Kapitel 39

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Vielleicht war mein Herz aus Glas, weil es so leicht brach.
Oder aber es war aus Diamant und ließ sich nicht zerstören.
Oder... es bestand aus Schokolade, die verdammt nochmal brechen und schmelzen konnte, sich aber rein theoretisch zu etwas Neuem wieder zusammenfügen konnte.

Keine Ahnung. Das Einzige, was ich wusste, war, wie unerträglich es war, ihn ansehen zu müssen. Oder jemanden über ihn sprechen zu hören.
Man sollte meinen, ich sollte langsam damit beginnen, ihn zu vergessen. Nun... das versuchte ich. Ehrlich. Aber es funktionierte nicht. Jedenfalls nicht gut - eigentlich gar nicht gut.
Ich würde diesen Jungen - diesen zugegeben sehr attraktiven jungen Mann - am liebsten wieder hassen. Wie früher. Aber selbst der Hass war nicht mehr derselbe. Ja, ich hasste ihn. Und wie. Aber ich hasste ihn bloß, weil ich ihn noch liebte. Ich hasste ihn, weil ich ihn nicht vergessen konnte - und weil ich verdammt nochmal jede freie (und nicht freie) Sekunde an ihn dachte. Und nicht damit aufhören konnte.
Nervig, was?
Ja. Und wie. So verdammt nervig, dass es schon weh tun müsste. Was es - nebenbei bemerkt - ja auch schon tat.

Meine Zeit seit Weihnachten verbrachte ich größtenteils mit Lernen. Und Lesen. Und Hausaufgaben. Ab und zu traf ich mich nach der Schule mit Lydia oder Caleb - oder mit beiden. Ansonsten hatte ich ja einen großen Bruder, der immer noch sehr begeistert davon war, mich 24/7 zu nerven. In dieser Zeit vergaß ich ihn immer für einen kurzen Moment. Doch sobald ich wieder alleine in meinem Zimmer war und in Ruhe über Dinge nachdenken konnte, kam er mir in den Sinn. Seine dunklen Augen. Sein Blick, in dem mal Liebe gelegen hatte. Sein Blick, der jetzt eisiger als der Eisberg war, den die Titanic gerammt hatte.
Und dann glitten meine Gedanken jedes Mal weiter. Zu ihm. Zu Zoe. Zu Monica.

Ihre Beerdigung war vor einigen Tagen gewesen - und ich war auch dort gewesen. Zusammen mit Zayn und Caleb. Zoe hatte völlig fertig ausgesehen, hatte Unmengen an Tränen vergossen. Und als ich mich zu ihr vorgedrängelt hatte und sie fest in die Arme geschlossen hatte, hatte sie etwas zu mir gesagt, das ich nicht verstand. Etwas, das absolut keinen Sinn ergab.

"Wieso kommst du uns nicht besuchen? Ich vermisse dich. Und Aidan auch."

Und Aidan auch.

Bevor ich sie hatte fragen können, ob sie sich nicht irrte und mich hatte entschuldigen können, dass ich sie alleine gelassen hatte, war sie unter meinen Armen hindurch geschlüpft und auf Aidan zugelaufen. Drei Mal dürft ihr raten.
Trommelwirbel.
Ja. Er hatte mich wieder keines Blickes gewürdigt - obwohl er in meine Richtung geschaut hatte.
Die Beerdigung von Monica hatte selbst mich zerstört - und ich hatte diese Frau bei Weitem nicht so gut gekannt wie mehr als die Hälfte der Gäste dort. Oder wie alle Gäste dort.
Vielleicht sollte ich mir auch Knöpfe anstatt von Augen von der Hexe wie in "Coraline" annähen lassen. Vielleicht würde dieser ekelhafte Schmerz, der sich wie eine Krankheit überall in meinem Körper ausgebreitet hatte, dann verschwinden. Oder auch nicht. Wie auch immer.

