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Als Emily sich wieder beruhigt hatte, drehte sie die Musik leiser und presste ihr Ohr an die Tür. Es war nichts zu hören, also öffnete sie und ging zurück in die Küche. Der Hackbraten stand fertig auf dem Tisch, dazu eine Schüssel dampfender Salzkartoffeln und daneben lag ein Zettel von Vivian. Sie war einkaufen gegangen.

Emily aß gerade, als es klingelte. Verdutzt legte sie die Gabel weg und ging zur Tür. Hat die ihren Schlüssel vergessen? Wenn mir so was passiert, gibt das immer ein Riesentheater .... Durch den Türspion sah sie nur eine Art grün-pinkfarbenes Nest: Norah.

Norah war ihre beste Freundin. Gleich an ihrem ersten Tag hatte sich Emily bei einem Streifzug durch die Stadt neugierig in einem Piercingstudio umgesehen. Dort war sie auf Norah getroffen und von ihr in ein Gespräch verwickelt worden, bei dem sie viele Gemeinsamkeiten festgestellt hatten. Neben einer Vorliebe für misstönende, laute Musik, skurrile Filme und fröhlich schwarze Kleidung, teilten sie zum Beispiel die Abneigung gegenüber konventioneller Freundlichkeit. Sie war einer der wenigen Menschen, die Emily ertragen konnte, also öffnete sie freudig grinsend die Tür.

"Haare färben!", rief Norah, deren Haarfarbe man nicht mehr eindeutig identifizieren konnte, da sie grün und pink und blau und lila und alles Mögliche dazwischen war. Sie hielt eine Baumwolltasche hoch.

"Pscht. Die Tür ist doch noch offen", sagte Emily lachend. Die Nachbarn in diesem Haus konnten echt nervig sein. Passiv aggressive Zurechtweisungen wurden immer lächelnd, aber deshalb nicht weniger spitz formuliert, überbracht.

"Und du willst das wirklich tun? Ich meine, so blonde Haare - dafür würden manche Leute alles tun", hauchte Norah und biss sich zweifelnd auf die Lippe.

"Ja, und mich kotzt es an, ständig angequatscht und angemacht zu werden, weil ich wie ein kleines Engelchen aussehe." Bei diesen Worten dachte sie wieder an Levin, der sie vorhin am Strand angesprochen hatte. Sie war sich sehr sicher.

"Na dann los", rief Norah kichernd aus und hüpfte dabei auf und ab, was bei ihrer Größe von etwa einem Meter fünfzig keinen großen Effekt hatte. Also gingen die beiden ins Badezimmer und begannen die Farbe zusammenzumischen, bei Emilys hüftlangem, dicken Haar brauchten sie vier Packungen Haarfarbe. Norah hatte zum Glück fünf dabei. Sie färbte im Gegensatz zu Emily ja nicht zum ersten Mal Haare.

Zu zweit begannen sie die schleimige Masse in Emilys Locken zu verteilen. Als sie nach über einer halben Stunde fertig waren, drehte Norah Emilys Haare zu einem Dutt auf ihren Kopf und umwickelte ihn großzügig mit Frischhaltefolie.

"Du siehst aus wie ein Alien!", lachte Norah und Emily ebenfalls. Sie freute sich schon auf das Ergebnis.

Nach einer Dreiviertelstunde wusch sie die überschüssige Farbe ab und föhnte ihre nun pechschwarzen Haare. Es sah genau so aus, wie sie es sich vorgestellt hatte. Sorgfältig schrubbten die Freundinnen die Badewanne, damit Emilys Mutter nicht wieder ausrasten würde.

"Wow. Das ist echt super! Wobei ich ja etwas Bunteres bevorzugt hätte. Aber ich glaube, wir müssen los. Chris hat mir gerade geschrieben. Er macht sich jetzt auf den Weg."

Chris war der zweite Freund, den Emily gefunden hatte. Er war neunzehn Jahre alt und studierte Philosophie. Norah und er teilten den gleichen Freundeskreis und als die beiden einmal zusammen unterwegs gewesen waren, hatten sie Chris zufällig getroffen. Er war zwar etwas schüchtern, doch als Emily sagte, sie würde gerne Gitarre spielen lernen, bot er ihr Unterricht an. Heute waren sie mit Chris in der Innenstadt verabredet.

Emily und Norah verließen das Haus. Der Tag war heiß und sonnig. Der Asphalt glühte förmlich, Kinder rannten spielend durch das Wohngebiet, Wespen nervten, ein Motor heulte auf. Sommer in der Stadt. Zu Fuß war es nicht weit, doch die Nachmittagssonne erhitzte Emilys Haare, sodass ihr die Schweißperlen bald den Rücken herunterliefen. Sich im Sommer die Haare schwarz zu färben war vielleicht nicht so klug. Doch noch ein anderes prickelndes Gefühl in ihrem Nacken ließ sie froh sein, in die Schatten der Einkaufsmeile einzutauchen. Sie hatte versucht sich nichts anmerken zu lassen, aber es war, als würde jemand sie beobachten. Verstohlen musterte sie ihre Umgebung, doch ihr fiel nichts Ungewöhnliches auf. Diese Hitze. Ich fange an zu fantasieren.

Heart of Ageia 1 - FluchtWhere stories live. Discover now