V I E R Z E H N

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Ich schnappe erschrocken nach Luft und stolpere zurück. Wenn mich St. Johns Arme nicht sofort gepackt hätten, wäre ich garantiert hintenüber gefallen.

»Wieso musst du mich so erschrecken?!«, rufe ich genervt. »Wieso kannst du nicht nach vorne schauen?«, kontert er gelangweilt und lässt mich wieder los. Nach meiner Schicht im Supermarkt bin ich zu ausgelaugt, um jetzt einen Streit mit ihm vom Zaun zu brechen, weshalb ich lediglich verbissen schweige.

»Und, wie war's?«, fragt er irgendwann in die Stille, während wir langsam nebeneinander laufen. Ich zucke die Schultern. »Langweilig, anstrengend.«

»Klingt ja fantastisch.«

Kurz gebe ich eine Zusammenfassung meines heutigen Tages zum Besten, lasse dabei jedoch das Wichtigste aus. Zum Schluss sage ich dann: »Berta hat mir etwas interessantes erzählt.« Ich beobachte ihn aufmerksam von der Seite. Kurz zucken seine dunkelblonden Brauen in die Höhe. »Ach?«

»Ja. Scheinbar hat Sage mal bei ihr gewohnt.« Ich bemühe mich sehr darum, meine Stimme ruhig klingen zu lassen.

»Das hätte ich dir auch sagen können«, erwidert St. John mit einem enttäuschten Zug um den Mund.

»Cool, und warum hast du es dann nicht getan?« Jetzt klinge ich nicht länger ruhig, sondern ziemlich bissig. Innerlich ermahne ich mich dazu, Haltung zu bewahren.

»Weil ich es nicht für wichtig hielt, schätze ich.« Also lag ich mit meiner einen Vermutung richtig. Doch an St. Johns verkniffener Miene kann ich ablesen, dass das nicht alles ist. Ich betrachte ihn aus verengten Augen. Das kann nicht alles sein.

»Du verschweigst mir etwas.«

Abrupt bleibt er stehen. »Bitte was?«

»Du hast mich schon richtig gehört.«

Er verzieht das Gesicht zu einer ungläubigen Fratze. »Ja, Harriet, ich besitze zwei funktionierende Ohren. Trotzdem will das nicht so wirklich Sinn ergeben.«

»Dass du mir etwas verschweigst? Oh, ich bin mir fast sicher, dass das sogar sehr gut in deinem Kopf Sinn ergibt.«

»Harriet... was für einen Vorteil hätte ich davon, dir etwas zu verschwiegen, wenn wir beide das gleiche Ziel verfolgen?« Dies ist nun schon das zweite Mal in kurzer Zeit, dass er mich mit meinem Vornamen anspricht. Er redet gerade mit mir, als hätte er eine geistig gestörte Person vor sich.

Wer weiß, vielleicht bin ich sogar ein wenig gestört? Ganz abwegig wäre es jetzt ja nicht.

»Keine Ahnung, ist nur so ein Gefühl. Langsam werde ich paranoid in diesem scheiß idyllischen Küstenloch«, brumme ich, um des lieben Friedens Willen. St. Johns Mundwinkel zucken schon wieder amüsiert, was mich etwas entspannen lässt.

Ich weiche nicht von meiner These ab, dass es Dinge über Sage gibt, die er mir nicht sagt. Doch ich habe auch nichts davon, wenn ich ihn jetzt schon in die Ecke dränge. Am Ende liefe es darauf hinaus, dass er sich mehr und mehr von mir distanziert, was ich überhaupt gar nicht gebrauchen kann, wenn ich mich weiterhin von Anabelles Unfall ablenken und mehr über Sage herausfinden will.

Denn wenn ich diese ›Ermittlungen‹, dieses Rätsel, nicht mehr habe, was bleibt mir dann noch?

...

Zu Hause angekommen setzen wir uns ohne weitere Absprache an den Tisch im Küchenbereich. Ich erwarte, dass St. John Wasser für Tee aufsetzen wird, doch er überrascht mich, indem er eine Flasche weißen Glühweins aus einem der Schränke holt.

»Ist das überhaupt die geeignete Jahreszeit?«, frage ich mit gerunzelter Stirn. Er winkt ab und bückt sich, um einen Topf aus einem der unteren Fächer zu holen. »Alles eine Frage der Perspektive.«

Es gluckert leise, als er den gesamten Inhalt der Flasche in den Topf gießt. Scheint, als stünde uns ein ernstes Gespräch bevor.

Während er am Regler für den Herd dreht, betrachte ich ihn nachdenklich. Mir fällt auf, dass St. John sogar ganz passabel aussieht mit dem leicht wirren sandfarbenen Haar, seiner Größe, den breiten Schultern und der dunklen Stimme... wäre er nur nicht so eine Nervensäge. Lässt sich wohl nichts machen.

