Kapitel 38

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Irgendwann mitten in der Biostunde war Aidan noch einmal zurückgekommen. Ich hatte meinen Rucksack auf seinen Stuhl gestellt und er hatte sich neben mich gestellt und mich grimmig angeschaut.
Als ich nur unschuldig gefragt hatte: "Ist was?", hatte er mit dem Kopf auf den Rucksack gedeutet.

"Das Ding steht auf meinem Platz.", hatte er darauf geantwortet und nur ein falsches Lachen von mir geerntet.

"Ich kann mich erinnern, dass du beleidigt aus dem Saal gestürmt bist." Ich hatte ihn nicht angesehen. Das war nicht auszuhalten gewesen. "Und demnach hast du deinen Stuhl ja auch nicht gebraucht."

Und dann hatten wir kein Wort mehr miteinander gewechselt.
Was vielleicht auch besser so war. Schließlich... hasste er mich plötzlich. Obwohl ich mir immer noch einredete, dass er nur überreagiert hatte. Dass er ja nicht wissen konnte, wie Dad gestorben war. Dass er nicht wissen konnte, dass ich ganz genau nachempfinden konnte, was er gerade durchmachte. Dass die Trauer ihn sicher von innen zerfraß. Und dann kam immer derselbe Gedanke: Wieso hatte er mir nichts gesagt? Wieso hatte er sich nicht an mich gewendet? Ich hätte für ihn da sein können. Ich wäre für ihn da gewesen. Und er stieß mich von sich - und ich verstand nicht, wieso, weshalb und warum. Was hatte ich falsch gemacht.
Nichts, dachte ich, ich habe absolut nichts falsch gemacht. Das ist nicht meine Schuld.
Ich war so wütend. Und traurig. Und einfach am Ende. Und ich wollte immer noch heulen. Oder sein schönes Gesicht mit meinen Fäusten demolieren. Oder beides gleichzeitig. Ja, beides gleichzeitig wäre gut.
Nur dass ich ihm nicht zeigen wollte, wie sehr er mich verletzt hatte.
Wie sehr ich ihn brauchte.
Wie sehr ich ihn wollte.
Wie sehr ich ihn vermisste.
Wie sehr ich ihn zurück wollte.
Wie sehr ich seine Berührungen, seine Küsse, seine Umarmungen wollte. Seine Nähe.
Und zu sehen, wie abhängig ich immer noch von ihm war, machte mich noch wütender. Ich hasste es, dass ich ihn brauchte. Ich hasste es, dass ich ihn liebte. Nachdem er mir doch deutlich gezeigt hatte, dass er es nicht tat. Dass er mich nicht liebte.
Dass er gelogen hatte, als er "Ich liebe dich" gesagt hatte. Jedes einzelne Mal. Wieso hatte er es dann gesagt, wenn es ja scheinbar nicht stimmte? Weshalb hatte er mit meinen Gefühlen gespielt? Ich wollte ihn hassen. Ich wollte es so sehr. Und ich verabscheute es, dass ich es nicht konnte. Weil ich meine Gefühle für ihn nicht einfach abschalten konnte.

Da Lydia heute nicht da war, weil sie krank war, stand ich bereits vor dem Saal, in dem Caleb Unterricht hatte, bevor es klingelte, da Miss Evans uns früher rausgelassen hatte.
Als er mich dort an der Wand lehnen sah, blickte er mich besorgt an, nahm sofort meine Hand und führte mich in eine Ecke, in der nicht so viele Schüler aus den Sälen stürmten, sodass wir nicht von den kleinen Jungen und Mädchen aus den fünften Klassen gegen die Wand gedrängt wurden.

"Was ist passiert?"

Ich schloss kurz die Augen und sah dann zu dem Blonden hoch. "Es war schrecklich..."

Und mehr brauchte ich nicht zu sagen. Er sah mich bedauernd an. Und ich sah in seinem Blick, dass er bereits verstanden hatte, dass ich mehr nicht sagen brauchte. Dann legte er die Arme um mich und drückte mich an sich. Und was soll ich sagen... Es war ein so viel besseres Gefühl als sich die ganze Zeit angespannt an den Stuhl krallen zu müssen. Das war mit Sicherheit die schlimmste Stunde Biologie, die ich je gehabt hatte. Und ab jetzt würde jede Stunde so werden. Keine schönen Aussichten.

