Z W E I U N D Z W A N Z I G

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Am nächsten Morgen steckt mir die vergangene Nacht noch immer in den Knochen – sehr tief. Man sagt, dass bei Tageslicht alles viel besser aussehen würde, doch ich habe festgestellt, dass das reiner Bullshit ist. Nichts ist besser. Rein gar nichts.

Ich hätte nicht gedacht, dass ich das einmal denken würde, aber langsam fange ich wirklich an mich zu fragen... naja. Ob Salten Flags tatsächlich der Ort sein wird, an dem ich Erholung von meinem Trauma erfahren werde. Gut, eines kann ich zumindest schon mal sagen: die Küstenstadt fuckt mich um Längen weniger ab als Pynings. Bei dem Gedanken an meinen Heimatort läuft mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. Ich kann die Tannen dort fast riechen... und wenn ich die Augen schließe...

»Ich atme, Harriet! Das Wasser ist meine Luft, so wahr ich hier stehe!«

... wenn ich die Augen schließe, höre ich sogar Anabelles Stimme. Schlagartig hebt sich mein Magen und ich sprinte zum Badezimmer. Gerade noch rechtzeitig ergießt sich ein Schwall Erbrochenes in die Schüssel. Es kommt nicht viel raus, doch der Würgereiz bleibt. Nachdem ich zum zigsten Mal lediglich Luft hervorgewürgt habe, wische ich mir resigniert den Mund ab und betätige die Spülung. Erschöpft lasse ich mich gegen die kalten Kacheln an der Wand sinken.

Es klopft an der Tür. »Hey, alles okay da drinnen?«

Ich blinzele eine Träne der Anstrengung fort und schniefe, bevor ich antworte: »Ja, mein Magen hat nur etwas rebelliert. Kein Stress.«

Schweigen. Dann: »Bist du dir sicher?« Ich verdrehe die Augen. »Ja. Und jetzt lass mich in Ruhe.« Kurz später höre ich sich entfernende Schritte und etwas, das verdächtig nach »Blöde Giftspritze« klingt. Mir soll's nur recht sein, immerhin bin ich nicht in diese Stadt gekommen um neue Freunde zu finden. Von denen habe ich wahrlich genug...

Freunde, die sich seit Wochen nicht mehr bei mir gemeldet haben. Gut, ich muss allerdings zugeben, dass ich das genau so wenig getan habe. Ich gehe davon aus, dass sie ebenfalls nicht an diese Nacht erinnert werden wollen und bezweifle, dass sie untereinander Kontakt pflegen. Bei Troy und Vera könnte ich es mir vielleicht vorstellen. Kaden ist ein viel zu großes Arschloch, um sich um irgendjemanden zu scheren, der nicht er selbst ist. Mallory ist zwar keine Bitch, interessiert sich aber ebenso wenig für die Belange anderer. Generell interessiert sie sich für nichts – zumindest hatte ich immer das Gefühl, es wäre so. Was weiß ich. Vermutlich ähnele ich Mallory noch am ehesten aus dem verrückten Haufen. Abgesehen von den Menthol-Zigaretten, die sich sich immer wieder reinzieht, als wäre es Crack. Und ich würde behaupten, dass ich mit etwas mehr... Biss gesegnet bin.

Ächzend rappele ich mich auf und wasche kurz Gesicht und Hände. Anschließend gehe ich zurück in mein Zimmer, setze mich auf die Bettkante und überlege, was ich mit dem Morgen anfangen soll...

Da kommt mir eine Idee. Ein triumphierendes Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus.

Zeit für mich, nochmal in Sages Haut zu schlüpfen.

...

Den wenigen Fotos nach zu urteilen, die ich von meiner Doppelgängerin bisher gesehen habe, unterscheidet ihr Kleidungsstil sich nicht drastisch von meinem. Möglich, dass er etwas feiner ist. Andererseits hat sich bisher niemand beschwert der dachte, ich wäre sie. Trotzdem ist mir gerade danach, mich ein wenig aufzubrezeln.

Also schlüpfe ich in ein schlichtes dunkelblaues Neckholderkleid, welches mir bis zu den Waden reicht, kombiniere ein paar geflochtene Strandschlappen dazu und werfe einen weißen Kaftan über. Zur Abrundung lege ich mir noch ein paar einfacher Goldcreolen an.

St. Johns Augenbrauen wandern in die Höhe, als ich ihn auf dem Weg nach draußen passiere. Er sitzt im Küchenbereich am Tisch und nippt an seinem Morgenkaffee. Ich nicke ihm zu, er nickt zurück. Seinen Blick spüre ich noch im Rücken, als ich die Tür bereits hinter mir geschlossen habe.

Der heutige Tag ist relativ mild. Ich würde nicht behaupten, dass der Sommer schon da ist, aber es ist überraschend warm, sodass es mich kaum friert. Als eine kräftige Windböe vom Meer mich erfasst, fröstele ich dennoch kurz und ziehe den Kaftan enger um mich.