»Hör auf, mir ein Loch in den Rücken zu starren«, murmelt er, während er sich erneut bückt um einen Deckel für den Topf zutage zu befördern. Scheiße, hat dieser Kerl Augen im Hinterkopf?!

»In deinen Träumen vielleicht«, brumme ich bloß und bin froh, dass die Wärme aus meinen Wangen verschwunden ist, als er sich mit belustigt funkelnden Augen zu mir umdreht.

Wenig später sitzen wir mit jeweils einer dampfenden Tasse vor uns. Ich erwarte, dass er jeden Moment das Wort ergreift, doch das passiert nicht. Merkwürdig, mein Gefühl trügt mich eigentlich selten bei solchen Sachen...

»Also, Harriet«, beginnt er nun doch. Ich kann mir das triumphierende Lächeln gerade noch verkneifen. Stattdessen signalisiere ich Aufmerksamkeit, indem ich mich aufrichte und ihm zuwende.

»Ich... denke, ich komme nicht drum herum, dir zu erzählen, was mit Sage und mir... was das war.«

Überrascht hebe ich die Brauen. Ich gebe zu, dass ich damit nun nicht gerechnet habe. »Ähm, in Ordnung. Wenn du dich damit wohlfühlst–«

»Tue ich nicht. Kein fucking Bisschen. Aber wir sollten alle Karten auf den Tisch legen, wenn wir auch nur den Hauch einer Chance haben wollen, diese kranke Schlampe aufzuhalten.«

Ich zucke bei seinen hasserfüllten Worten leicht zusammen. Von ihm geht in diesem Moment eine unterschwellige, pulsierende Aggression aus, die mich in Wellen erfasst. Es mag lächerlich klingen, doch ich spüre seine Wut förmlich an meinem eigenen Körper.

Ich wage es nicht, das Wort zu ergreifen, sondern warte, bis er anfängt zu sprechen. Als dies der Fall ist, klingt er schon wesentlich ruhiger.

»Es hat alles vor sechs Monaten angefangen. Nenn mich verrückt, aber ich wusste schon einige Tage vorher, dass irgendwas... Schlechtes passieren würde. Nur habe ich das natürlich nicht mit der dunkelhaarigen Schönheit von Außerhalb in Verbindung gebracht, die plötzlich eines Tages bei mir im Laden stand.«

Auch wenn er hier von einer anderen Frau spricht, werde ich unwillkürlich rot. Immerhin gleichen sich Sage und ich scheinbar aufs Haar.

St. John schüttelt den Kopf, in Erinnerungen versunken. »Die Tiere auf Gregs Farm haben an dem Tag komplett verrückt gespielt, als Sage hier aufschlug. Erst im Nachhinein hat das Sinn ergeben. Dem Instinkt von Tieren sollte man immer trauen.«

Ich bin eine pragmatische Person und habe absolut keinen Hang zu Hokuspokus jedweder Art. Doch von dieser Sache mit den tierischen Instinkten bin ich ebenfalls überzeugt. Und ich frage mich, was für eine abscheuliche Person Sage sein muss, wenn selbst die Tiere auf einer Farm wegen ihrer Ankunft durchdrehten...

»Sie wollte sich ein Brett kaufen, kannte sich aber null mit dem Surfen aus. So hat alles angefangen. Ich riet ihr davon ab, sich gleich ein Surfbrett zuzulegen, sondern meinte, dass sie lieber erst einmal Übungsstunden nehmen sollte, bevor sie das Geld in ein eigenes Brett investiert. Doch sie war sehr stur, was das betraf und wollte nicht hören. Ich würde lügen, wenn ich sage, dass ich ihre Sturheit nicht irgendwie charmant fand.«

Innerlich verdrehe ich die Augen. Männer.

»Tag für Tag habe ich sie draußen im Meer mit ihrem Brett gesehen... wirklich, der Anblick war einfach unerträglich. Sie ist immer wieder ins Wasser gefallen, ohne mehr als den Bruchteil einer Sekunde überhaupt stehen zu können – von Wellenreiten kann gar nicht die Rede sein.«

Sein scharfkantiges Gesicht bekommt bei der Erinnerung, trotz all der Wut, die er Sage noch entgegenbringt, etwas Weiches. Er lächelt sogar fast. Warum mir das einen leisen Stich in der Magengegend beschwert, will ich lieber nicht weiter ergründen.

»Was ist dann passiert?«, hake ich irgendwann mit rauer Stimme nach, als er längere Zeit schweigt. Er holt tief Luft und nimmt einen tiefen Schluck von seinem Wein, bevor er grimmig antwortet: »Ich habe ihr das Surfen beigebracht.«

Queen Of LungsKde žijí příběhy. Začni objevovat