A C H T Z E H N

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Ich stehe vor der Tür des Dachbodens und verfluche mich dafür, in aller Eile vergessen zu haben, nach dem Schlüssel zu sehen.

Verdammter Mist!

Doch als ich probehalber den Griff herunterdrücke, geht die Tür leise knarzend auf. Ich zucke zusammen und lausche mit wild klopfendem Herzen.

Als sich nach einer Minute immer noch nichts tut, atme ich auf und betrete den Dachboden. Kaum hörbar schließe ich die Tür hinter mir und bewege mich auf leisen Sohlen vorwärts. Ich schalte die Taschenlampe ein, welche flimmernd zum Leben erwacht. Wo war nochmal die Kiste?

Langsam lasse ich den Lichtkegel von links nach rechts und wieder zurück wandern. Schließlich werde ich fündig. Und dann fällt mir siedend heiß ein, dass St. John das Teil mit einem Vorhängeschloss abgesperrt hat. Vor Wut werden meine Wangen heiß und ich balle meine Hände zu Fäusten. Ein aggressives Knurren kann ich nicht unterdrücken, wobei ich viel lieber vor Frust geschrien hätte.

»Fuck«, zische ich und gehe zu dem Kasten. Ich rechne fest damit, dass das Schloss noch immer fest davor hängt. Doch als ich es mir genauer ansehe, stelle ich fest, dass es nicht gänzlich eingerastet ist. Es wirkt nicht, als hätte er es absichtlich offen gelassen. Viel mehr, als wäre das ein Versehen gewesen. Meine Vermutung wird bestätigt, als ich das Schloss abnehme und probehalber versuche es zuzudrücken – es ist nicht möglich. St. John hat den Schlüssel umgedreht in dem Glauben, dass der Schließmechanismus bereits eingerastet ist. Falsch gedacht.

Mit einem grimmigen Lächeln hebe ich den Deckel der Kiste an. Bei der Masse an Briefen, Umschlägen und sonstigen Dingen, die sich darin befinden, bereue ich es fast, kein Handy zur Hand zu haben um Bilder machen zu können. Entweder ich beeile mich beim Durchsehen, oder ich finde irgendeinen anderen Weg... mitnehmen kann ich das Teil ganz bestimmt nicht, da St. John den Braten sofort riechen würde.

Hastig klemme ich mir die Taschenlampe zwischen die Lippen und durchkämme den Inhalt systematisch mit beiden Händen. Mir kommen eine Menge handgeschriebene Blätter unter (mit verschiedenen Handschriften), für die ich allerdings keine Zeit habe, sosehr es mich auch in den Fingern juckt, einen genaueren Blick darauf zu werfen. Der Umschlag mit den Fotos, von welchem St. John mir gerade mal einen winzigen Bruchteil gezeigt hat, bevor wir... auseinandergegangen sind, ist jetzt ganz unten in der Kiste.

Ich überspringe die Briefe also und hole stattdessen die Fotos hervor. Die ersten beiden Bilder kenne ich bereits, weshalb ich sie überspringe – auch wenn es mir schwer fällt, den Blick von meiner Doppelgängerin zu reißen.

Es folgen noch einige weitere Naturaufnahmen vom Meer, dem Strand und dem angrenzenden Wald. Sie alle haben etwas gleichzeitig idyllisches, doch auch düsteres an sich. Genau kann ich den Finger nicht drauflegen. Doch ich kann mit Bestimmtheit sagen, dass St. John (oder wer auch immer diese Bilder gemacht hat) die Fotos nicht geschossen hat, um die Schönheit der Natur zu zeigen. Ich könnte mir die Aufnahmen viel eher in einer zeitgenössischen Kunstgalerie vorstellen.

Als ich ihr erneut in die Augen blicke, bin ich nicht vorbereitet, obwohl ich natürlich damit gerechnet habe. Allerdings schätze ich, dass man sich niemals daran gewöhnen wird, einen bösen Doppelgänger zu haben.

Das Foto zeigt einen sehr viel unbeschwerteren St. John zusammen mit Sage bei einer Strandparty. Er achtet auf irgendwas hinter der Kamera – es wirkt, als würde er jemandem etwas zurufen – doch Sages Blick trifft zielsicher wie ein Pfeil die betrachtende Person. Unwillkürlich stockt mir der Atem.