*

Der schrille Ton des Weckers riss mich aus meinem wunderschönen Schlaf. Wütend auf die ganze Welt hätte ich am liebsten mein Handy gegen die Wand geworfen. Stattdessen begnügte ich mich damit, einfach den Wecker abzuschalten und mir die Decke übers Gesicht zu ziehen. Heute stand mal wieder eine mündliche Prüfung an. Bestehend aus einer Präsentation über ein frankophones Land, das ich mit Dan und Lina aus meinem Kurs hielt. Wir hatten einen Tag vorher - also gestern - gerade einmal alles fertig bekommen. Und Dan hatte seinen Text immer noch nicht wenigstens ein Mal durchgelesen.

Stöhnend warf ich die Decke zurück und schlüpfte aus meinem warmen Bett, in das ich sofort wieder zurückkehren wollte. Wieso musste Schule auch so früh sein? Als ob ich mich da besser konzentrieren könnte, als wenn ich ausgeschlafen wäre.
Na ja. Wie auch immer.
Es war dieselbe Routine, die ich jeden Morgen verfolgte: aufstehen, Zähne putzen, Gesicht waschen, Haare machen - und anziehen. Frühstücken tat ich erst in der Schule, da ich für sowas nun wirklich keine Zeit hatte und sonst noch früher aufstehen müsste.
Spannend, oder?

*2 neue Nachrichten aus 1 Chat*

Lydia: Guten Morgen, Sonnenschein! <3

Lydia: sorry, dass ich erst jetzt antworte, ich bin gestern eingeschlafen xD Hab mir den Vortag angehört - ich verstehe zwar kein Wort... Aber es hört sich gut an!

Am Abend hatte ich ihr den Teil der Präsentation - auf ihre Bitte hin - aufgenommen und ihr geschickt. Ich musste lächeln, als ich ihre Nachrichten sah.

Ich: Guten Morgen...? xD

Ich: Danke schön haha. Nicht schlimm, Zayn versteht noch weniger als du xD

Es machte einfach kein Mensch Französisch weiter. Außer den komischen Menschen in meinem Leistungskurs. Wie Aidan. Und Serafina.

Lydia: Ich will ihn mal Französisch reden hören 😍

Ich: Glaub mir, das willst du nicht...

Zayn sprach schlechter Französisch als ein kleines Baby, das gar nicht sprechen konnte. Dieser Typ war in Sprachen wirklich absolut untalentiert. Schlimmer als ich in Mathe. Oder Sport.

Lydia: Dann viel Glück heute bei deinem Vortag! Du rockst das!! 🔥

Ich grinste. Sie wusste wirklich, wie man anderen Mut machte.

Ich: Wie schön, dass wenigstens eine von uns zuversichtlich ist 😂👍

Lydia: Ja was denn? Ich muss doch optimistisch bleiben, wenn meine beste Freundin so eine Pessimistin ist...!

Ich: Ey! Das stimmt doch gar nicht

Lydia: Wenn du das meinst...

Ich: 😂😂 Ich muss mich jetzt jedenfalls fertig machen, sonst reißt dein Crush mir den Kopf ab...

Lydia: Hör auf, ihn so zu nennen. Okiii, bis später!! <3

Und dann ging der Spaß wieder los. Dieses Mal war es doch tatsächlich ich, die auf Zayn wartete. Da es für Februar ziemlich warm war und sein Motorrad immer noch angemeldet war - auch für den Winter - fuhren wir wieder mit dem Motorrad zur Schule.

"Viel Glück und bis später", meinte mein Bruder lächelnd, bevor unsere Wege sich trennten und ich mich mit klopfendem Herzen dem Saal näherte, in dem ich gleich einen zehn minütigen Vortrag über Madagaskars Geschichte halten musste. Auf Französisch.

Vergeblich versuchte ich mich zu beruhigen und starrte auf die Karteikarten, auf die ich meinen ganzen Text geschrieben hatte, weil ich mit Stichpunkten nicht zurecht kam und sie mich nur verwirrten.
Und natürlich schaffte ich es vorher - beim Betreten des Saals - gegen jemanden zu laufen. Dieser Jemand packte mich am Arm, bevor ich fallen konnte - und mein Herz setzte für einen Schlag aus, als ich die Person erkannte.
Aidan.

Zerschmettert Where stories live. Discover now