N E U N

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»Da wären wir.«

Ich bin überrascht. Vermutlich sieht man mir das auch an, St. Johns amüsiertem Zucken um die Mundwinkel nach zu urteilen.

Vor uns steht ein wunderschönes, großes Strandhaus auf einer kleinen Anhöhe. Es ist mit weiß gestrichenem Holz verkleidet, wobei der Lack stellenweise bereits abblättert und das darunter liegende Material entblößt – allerdings tut das dem Flair des Hauses keinen Abbruch.

Es enthält zwei Stockwerke plus ein Dachgeschoss. Das Haus steht etwas ab vom Schuss, aber man kann das Surfinggeschäft von hier aus noch in der Ferne erkennen.

»Wollen wir reingehen?«, fragt er mich mit einem ironisch angehauchten Seitenblick. Ich nicke leicht lächelnd. Sieht tatsächlich so aus, als müsste ich Salten Flags doch noch nicht verlassen. Vorerst zumindest.

Wir betreten das Haus durch eine leuchtend korallfarbene Tür, bei welcher der Anstrich allerdings ebenfalls etwas verblasst ist. Jetzt wo ich darüber nachdenke... die Ziegel des Daches sind von einem tiefen Dunkelblau...

»Was soll das eigentlich mit diesen Farben?«, will ich wissen, als St. John die Tür hinter sich schließt. Er wendet sich mir zu und hebt die Brauen. »Welche Farben?« Bevor ich jedoch darauf antworten kann, scheint ihm ein Licht aufzugehen. »Ach so, du meinst die Flagge von Salten Flags? Lange Geschichte, so ganz kenne ich sie auch nicht. Das Weiß steht wohl irgendwie für den hellen Sand, das Blau fürs Meer und dieses Pink... keine Ahnung.«

»Verstehe. Schon interessant, dass so eine winzige Stadt so extrovertiert mit ihren Flaggen umgeht. Diese Farben sind ja hier wirklich überall.«

St. John zuckt die breiten Schultern. »Möglich. Ich bin es nicht anders gewohnt.«

Eine Weile widmen wir uns schweigend der Betrachtung des Eingangsbereiches, welcher das gesamte untere Stockwerk einnimmt. »Gut. Da hinten in der Ecke beim Fenster hätten wir die Küche, rechts das Wohnzimmer, hier der Eingangsbereich... und da hinten am Ende des Ganges wäre dein Zimmer, welches von den beiden Schlafzimmern noch am nächsten beim Eingang ist, wie versprochen. Du musst eigentlich nur geradeaus rennen, um von hier rauszukommen. Theoretisch könntest du sogar aus dem Fenster steigen.«

Ich schnaube. Allein die Art und Weise, wie er darüber redet, lässt mich stark vermuten, dass er nicht vorhat, mir was zu tun. Außerdem beschleicht mich das dunkle Gefühl, dass St. John heute Morgen nicht ganz unrecht gehabt haben könnte, als er so spöttisch witzelte, dass ich ihm wohl gefährlicher werden könnte, als ich ihm... zumindest glaube ich das nach dieser Begegnung mit der Frau am Strand. Ich habe sie verletzt und bedroht... eigenartigerweise verspüre ich bei der Erinnerung keine Reue. Sie hat es nicht anders gewollt.

Kurz spiele ich mit dem Gedanken, mich bei der nächsten Begegnung zwischen mir und der Frau als Harriet auszugeben und so zu tun, als hätte ich damit natürlich keinerlei Erinnerung an die Strandszene... das würde für optimale Verwirrung sorgen. Die Vorstellung finde ich irgendwie amüsant.

»Was geht gerade wieder in deinem kranken Hirn vor?«, brummt St. John mit einem ironischen Zucken im Mundwinkel. Ich lächle geheimnisvoll, sage jedoch nichts.

Er zeigt mir noch den Rest des Hauses – sein Zimmer passieren wir lediglich – dann übergibt er mir den Schlüssel und lässt mich mein eigenes Zimmer erkunden. Als ich es betrete, bin ich überrascht: Es ist um einiges größer, als ich erwartet habe und geht zwar nicht aufs Meer raus, hat aber dennoch einen schönen Blick auf ein blankes Stück Strandlandschaft, welche in einen Nadelwald führt. Außerdem ist es, wie versprochen, in der Nähe der Eingangstür.

Ich habe ein relativ breites Bett mit vielen Kissen und einer einfachen flauschigen Decke – alles in Weiß. Das Gestell ist aus einem hellen Holz, wohingegen der Boden ein dunkles Parkett besitzt. Ein kleiner Tisch mit Schreibzeug und einem wackelig aussehenden, rosa gepolsterten Holzstuhl stehen auf der anderen Seite des Zimmers. An den blassblauen Wänden hängen minimalistisch Drucke, die mich allein beim Ansehen fast einschlafen lassen – sie erfüllen ihren Zweck.