Es ist erstaunlich. Und verdammt unheimlich.

Wie kann es sein, dass mir diese Frau so ähnlich sieht, aber dennoch ein gänzlich anderer Mensch zu sein scheint? Langsam blättere ich weiter.

Wenige Minuten später lege ich den Stapel mit den Fotos enttäuscht in den Umschlag zurück. Außer ein paar weiteren Pärchenbildern und düsteren Naturaufnahmen enthält der Stoß nichts. Ich arrangiere den Inhalt der Holzkiste so wie ich ihn vorgefunden habe und überlege, ob ich noch weiter auf dem Dachboden herumschnüffeln soll. Lohnt es sich? Denn das Risiko erwischt zu werden, steigt mit jeder Sekunde, die ich hier oben verbotenerweise verbringe.

Kurz bevor ich den Deckel resigniert schließen will, halte ich inne. Der rosa Zipfel eines angegilbten, linierten Papiers sticht mir ins Auge. Warum genau plötzlich alles in mir danach schreit, das Papier herauszunehmen, kann ich nicht genau sagen. Doch ich tue es.

Es raschelt leise, als ich das Papier vorsichtig glätte. Es ist ein Brief. Atemlos beginne ich zu lesen.

Miles,

Ich weiß nicht, warum ich überhaupt noch bei dir bin. Warum ich es nicht fertig bringe, dich zu verlassen, nachdem du mir so wehgetan hast. Nachdem du mir immer wieder so wehtust. Ich schätze, irgendwo tief in mir drin verbirgt sich eine masochistische Ader, die mich zu all dem hier treibt.

Noch nie in meinem Leben hat mir jemand so wehgetan wie du. Noch nie. Ich habe mich stets für eine starke Person gehalten, bis du kamst. Du, Miles, hast mir gezeigt, dass ich NICHTS bin. Ein Blick von dir, eine flüchtige Berührung, und schon hast du mich am Haken. Doch damit ist jetzt Schluss. Ich gehe. Ich verlasse Salten Flags.

Ich ertrage es nicht länger, mir von den Stadtbewohnern (und vor allem von dir) das Leben schwer machen zu lassen. All die Anschuldigungen, die mir ins Gesicht gespuckt oder hinter vorgehaltener Hand getuschelt werden, zermürben mich Tag für Tag. Ich zerbreche daran.

Salten Flags hat mich verschlungen und wieder ausgespuckt wie einen alten Kaugummi – und ihr alle seid dann über mich getrampelt wie eine Herde Elefanten.

Es tut mir leid, dass du ein solch verzerrtes Bild von mir in deinem Kopf hast. Es ist vorbei. Leb wohl.

In Liebe,

Sage

Ich zittere, als ich den Brief zurücklege. Meine Gedanken rennen im Kreis, laufen auf Hochtouren... mir schwirrt der Kopf.

Dieser hastig dahingekritzelte Brief passt so gar nicht zu dem Bild von Sage, welches ich von ihr habe. Und wer ist dieser Miles, an den er adressiert ist...?

»Gib das doch bitte St. John wenn du ihn das nächste Mal sehen solltest, sei so lieb.«

»Äh... wem?«, frage ich verwirrt. Sie lacht und winkt ab. »Miles, oder wie auch immer du ihn nennen willst. Bring es ihm einfach vorbei und richte ihm liebe Grüße aus.«

Siedend heiß fällt mir Bertas und mein erstes Gespräch wieder ein. Sie hat mir dieses Paket gegeben, welches ich für ihn mitnehmen sollte, weil sie dachte, ich wäre Sage.

Miles ist St. John.

Ich frage mich noch immer, warum Berta – die mich ja für Sage hält – so gut zu ihr zu stehen scheint. Salten Flags scheint tatsächlich gespalten zu sein, was die Meinung über meine Doppelgängerin angeht. Ich presse die Lippen zusammen.

Zeit, herauszufinden, was es mit dem Brief auf sich hat.

...

Hello, hello 🌝

Mit jedem Kapitel kommen neue Fragen auf... und keine Antworten – vorerst zumindest. 😏

Eure Gedanken, teilt sie mir mit! Bin gespannt 🌚

Grüße,
Cady

Queen Of LungsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt