Z W Ö L F

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»Ich bin nicht kriminell!«, bringe ich beherrscht hervor und frage mich aber im selben Moment, ob das denn stimmt... und ob ich es so wichtig finde. Gut, etwas ist da jedenfalls, das ich an der ganzen Sache wichtig finde – und das scheint St. Johns Meinung über mich zu sein.

Er ist mir noch immer gefährlich nahe, doch ich bringe aus irgendeinem Grund nicht die Kraft auf, mich von ihm zu entfernen. Ich rede mir gern ein, dass ich die Toughe markieren will, doch wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, schlottern mir die Knie. Dieser Mann kann ganz schön furchteinflößend wirken, wenn er es drauf anlegt. Was rede ich da? Selbst, wenn er nicht darauf aus ist.

In seinen grauen Augen scheint ein Gewitter zu wüten – eines der Sorte, die aus dem Nichts kommen und einen völlig kalt erwischen.

St. John schenkt mir einen letzten abfälligen Blick, dann stößt er sich von der Wand hinter mir ab und geht. Ich bleibe zurück mit einem merkwürdigen Knoten im Bauch.

...

In der darauffolgenden Nacht träume ich schlecht. Sehr schlecht, sogar.

Diesmal hat der Traum keinen nachvollziehbaren Handlungsstrang, sondern besteht im Grunde genommen nur aus verschiedenen Momentaufnahmen von Anabelle, die ich noch in meinem Gedächtnis habe... allerdings Horror-artig verzerrt. Eine unzusammenhängende, düstere Sequenz nach der anderen jagt durch meinen Geist, bis ich mit einem erschrockenen Schrei erwache. Prompt presse ich mir die Hand auf den Mund. Mist, das war laut.

Ich hoffe inständig, dass St. John mich nicht gehört hat – für die nächste Zeit habe ich definitiv genug Aufmerksamkeit von ihm bekommen – doch leider vernehme ich bereits Schritte auf dem Flur vor meinem Zimmer.

Als sich die Tür langsam öffnet, brumme ich genervt: »Es ist alles gut, nur schlecht geträumt.« Natürlich lässt er sich davon nicht weiter beeindrucken, betritt den dämmrigen Raum und schaltet die kleine Lampe auf meinem Schreibtisch an. Anschließend lässt er sich rittlings auf den Stuhl davor sinken und betrachtet mich abwartend. Unwillkürlich komme ich mir entblößt vor – und das liegt nicht nur daran, dass ich kaum etwas trage. Viel mehr ist es die Tatsache, dass er nun einen Einblick in die Harriet kriegt, die sich von ihren Albträumen überwältigen lässt. Die, die verletzlich ist. Und das gefällt mir ganz und gar nicht.

»Lass mich in Ruhe«, brumme ich jetzt. Wieder keine Reaktion. Da das kleine Licht ihn von hinten bestrahlt, ist es schwerer, seinen Gesichtsausdruck zu erkennen.

Er räuspert sich. »Brauchst du Wasser?«

Ich blinzele verwirrt. »Was?«

»Ob du Wasser brauchst?«

»Äh, zum Trinken?«

Er schnalzt genervt mit der Zunge. »Nein, zum Drübergehen – natürlich zum Trinken!«

»Ich... keinen Durst.«

»Fein. Dann geh ich wieder.«

»Mach das.«

Bevor er die Tür hinter sich schließt, sage ich noch leise: »Danke.« Ich bin mir fast sicher, dass er es nicht einmal gehört hat. Doch an der Art, wie er kurz innehält, bevor er endgültig verschwindet, erkenne ich, dass es vielleicht doch so sein könnte.

...

Am nächsten Morgen erwache ich viel zu früh dafür, dass ich in der Nacht eigentlich kaum Schlaf bekommen habe. Im Badezimmerspiegel sehe ich, dass ich auch dementsprechend ausschaue. Man könnte mich glatt selbst für irgendwas halten, das einem Albtraum entsprungen ist. Ich überlege, meine violetten Augenringe mit Concealer abzudecken, doch dann fällt mir ein, dass ich kein Make-up mitgenommen habe.

Normalerweise schminke ich mich nicht, da ich keinen Reiz dahinter erkenne. Es ist wirklich nicht so, dass ich etwas dagegen habe, sondern mehr, dass es mich kaltlässt, ob ich nun geschminkt bin, oder nicht. Und am Ende des Tages ist mir die Zeit, welche ich für ein Make-up investieren würde, das mir sowieso am Arsch vorbeigeht, dann doch zu kostbar. Aber hey, vielleicht gebe ich dem Konzept noch eine Chance, passend zu meinem Neuanfang hier.

