Kapitel 47

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Kurz überlegte ich, noch einmal rauszurennen und Caleb zu holen, da hörte ich bereits, wie das Auto aus der Einfahrt fuhr und im nächsten Moment auf und davon war.
Ich hätte es ohnehin nicht getan.
Langsam zog ich den Blazer von meinen Schultern und hängte ihn in den Schrank im Flur. Dabei ließ ich Aidan nicht aus den Augen - und er mich auch nicht. Jede meiner Bewegungen verfolgte er mit den Augen.
Vielleicht hätte ich jetzt Angst haben müssen, dass ich ihm irgendwie völlig ausgeliefert war, doch das hatte ich nicht. Denn ich war mir dessen bewusst, dass ich immer noch Macht über ihn haben konnte, wenn ich nur wollte. Sonst hätte er mich nicht geküsst. Sonst hätte er mich nicht angefleht, mit mir sprechen zu können.

"Du bist hier, um zu reden.", schlussfolgerte ich.
Aidan nickte und folgte mir in die Küche, wo ich mir ein Glas Wasser auffüllte. Er trug immer noch das Hemd und die schwarze Hose. Seine Krawatte und das Jackett hatte er abgelegt, die Ärmel seines weißen Hemdes hochgekrempelt.

"Was zu trinken?", fragte ich nüchtern, ohne preiszugeben, wie sehr das Herz in meiner Brust nur durch seine Anwesenheit schlug.
Aidan schüttelte nur stumm den Kopf.

Nach außen hin gelangweilt stieg ich die Treppen hoch in mein Zimmer und setzte mich aufs Bett. Er blieb davor stehen.

"Elina. Hör mir zu, okay? Fünf Minuten."
Ich zuckte mit den Schultern. "Du wirst dich sowieso nicht vertreiben lassen. Schieß los."

Eigentlich wollte ich nicht hören, was er mir zu sagen hatte. Aber irgendwie schon. Ich verstand mich selbst nicht. Seine Anwesenheit verwirrte mich, er verwirrte mich. Nach so viel Ignoranz hatte er mich geküsst. Nach dieser Distanz stand er jetzt wieder in meinem Zimmer - wie früher.
Doch ich verbot mir, an früher zu denken. Das spielte jetzt keine Rolle mehr. Es galt nur das hier und jetzt. Nicht früher. Früher war... Bullshit. Nicht mehr existent.
Er fuhr sich durch das Haar, seine Hand zitterte, als wäre er nervös. Aidan öffnete den Mund, schloss ihn dann wieder, um die richtigen Worte zu finden. Auch ich war nervös. Was wollte er mir sagen? Mir noch einmal über mein Herz laufen und es zertrampeln?
Ich holte einen Pulli und eine Jogginghose aus meinem Kleiderschrank, da dieses Kleid überall zwickte, und zog die Hose schon einmal an. Dann drehte ich mich um.

"Machst du das Kleid bitte auf?"

Kurz zögerte er, dann spürte ich eine Hand, die mir sanft das Haar aus dem Nacken strich, bevor er mein Kleid öffnete. Meine Nackenhaare stellten sich auf und eine Gänsehaut überzog meinen Körper. Mit dem Rücken zu ihm gewandt zog ich den Pulli über und strampelte das Kleid von meinem Körper, bevor ich es auf meinen Stuhl hängte. Kurz darauf saß ich wieder auf meinem Bett. Die ganze Zeit über hatte ich seinen brennenden Blick auf mir gespürt.

Er räusperte sich. "An dem Abend... An Heiligabend..."

"...als ihr bei uns eingeladen wart."

Er nickte. "Ja. Mum hatte sich vorher mit meinem Vater getroffen, sie sagte, er hätte sich verändert. Sie wollte ihm eine Chance geben, weil sie ihn noch liebte." Er schluckte schwer und ballte die Hände fest zu Fäusten. "All die Zeit hat sie ihn geliebt, kannst du dir das vorstellen? Nach all dem, was er ihr angetan hatte."

Ja. Das kann ich mir vorstellen, dachte ich, doch ich sprach es nicht aus. Nicht jetzt. Nicht in diesem Moment.

"Schon ein paar Wochen zuvor waren sie zusammen ausgegangen - und an dem Tag, dem 24. Dezember, hat er sie abgeholt und sie zu einem Date ausgeführt. Sie hat gesagt, wir würden gemeinsam zu dir gehen, sobald sie zurück wäre. Bloß, dass sie nie zurückgekommen ist."

Jetzt war er nicht mehr so stark, wie er immer tat. Er war nicht mehr so arrogant, wie er sich gab. Er war bloß ein Junge, der seine geliebte Mutter verloren hatte - und das schnitt mir tief ins Herz. Ich unterdrückte den Drang, aufzustehen und die Arme um ihn zu legen, ihn fest an mich zu drücken, wie ich es getan hatte, als er betrunken hier aufgetaucht war.

Zerschmettert Where stories live. Discover now