sehe, wie seine Kiefermuskeln dabei arbeiten. Dabei lässt er mich keine Sekunde aus den Augen. Sein Blick scheint zu sagen: Was stelle ich bloß mit dir an? Mir ist bewusst, dass das absolut nicht angebracht ist... trotzdem muss ich unwillkürlich die Schenkel zusammenpressen. Obwohl ich nicht besonders dick angezogen bin, ist mir auf einmal heiß. Ich zwinge mich dazu, wieder Haltung anzunehmen und merke dabei, dass meine Lippen leicht geöffnet sind und meine Wangen brennen. Ich hoffe, er schiebt das auf meine Aggressionen.

»Ich brauche deine Hilfe dabei, Sage zu finden«, sagt er endlich. Irritiert ziehe ich die Brauen zusammen. »Ich bin kein Cop. Diese Sage geht mir am Arsch vorbei, find sie doch selber.«

Er übergeht meinen Einwand einfach und erklärt: »Es ist klar, dass ihr irgendeine Art von Verbindung habt. Wo du bist, ist sie auch, und umgekehrt. Irgendwas muss dahinter stecken, da bin ich mir sicher! Ich weiß einfach, dass du sie irgendwie zurück nach Salten Flags locken kannst... ich weiß es. Diese Frau ist... etwas stimmt nicht mit ihr. Ich muss sie finden.« Gegen Ende hin wird seine Stimme rauer und leiser. Seine tiefgrauen Augen hat er von mir abgewandt und fixiert mit ihnen stattdessen den Lack meines Autos, als würde er darin die Antworten auf seine Fragen finden können.

»Warum genau willst du sie so dringend finden? Sie ist weg, lass sie doch einfach weiterziehen und mach mit deinem Leben weiter«, sage ich. St. Johns Gesicht verdüstert sich noch mehr. Ein Muskel an seinem Mund zuckt.  »Das kann ich nicht. Sie... sagen wir, sie schuldet mir noch etwas. Mehr musst du nicht wissen.«

Ich hole tief Luft. »Kaum zu glauben, dass ich das jetzt sage, aber... falls – mit der Betonung auf falls – ich dir helfe... was springt dabei für mich heraus? Und woher weiß ich, dass du kein gestörter Psychopath bist, der mich zerstückelt und dann in die Pastete von anderen Menschen mischt?«

Er sieht mich entgeistert an. »Du bist krank.« Dann schüttelt er den Kopf. »Aber um deine Frage zu beantworten: Ich bin garantiert nicht gestörter als du... auch, wenn du nicht der beste Maßstab zu sein scheinst. Und was für dich dabei herausspringt?« Ein triumphierendes Lächeln umspielt seine Lippen und er beugt sich über das Autodach in meine Richtung.

»Eine kostenlose Unterkunft.«

Queen Of LungsWhere stories live. Discover now