"Es wird besser", flüsterte er. "Ich verspreche es dir. Es wird besser, Eli."

Ich sagte nichts. Was sollte ich auch sagen? Für mich schien es unvorstellbar, dass dieser Schmerz irgendwann vergehen würde. Dass er vergehen könnte. Aber natürlich würde das irgendwann der Fall sein. Es wäre sehr unrealistisch, wenn nicht. Ich würde über Aidan hinwegkommen. Irgendwann. Bald hoffentlich.
Ich hielt Caleb fest, als hätte ich Angst, dass ich auch noch ihn verlieren könnte. Dabei war das Schwachsinn. Dieser blonde Junge mit den grünen Augen hatte sich kaum merklich in mein Leben geschlichen und war jetzt mein bester Freund. Als Zayn ihn uns vorgestellt hatte, hätte ich niemals daran gedacht. Damals hatte es nur Lydia gegeben, der ich hatte alles erzählen können. Und für kurze Zeit war da auch Aidan gewesen.

"Sucht euch ein Zimmer", sagte ein Schüler, der an uns vorbeiging. "Ist ja ekelhaft..."

Sofort ging Caleb einen Schritt zurück und wir wurden beide rot bis an die Haarwurzeln. Dabei wusste ich nicht, wessen Wangen in einem dunkleren Rot glühten. Vielleicht meine. Vielleicht Calebs.

Er rieb sich den Nacken. "Lass uns in die Pause gehen", murmelte er dann und blickte auf den Boden.

Selbst seine Ohren waren rot, was mich schmunzeln ließ.
Ich nickte und wir verließen gemeinsam das Schulgebäude, nachdem wir unsere Rucksäcke in der Aula abgestellt hatten.

"Hey, Eli" Zayn war zu uns gestoßen - mit Aidan im Schlepptau.

Ich versuchte, meinen Bruder anzusehen. Nur  meinen Bruder. "Hi, was gibt's?"

"Wo ist denn Lydia?"

Ich lächelte. "Krank. Soll ich ihr irgendwas von dir ausrichten?"

Zayn kratzte sich am Kopf, während ich Caleb neben mir kichern hörte. "Sag ihr - äh - gute Besserung von mir... Und so..."

"In Ordnung", meinte ich. "Ich sage ihr gute Besserung und so."

Mein Blick glitt unbewusst zu Aidan, der mich ganz genau musterte. Seine dunklen Augen strahlten so viel Kälte aus, wie ich es noch nie bei ihm gesehen hatte. Nicht einmal in der Zeit, in der wir uns gegenseitig gehasst hatten. Und jetzt... Jetzt war diese Kälte für mich bestimmt. Aus welchem Grund auch immer. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals runter und blinzelte die Tränen weg, die mir in die Augen stiegen. Auf keinen Fall würde ich mir jetzt noch die Blöße geben, vor ihm zu weinen. Wegen ihm.

Zayn wurde rot. "Danke."

Ich versuchte mich an einem Lächeln. Es funktionierte sogar ganz gut. "Gern. Amüsiert euch gut.", erwiderte ich dann mit einem Blick auf meinen Exfreund.

Ich konnte die Kälte, die in diese Worte gekrochen war, nicht mehr zurückrufen. Zayn sah mich überrascht an. Dann blickte er zwischen Aidan und mir her - und schien zu verstehen.

"Tut mir leid... Ich hatte vergessen, dass-"

"Schon gut, Zayn. Du hast nichts damit zu tun. Das war alleine Aidans und meine Entscheidung."

Das... war nicht ganz die Wahrheit. Es war nie meine Entscheidung gewesen. Es war Aidans Entscheidung gewesen. Ganz alleine seine. Niemals meine. Ich hätte das alles, was wir hatten, nie freiwillig aufgegeben.

Sag niemals nie, dachte ich in diesem Moment und Aidans feindseliger Blick fühlte sich an wie eine Ohrfeige. Schlimmer sogar.

Zerschmettert Hikayelerin yaşadığı yer. Şimdi keşfedin