Als ich mit brummendem Schädel die Küche betrete, schreckt St. John vom Frühstückstisch hoch, sobald er mich sieht. Im bleibt fast der Toast im Hals stecken, was ich unter anderen Umständen vielleicht sogar witzig gefunden hätte.

»Lieber Himmel«, murmelt er in seinen schwarzen Kaffee, bevor einen kräftigen Schluck nimmt. Ich zeige ihm den Mittelfinger und brumme »Du mich auch«, als ich mich neben ihn fallen lasse. Bevor er es verhindern kann, klaue ich mir eine mit Frischkäse und Himbeermarmelade bestrichene Scheibe und beiße rein – einfach nur, um ihn zu ärgern... und weil ich mir beim besten Willen nicht vorstellen kann, dass das schmeckt. Doch ich soll mich irren.

»Oh, wow, das ist gut!«, entfährt es mir, bevor ich einen weiteren Bissen nehme. St. John schnaubt. »Natürlich ist es das. Und wehe du stiehlst mir nochmal was von meinem Frühstück!«

»Ist notiert. Ich bin dir auf jeden Fall was für diese Entdeckung schuldig.«

»Ist ebenfalls notiert.«

Für den Bruchteil einer Sekunde kreuzen sich unsere Blicke und es ist fast so, als wäre da eine Verbindung. Doch dann kehrt der übliche abweisende Ausdruck in sein Gesicht (und vermutlich auch meines) zurück, sodass es mir vorkommt, als hätte es diesen Moment nie gegeben.

...

Später sitze ich am Strand auf einer Decke und betrachte mal wieder den Wellengang. Wirklich eine Schande, dass hier zurzeit kaum jemand ist. Nicht für mich, natürlich, sondern für die Leute, die sich das hier entgehen lassen. Genau dann, wenn das Wetter nur mittelmäßig ist und die Temperaturen eigentlich nicht wirklich für einen Strandtag passen, zeigt die See ihr wahres Gesicht.

Aus irgendeinem Grund vergleiche ich das Meer in meinem Kopf mit einer saisonal beschäftigten Schaustellerin auf einer Promenade, die sich für eine bestimmte Zeit jeden Tag für ihre Besucher zurechtmacht und nur von der besten Seite zeigt. Doch sobald der Ansturm versiegt, wird ihr Haar schlaff, sind die Schweißflecken auf dem Stoff erkennbar und die Schminke zerflossen. Sie zieht sich zurück, zündet sich eine Zigarette an... und atmet tief durch.

Genau so sehe ich die See in diesem Moment. Als würde sie vor meinen Augen alle Hüllen fallen lassen und mir zeigen, wer sie wirklich ist...

Aber vielleicht habe ich in den letzten Tagen auch nur genug kranke Scheiße durchgemacht, dass sich mein Hirn zu solch merkwürdigen Analogien hinreißen lässt. Ich weiß es nicht.

Ich ertappe mich bei dem Wunsch nach einer heißen Tasse Kaffee. Blöd, dass hier weit und breit kein Kiosk oder etwas in der Art ist. In diesem Moment geht ein Mann mittleren Alters an mir vorbei. Er ist gerade dabei, sich eine Zigarette anzustecken. Ich bin kurz davor, aufzustehen und eine bei ihm zu schnorren, aber dann bleibe ich doch sitzen. Mit einer fängt es an und ehe ich es weiß, stehe ich bei Berta und kaufe mir selbst eine Schachtel. Nein, danke – Rauchen ist ein zu teurer Spaß für meinen Geschmack. Außerdem stinkt es, man bekommt gelbe Zähne und bringt sich mit jedem Zug dem Tod näher.

Ich lache tonlos auf. Schon makaber, wenn ich daran denke, dass Anabelle eine Kettenraucherin hätte sein können und es keinen Unterschied gemacht hätte. Tot ist sie trotzdem. Mit oder ohne Zigarette.

...

Als ich später am Tag wieder mein vorläufiges Zuhause betrete, erwartet mich ein stirnrunzelnder St.John. Er steht mit in die Seiten gestemmten Armen im Küchenbereich und schaut auf einen Briefumschlag herunter. Als er meine Schritte hört, zuckt sein Blick hoch. Während ich mir die Schuhe abstreife, kommt er auf mich zu, den Brief zwischen Zeige- und Mittelfinger. Mit einem angewiderten Ausdruck kommt er schließlich vor mir zum Stehen und hält mir das Teil hin.

»Drei Mal darfst du raten, was die gute Berta heute für mich hinterlegt hat.« Mit zusammengekniffenen Augen versuche ich die Schrift auf dem Umschlag zu entziffern...

Sage. In geschwungener Handschrift. Mit schwarzer Tinte geschrieben.

Queen Of LungsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt