S E C H S

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Verwirrt blinzele ich. »Das bedeutet dann, dass sie... meine Doppelgängerin ist?« Er nickt grimmig. »Sofern du dir nicht irgendeinen kranken Scherz mit mir erlaubst – ja.« Ich rolle mit den Augen und brumme: »Das ist kein Witz, glaub mir.«

Für einige Augenblicke stehen wir etwas unschlüssig voreinander. Schließlich klatsche ich einmal entschlossen in die Hände und sage: »Gut, ich würde sagen, dass ich dann mal wieder zurückgehe. Viel Spaß mit deinem...«, ironisch wedele ich mit der Hand in Richtung des Pakets, »... was auch immer.«

»Moment, das war's?«

Verdattert halte ich inne. »Äh, ja? Was hätten wir einander denn noch zu sagen?« Er runzelt die Stirn. »Nichts. Ich dachte einfach, dass.. naja. Dass du auch wissen willst, was es mit Sage auf sich hat und warum ihr euch optisch so gleicht.«

Prüfend kneife ich die Augen zusammen. »Für mich klingt das eher, als würdest du das wissen wollen.« Mir ist klar, dass sie vermutlich sogar was miteinander hatten, aber ich will es aus seinem Mund hören. Die Art und Weise, wie er ihren Namen ausspricht... gleichermaßen verärgert, wie sehnsuchtsvoll... es ist schwer zu beschreiben. Da brodelt so einiges unter der Oberfläche.

Wie ich jedoch fast vermutet habe, verschließt sich seine Miene augenblicklich und er murrt lediglich: »Ich habe meine Gründe.« Spöttisch schnaube ich. Was für eine schwache Erklärung.

Ich zucke betont ungerührt die Schultern. »Wie auch immer, mich interessiert es jedenfalls nicht.« Ohne mich zu verabschieden, mache ich auf dem Absatz kehrt und gehe zurück zum Bed and Breakfast. Wie nicht anders zu erwarten war, hält St. John mich nicht auf. Nichtsdestotrotz spüre ich seine Augen wie Laserstrahlen in meinem Rücken, bis ich endlich aus seinem Blickfeld verschwinde.

...

Zurück in meinem Zimmer kann ich nicht wieder einschlafen, obwohl ich noch immer müde bin. Zu schnell rasen die Gedanken in meinem Kopf, werden im Kreis gewirbelt wie Altpapier in einem Tornado. Außerdem ist da noch ein Teil in mir, der einfach Angst hat, wieder einzuschlafen... Angst davor, erneut in so einen grauenvollen Albtraum gesogen zu werden.

Auch wenn ich vor St. John cool getan habe, beschäftigt mich diese Sage-Sache doch.

Schon witzig: Ich fahre weg, um vor meiner Vergangenheit zu fliehen, doch in Salten Flags erwartet mich bereits der nächste Mist. Dabei habe ich doch angefangen, diesen Fleck wirklich zu mögen. Bei dem Gedanken daran, dass ich bald aufbrechen und mir einen neuen Zufluchtsort suchen muss, verspüre ich einen resignierten Stich in meinem Bauch. Zumindest wäre es vernünftig zu gehen. Doch irgendwas hält mich zurück, sofort aufzustehen und meine Sachen zu packen. Ist es Neugier oder Bequemlichkeit? Vielleicht sogar Trotz? Oder ein wenig von Allem? Ich weiß es nicht.

Ich wälze mich von einer Seite auf die andere, bis es schließlich Mittag ist und ich mich unter höchster Anstrengung aus dem Bett zwinge. Pochende Kopfschmerzen vermiesen mir die Laune zusätzlich und ich bin versucht, mich einfach wieder hinzulegen. Ich bin jedoch diszipliniert genug, um es nicht zu tun.

Hastig binde ich mir mein langes, Mahagoni-farbenes Haar zu einem Knoten im Nacken, nachdem ich in einen alten dunkelblauen Hoodie und schwarze Leggings geschlüpft bin. Zu guter Letzt ziehe ich mir noch ein Paar kurze Socken über und binde mir dann meine Sneakers zu. Als ich das tue, registriere ich, wie meine Hände zittern – eine unerfreuliche Nachwirkung meines Albtraumes.

Ich schlucke die Übelkeit hinunter, die in mir aufsteigt, als ich an das Gefühl von Anabelles glitschigen grauen Händen an meinem Bein denken muss. Entschlossen greife ich mir meinen Geldbeutel und meine Zimmerkarte, dann verlasse ich zügig mein Zimmer. Wohin ich gehen will, weiß ich nicht. Vermutlich wäre das eine gute Gelegenheit, nach einen Job zu suchen. Diese Frau im Supermarkt gestern schien mich – also Sage – gemocht zu haben. Bei ihr rechne ich mir gute Chancen aus.

Doch als ich die Rezeption passieren will, hält mich Simons Stimme auf. »Harriet?« Überrascht halte ich inne und wende mich ihm zu. Er wirkt... zerknirscht. Und peinlich berührt. Merkwürdig.

Misstrauisch komme ich näher, bis ich am Tresen Halt mache und ihn abwartend ansehe. »Was ist los?«, frage ich. In der Deckenbeleuchtung sehe ich die Schweißperlen an seiner Schläfe schimmern. Er räuspert sich. »Also... es gab da einen Vorfall.«

Ich warte darauf, dass er fortfährt, doch als das nach mehreren Sekunden immer noch nicht passiert, werde ich langsam ungeduldig. »Ja?«, dränge ich ihn. Er räuspert sich erneut, diesmal länger. »Also... i-ich habe soeben einen Anruf des Pynings Police Department erhalten und... naja. Sie wollen dringend mit dir reden. Sehr dringend.«

Verwirrt blinzele ich ihn an. Warum sollte das Department an der Rezeption anrufen und nicht auf meinen Handy? Noch bevor ich den Gedanken beende, fällt mir ein, dass ich mein Handy abgeschaltet habe. Aber trotzdem... wie können die wissen, dass ich hier einquartiert bin? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn!

»Äh, okay. Und was hast du ihnen gesagt?«, frage ich ihn so ruhig wie möglich. »N-nichts, nur, dass ich es weiterleiten werde. Ah, und sie haben mir eine Kontaktinformation für dich durchgegeben.« Er schluckt, als er mir einen gelben Zettel hinhält, auf welchem ein Name, sowie eine Nummer in krakeliger Handschrift notiert sind. Angela Los Carlos. Das muss die Polizistin sein, die bei meinen Eltern aufgekreuzt ist. Die, mit der ich nicht reden wollte. Stures Miststück.

Mit grimmig zusammengepressten Lippen stopfe ich den Zettel in die Tasche meines Hoodies. Als ich mich mit einem missmutig gebrummten »Danke« verabschieden will, werde ich erneut aufgehalten. »Moment, das war noch nicht alles.« Dem Ausdruck in seinem Gesicht nach zu urteilen, kommt der wirklich unangenehme Teil aber noch.

Großartig.

»Ja, was ist denn noch?«, frage ich, wobei ich die Genervtheit nicht ganz aus meiner Stimme verbannen kann. Als Simon weiterspricht, vermeidet er tunlichst meinen Blick. »Ich muss dich leider bitten, wieder auszuchecken. Die Anweisung kam von oben, das habe ich nicht beschlossen! Anscheinend will man schlechte Publicity vermeiden und keine Gäste im Haus haben, die mit der Polizei–«

»Moment, Moment«, unterbreche ich ihn wütend. »Schlechte Publicity? Das ist hoffentlich ein Scherz. Erstens, habe ich mir nichts zuschulden kommen lassen. Normalerweise müsste ich dir das nicht erzählen, aber eine gute Freundin von mir ist vor Kurzem einen Unfalltod gestorben und in dem Fall wird noch ermittelt. Sie brauchen mich zur Klärung einiger Details, das ist alles. Und Zweitens... schlechte Publicity? Hast du dir diesen Drecksschuppen überhaupt mal angesehen? Dieses Hotel ist an und für sich schon schlechte Publicity, dafür braucht ihr mich nicht einmal!«

Da in dieser Saison nicht viel los ist, sind da kaum Gäste im Foyer. Die wenigen, die doch hier sind, lauschen allerdings mit gespitzten Ohren. Ich bin jedoch so gereizt, dass es mir komplett egal ist.

Simon schluckt härter, ihm scheint diese Konversation zunehmend unangenehm zu werden. Seine Augen huschen immer wieder von links nach rechts, als würde er nach einem Ausweg aus der Situation suchen.  Ohne mich anzusehen, flüstert er: »Bitte... mach es nicht unangenehmer, als es schon ist. Ich will nicht den Sicherheitsdienst rufen müssen.«

Spöttisch lache ich auf. »Sicherheitsdienst? Du willst mich doch verscheißern. Als ob es den hier gibt.«

»Harriet...«

»Nein, schon in Ordnung«, gebe ich zurück, die Hände beschwichtigend gehoben. Ich zwinge mich wieder dazu, ruhig zu bleiben, doch am liebsten würde ich Simon gerade einfach nur ins Gesicht spucken. Kurz wäge ich meine Optionen ab und frage mich, ob es sich lohnen würde, ihn um den Finger zu wickeln. Doch innerhalb weniger Sekunden komme ich zu dem Schluss, dass das nicht der Fall ist, da dieser Schwachmat vermutlich rein gar keine Macht darüber hat, ob ich hierbleiben kann, oder nicht. Am Ende müsste ich mich nur mit einem mittelmäßigen Fick für gar nichts zufriedengeben, wofür mir meine Zeit eindeutig zu schade ist.

Deshalb sage ich kalt: »Ich hole meine Sachen und verschwinde.« Er nickt hastig. »In Ordnung, die Abrechnung für das Zimmer machen wir dann–«

»Oh, wage es ja nicht, mich jetzt noch zahlen zu lassen. Regle das.« Mit diesen Worten rausche ich ab.

...

Was wird Harriet jetzt wohl tun? 👀

Queen Of LungsWhere stories live. Discover now