Ich habe beschlossen, Berta einen kleinen Besuch abzustatten. Als wir letztens einmal zusammen hinter der Kasse standen – sie hat Belege sortiert, ich gelegentlich einen Kunden abkassiert – hat sie mir erzählt, dass sie sich in der Früh vor der Öffnung des Supermarktes gerne in ihren Garten raussetzt und Kreuzworträtsel macht oder dort Gartenarbeit verrichetet, seit ich (also Sage) nicht mehr da bin. Zuerst war ich verwirrt, doch dann kam ich darauf, dass die beiden vermutlich immer zusammen im Garten gesessen sind.

Ich gehe den flachen Sandhügel, auf dem sich St. Johns Haus befindet, nach unten und stolpere dabei fast – ich bin es eben gewohnt, festes Schuhwerk zu tragen, wenn ich da runter gehe. Mit einem genervten Schnauben schlüpfe ich aus den Schlappen und nehme sie in die eine Hand, mit der anderen hebe ich den Saum meines Kleides an.

Es ist nicht allzu lange her, dass ich bei einem meiner Rundgänge durch die Stadt einmal an Bertas Haus vorbeigelaufen bin. Eigentlich habe ich das Haus nicht mal gesucht, sondern bin mehr durch Zufall darüber gestolpert. Ich habe aus Reflex auf das Namensschild am externen Briefkasten geguckt und bin wie angewurzelt stehengeblieben, als ich ihren Nachnamen dort stehen sah. Dann habe ich nachdenklich zum Haus geblickt.

Ich habe mir vorgestellt, wie die rundliche Frau und Sage draußen im mit üppigen Blumen gespickten Garten sitzen, dabei einen Mojito trinken und den Sonnenschein genießen. Ich habe mir vorgestellt, wie sie über etwas lachen, ausgelassen und vertraut...

Ich habe mir vorgestellt, wie hasserfüllte Städter gegen den weißen Gartenzaun spucken und Sage mit gefährlich ruhiger Stimme eine Hure nennen.

Ich schüttle den Kopf. Ich kenne die Natur deren Beziehung nicht. Ist Berta wie eine Mutter für Sage? Ist sie die Tante, die sie nie hatte? Ich weiß es nicht. Doch so ungeduldig ich bin dies herauszufinden, muss ich mir bewusst machen, dass es seine Zeit dauern wird, bis ich im Bilde bin. Es gibt Momente im Leben, da funktioniert die ›Mit dem Kopf durch die Wand‹-Taktik – dies ist keiner davon. Deswegen besuche ich Berta auch und fange sie nicht während meiner Pause im Lager ab, Drohung inklusive.

Ich betrete die Häusersiedlung, in welcher sie lebt. Als ich ein Willkommensschild in typischer, verwittert maritimer Optik an einer der Türen erblicke, muss ich an den Geschenkladen in der Innenstadt denken, aus dem dieses stammt...

Und dann fällt mir ein, dass ich kein Gastgeschenk für Berta besorgt habe. Doch kurz später rolle ich die Augen über meine eigene Dummheit.

Harriet, die beiden sind gut befreundet, da bringt man sich nicht bei jedem scheiß Besuch ein fucking Gastgeschenk.

Beruhigt laufe ich weiter. Die Straße wirkt frisch asphaltiert. Generell macht diese Gegend den Eindruck auf mich, als würden hier eher betuchte Menschen leben. Berta fällt da merkwürdigerweise etwas aus dem Rahmen. Aber hey, sie hat einen Supermarkt – wer weiß schon, was man da verdient.

Am Ende der Straße kommt ihr Haus in Sicht. Die Massen an Blumen in ihrem Garten leuchten einem schon von Weitem entgegen. Ich beschleunige meinen Schritt.

Das Gartentor steht weit offen, weshalb ich nicht zur Tür gehe, sondern das Haus gleich umrunde, da ich vermute, dass sie dort Gartenarbeit verrichtet oder eins ihrer Kreuzworträtsel macht...

Doch der Anblick, der sich mir bietet, als ich um die Ecke gehe, ist nicht der, den ich erwartet habe. Berta ist zwar da, doch sie liegt auf dem Gras. Mit dem Gesicht nach unten. Ich runzle die Stirn und trete vorsichtig näher.

Das ergibt keinen Sinn, denke ich, während ich auf sie zugehe. In zwei Stunden öffnet der Supermarkt, eigentlich müsste sie sich als Chefin langsam auf den Weg machen...

»Berta?« Meine Stimme klingt in meinen eigenen Ohren seltsam verzerrt. Mein Herz pumpt so stark, dass mein Blickfeld verwackelt. Zögerlich knie ich mich zu ihr herunter und rüttle an ihrer Schulter. Keine Reaktion.

Ich lege schnell meine Finger an ihren Hals, um einen Puls zu suchen. Es fühlt sich... merkwürdig an. Warm und nass. Ich ziehe die Finger zurück und sehe, dass rote Flüssigkeit an ihm klebt. Hastig packe ich sie und drehe ihren Körper herum.

Ich schnappe nach Luft und starre sie an. Dann übergebe ich mich neben meiner Chefin ins saftige, grüne Gras.

Queen Of LungsWhere stories live. Discover now