Nachdem ich meine Sachen aus dem Auto geholt und ins Zimmer verfrachtet habe, überlege ich: Soll ich auspacken? Lohnt sich das überhaupt? Wer weiß schon, wie lange ich hierbleiben werde? Kann schließlich sein, dass wieder irgendwas dazwischenkommt und ich abhauen muss. Wäre ja nicht das erste Mal. Vielleicht gefällt es mir hier nicht so gut. Möglicherweise gehe ich St. John irgendwann auf die Nerven, weil ich doch nicht genug zur Aufklärung dieses Sage-Rätsels beitragen kann. Und, wer weiß, eventuell steht nochmal die Polizei auf der Schwelle, sodass sein Arsch auf Grundeis geht und er mich dann – genau wie Simon – rauswirft. Alles nicht im Bereich des Unmöglichen.

Trotzdem fange ich an, meinen Rucksack auszupacken.

...

Am nächsten Morgen weiß ich, sobald meine Augen das Tageslicht sehen, sofort wo ich bin: nämlich in St. Johns Strandhaus. Dass mich in dieser Nacht keine Albträume heimgesucht haben, ist wohl ein gutes Zeichen. Vielleicht hat es ja irgendwie eine therapeutische Wirkung gehabt, diese Frau mit den bunten Haaren am Strand zu terrorisieren? Sollte ich mir für die Zukunft merken.

Als ich mich seitlich aus dem Bett schwinge, trete ich beinahe auf mein Smartphone, welches wohl aus dem Seitenfach meines Rucksacks gerutscht sein muss und jetzt daneben liegt. Ich betrachte es mit schief gelegtem Kopf. Dann nehme ich mir den kitschigen Stuhl vom Schreibtisch, packe ihn fest mit beiden Händen und dresche gezielt mit einem Holzbein auf das Gerät am Boden, bis es fast nur noch aus Splittern und Teilchen besteht. Achtlos schiebe ich den Stuhl zur Seite und knie mich neben den Haufen. Das Gehäuse ist aufgebrochen, sodass es mir problemlos möglich ist, die Simkarte und den Akku zu entnehmen – sicher ist sicher. Hätte ich schon viel früher machen müssen.

Es klopft an meiner Tür. »Ja«, brumme ich, während ich die Reste meines Handys notdürftig mit den Händen zusammenkehre. St. John steckt den Kopf rein und blinzelt mich, wie das Desaster vor mir, entgeistert an. »Was zur Hölle...?«

»Alles in bester Ordnung«, sage ich ruhig, als ich mich an ihm vorbeischiebe um Schaufel und Besen aus der Küche zu holen. Ich gehe davon aus, dass sie sich irgendwo unter der Spüle befinden, ist doch irgendwie immer so – und ich soll Recht behalten.

Als ich zurückkomme, steht St. John immer noch an der gleichen Stelle. Ich wedele ungeduldig mit den Händen. »Zur Seite.« Überraschenderweise gehorcht er, wenn auch etwas irritiert. Ich bin mir mehr als sicher, dass er es sich gerade in diesem Moment nochmal überlegt, ob es so eine gute Idee war, mich bei sich aufzunehmen. Doch diese Überlegung scheint schnell abgeschlossen zu sein, seinem Schulterzucken und den folgenden Worten nach zu urteilen: »Willst du Frühstück?«

...

Ich brauche einen Job – zu dem Schluss sind St. John und ich gekommen.

Nicht, damit ich für meinen Unterhalt zahle (wir hatten ja ausgemacht, dass meine Gegenleistung darin besteht, ihm mit Sage zu helfen), sondern damit ich mehr unter die Leute komme. Denn wenn ich nur allein hier rumsitze, werde ich sicher nichts rausbekommen.

Da die allermeisten Bewohner Salten Flags' mich als Sage wahrnehmen werden, bietet es sich gleich noch mehr an. So bekomme ich Einblick in ihr Leben, ohne verdächtig herumschnüffeln zu müssen. St. John hat mich allerdings gewarnt, dass es Dinge gibt, die mich auffliegen lassen könnten. Nicht, dass ich es wissen könnte, aber ihm zufolge sollen Sage und ich komplett unterschiedliche Persönlichkeiten besitzen. Bevor ich also meinen Job antreten werde, bekomme ich von ihm wohl noch mal eine kleine Einweisung in das Sage-Sein... aber damit es so weit kommen kann, muss ich erstmal einen verschissenen Job finden. Schöner Mist.

Queen Of LungsTempat cerita menjadi hidup. Temukan sekarang